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Vorbemerkungen
„Al-Qaida – Texte des Terrors“ erschien 2005 in Frankreich („Al-Qaida dans le texte“) und liegt nun ins Deutsche übersetzt vor. Gilles Kepel und Jean-Pierre Millelli haben in Verbindung mit drei anderen Autoren dieses Buch herausgegeben. Es versammelt Texte von vier Protagonisten der „Organisation“ Al-Qaida:
- Osama Bin Laden (geb. 1957)
- Abdullah Azzam (1941 – 1989)
- Ayman al-Zawahiri (geb. 1951)
- Abu Mu’sab al-Zarqawi (geb. 1966)
Es handelt sich um Abschriften von Video-Botschaften, Verlautbarungen, Interviews, schriftlichen Erklärungen, religiösen Predigten, usw. Die Texte werden ausführlich kommentiert, was auch dringend notwendig ist, da sich der Inhalt vieler Textpassagen dem nicht in diesem Kulturkreis beheimateten Leser kaum oder gar nicht erschliessen würde; das es innerhalb der Erläuterungen gelegentlich Wiederholungen gibt, ist nicht störend, sondern durch die Fülle des Materials eher hilfreich.
Den Texten selbst, die teilweise ungekürzt abgedruckt werden, sind jeweils „Einführungen“ über die Protagonisten vorangestellt. Diese wirken oft sehr lückenhaft, was durchaus eingestanden wird, da es in arabischen Staaten beispielsweise kein oder nur ein ungenügendes Meldesystem gibt und auch durch Flüchtlingsbewegungen infolge von Kriegen oder Vertreibungen oftmals keine lückenlosen Dokumentationen existieren. Auf die Gefahr von Legendenbildung muss zusätzlich noch hingewiesen werden. Hinzu kommt, dass sehr viel biographisches Material nicht in einer westlichen Sprache übersetzt ist oder auf inzwischen deaktivierten Internetseiten kursierte.
Insofern handelt es sich bei diesen Einführungen um fragile Gebilde. Eine Schwäche ist es, dass diese Einführungsaufsätze zwar versuchen, den Weg der jeweiligen Figur hinsichtlich seiner Aktivitäten zum Islamismus bzw. Terrorismus hin zu erläutern, hierüber jedoch fast immer der Mensch vergessen wird. Über das Wesen dieser Protagonisten erfahren wir nichts. Sollte dies aufgrund der bereits angedeuteten schwierigen Quellenlage zurückzuführen sein, so ist es zwar besser zu schweigen, als irgendwelche Gerüchte zu verbreiten. Aber teilweise hätte man sich schon gerne ein bisschen mehr gewünscht, etwa was an den Gerüchten über Osama Bin Ladens Krankheit wahr ist.
Ein grosses Problem ist, dass wir den Autoren fast blind vertrauen müssen, und zwar sowohl was die Transkription als auch die Übersetzung der jeweiligen Texte angeht. Weitgehend war es notwendig, die nur im Arabischen vorgefundenen Konvolute zu übersetzen und entsprechend zu kommentieren. Für die deutsche Ausgabe kommt noch dazu, dass vom Französischen ins Deutsche übersetzt werden musste.
Das Buch wurde von mir im Vertrauen auf die Redlichkeit und Korrektheit des Tuns der Herausgeber und Verfasser gelesen und auch bewertet. Ich habe kaum Möglichkeiten, dies zu kontrollieren oder selber zu recherchieren. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich von dem grösstmöglichen Wahrheitsgehalt aus.
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Osama Bin Laden
Der Einführungstext von Omar Saghi entwickelt zunächst Bin Ladens Lebensweg. Er wurde 1957 geboren; sein Vater stammt aus dem Jemen, aus dem er immigrierte und in Saudi Arabien als Mann aus armen Verhältnissen sehr schnell zu Reichtum und Wohlstand aufstieg. Sehr schnell kontrollierte er das öffentliche Bauwesen Saudi Arabiens und wurde zum Milliardär. Die „Binladen-Group“ ist in Saudi Arabien heute ein Imperium. Sein Sohn Osama, Sohn einer Syrerin, war der 17. Sohn von 24; Mohammed Bin Laden hatte auch noch 30 Töchter.
Der kleine Osama zog mit 10 Jahren mit seiner geschiedenen Mutter (die durch Intervention ihres Ex-Mannes schnell wiederverheiratet und zeitlebens durch die Familie wirtschaftlich unterstützt wurde) von Riad nach Dschidda. 1967 starb Mohammed Bin Laden bei einem Flugzeugabsturz. Dem allgemeinen Trend im Saudi Arabien der 70er Jahre, eine Annäherung an eher westlichen Lebensstil zu kultivieren, gab Osama nicht nach; er wurde religiös, blieb aber eher Autodidakt. 1974 heiratete er eine Cousine.
Politisch aktiv wurde er zum ersten Mal 1979, als er eine Organisation, die den syrischen Präsidenten Hafis al-Assad stürzen wolle, finanziell unterstützte – mit mässigem bzw. gar keinem Erfolg. Die Wende kam für den Studenten der Wirtschaftswissenschaften mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan am 24.12.1979. Saghi widerspricht der Selbstdarstellung Bin Ladens, er sei sofort nach Afghanistan aufgebrochen und macht Anfang 1980 als das Datum des Beginns seiner Aktivitäten fest. Bin Laden pendelte zwischen der arabischen Halbinsel, Pakistan und Afghanistan. Seine Hauptaufgabe war durch sein Netzwerk guter Kontakte (über seine Familie) Geld für die Mudschaheddin zu sammeln. Saghi stellt heraus, dass Bin Laden kein militärischer Kämpfer war; er schreibt ihm nur die Teilnahme an einer Schlacht 1986 zu; seine Aufgabe bliebt beschränkt auf die Beschaffung der finanziellen Mittel und – später – Planung und Errichtung von Ausbildungslager für die arabischen Widerstandskämpfer – anfangs in enger Kooperation mit Abdullah Azzam.
Saghi beschreibt, wie die USA in die Falle hineintappten, als sie den Muschaheddin die neuen, mobilen Stinger-Raketen lieferten, mit denen nun auch der Luftraum Truppen angegriffen werden konnte. Die USA rückten 1986 von der Taktik des „Ausblutens“ des Krieges ab und unterstützten die Kämpfer (die im »Schachspiel« des Kalten Krieges plötzlich eine wichtige Position zugewiesen bekamen), um den sowjetischen Truppen noch schwere Verluste zuzufügen. Hierin sieht der Autor den entscheidenden Punkt für den „Sieg“ der Rebellen, und nicht in der von Bin Laden später beschworenen und idealisierten Kraft der Kämpfer. In der Tat wird in den später zitierten Dokumenten Bin Ladens nicht einmal die Unterstützung der USA erwähnt. Stattdessen wird der Abzug der Sowjets 1988/89 verklärt als alleiniger Sieg.
Die Trennung von Abdullah Azzam, der als geistiger Vordenker des Heiligen Krieges der Neuzeit gelten kann, geschah aufgrund wachsender interner Konkurrenz. Bin Laden, der seine Organisation als Sammelbecken militanter Muslime sah (das spätere Al-Qaida Netzwerk), trennte sich von Azzam, dem es um eine stringente Lebensführung seiner Leute ankam und der einen eher intellektuellen Standpunkt vertrat.
Über die Jahre im afghanischen Bürgerkrieg schweigt der Beitrag. 1990 stationierten die USA auf Bitten des saudischen Königshauses Truppen in Saudi Arabien, um einen eventuellen Krieg gegen Saddam Hussein vorbereiten zu können, der Kuwait überfallen hatte. Für Osama Bin Laden fand für sich quasi die gleiche Situation wie in Afghanistan vor: Ungläubige besetzten ein muslimisches Land. Azzams Lehre sah für diesen Fall als eine persönliche Pflicht jedes Muslim, den Ungläubigen in einem Heiligen Krieg zu bekämpfen. Erschwerend war noch, dass es sich um das „Land der Heiligen Stätten“ handelt. Der Schock muss gross gewesen sein. Saghi misst ihm nicht eine zentrale Bedeutung zu, was den Lebensweg Bin Ladens angeht, und doch scheint es so, als sei gerade dieser Vorgang prägend für die weitere „Karriere“ dieses Mannes. In allen Texten, die später zitiert werden, die Forderung nach dem Abzug der amerikanischen Truppen ein essentieller Bestandteil.
Kursorisch werden Bin Ladens Aktivitäten im Jemen, im Sudan und in Somalia gestreift. 1994 wurde der „Störenfried“ Bin Laden von der saudischen Regierung ernstgenommen und seine Konten, derer man habhaft werden konnte, eingefroren. Die terroristische Karriere Bin Ladens und seiner Organisation Al-Qaida begann wahrscheinlich am 7. August 1998 mit den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam, bei denen mehr als 200 Menschen starben (interessant das Datum – am 7. August 1990 begann die Stationierung der US-Truppen in Saudi Arabien; Saghi weist darauf hin, dass alle Daten von Terroraktionen nicht zufällig sind, sondern in einem gewissen Kontext zu sehen sind – leider geht er hier nicht ins Detail, was andere Anschläge angeht).
Nicht nur die Ausführung der Aktionen ist professionell geplant und ausgeführt. Auch die Art und Weise – es gibt immer mehrere Anschläge, so dass nicht der Anschein erweckt wird, dass es sich um Einzelaktionen handelt – und, vor allem, die anschliessende mediale „Verwertung“, in Form von Bekennerschreiben im Internet und Video-Botschaften im Fernsehen ist höchst ambitioniert.
Luzide analysiert Saghi die Rolle, die der Fernsehsender Al-Dschasira (und die späteren „Kopien“ des Systems Al-Dschasira) nicht nur für die Verbreitung der Botschaften Bin Ladens spielt, sondern generell für die arabische Welt bedeutet: Sender wie Al-Dschasira sind so etwas wie das Unbewusste der arabischen Welt, ohne Distanzierung und Abstand [...] [sie] können einer ausgeprägten arabischen Frustration Ausdruck geben.
Bin Laden muss sehr früh das Potential dieser Kommunikationsmedien gesehen haben und verwendet es sehr geschickt. Mit Texten in einfacher Sprache (eine religiöse Konnotation ist zwar gegeben, aber es handelt sich nicht um Predigten), kurz, klar, mehr auf Bildern aufbauend (Inszenierungen) und ohne komplexe Argumentation; ein westlicher Marketingstratege hätte es nicht besser konzipieren können.
Omar Saghis Einführungstext überzeugt mich nicht ganz (die Exegese der Texte Bin Ladens danach um so mehr). Kurz die Gründe, warum. Zum einen schreibt Saghi manchmal sehr mit dem Wissen heutiger Zeit, beispielsweise wenn er es für ausgemacht hält, das 1987 der Zusammenbruch der Sowjetunion abzusehen war. Oder wenn er fast in Gänze den USA den Ruhm des Abzuges der sowjetischen Truppen zuschreibt, zumal er selber feststellt, dass die USA bis 1986 kaum aktiv die Mudschaheddin unterstützt haben. Also wurde der guerilla-ähnliche Kampf sehr wohl von Afghanen – und eben später Arabern – „aufrecht erhalten“. Ohne diese Zermürbungstaktik hätte sich die Sowjetunion viel sicherer im Land einrichten können. Merkwürdig seine Feststellung, der Irak hätte den 1. Golfkrieg 1980–1988 gegen den Iran gewonnen.
Was fast vollständig fehlt, ist eine auch nur kursorische Beschreibung der Vorgänge nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Der blutige und schreckliche afghanische Bürgerkrieg und die Rolle, die Bin Laden hierin gespielt hat, kommt nicht vor. Stattdessen erscheint er wie ein Umherirrender, was nicht genug ausgeleuchtet wird.
Interessant ist die Zuweisung der „Tribunenfunktion“ von Al-Qaida. Saghi zitiert Georges Lavau von der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), der seinerzeit die PCF auf die Funktion des politischen Sprachrohrs einer bestimmten Klientel beschränkte, d. h. eine Machtbeteiligung ausschloss, um nicht durch die Macht gezwungen zu werden, eine politische Linie zu vertreten, die dann ggf. zu stark von Kompromissen geprägt sein könnte.
Saghi spricht von der Nische des Protestes, in der sich Al-Qaida eingerichtet habe, in der man vermeide, eine echte Veränderung der Situation herbeizuführen. Dieser Schluss ist kühn und unterschlägt, dass die Tribünenfunktion immer auch vom (politischen) Gegner abhängt. Überhaupt scheint der Vergleich zwischen einem parlamentarisch-demokratischen strategischen Vorgehen (man könnte auch die Grünen der frühen 80er Jahre oder die aktuelle Linkspartei im Bundestag nehmen) und einem „Verhältnis“ zwischen „dem Westen“ und Al-Qaida – also nicht direkt kommunizierenden Entitäten – unverhältnismässig, da wesentliche Elemente fehlen, über das diese Funktion ausgehoben werden könnte: eine gemeinsame Kommunikationsplattform und – noch wichtiger – einen (wenigstens minimalen) Konsens des jeweiligen Akzepts. Es nutzt nichts, mich auf einer TribÜne zu befinden, wenn zu dieser Zeit gar kein Fussballspiel im Stadion stattfindet.
Man könnte fast eine Gegenthese aufstellen: Die medialen Inszenierungen Bin Ladens sind verklausulierte Angebote – freilich für uns unannehmbare, sowohl was die Geschichte seit 1998 über den 11.9.2001 bis zu den Terroraktionen in London und Madrid angeht, als auch was die für uns erpresserisch klingenden Forderungen Bin Ladens angehen. Wie man dies auch bewerten könnte, wird noch zu erörtern sein.
Schliesslich überzeugt mich Saghis Darstellung der Begründung des Alleinvertretungsanspruchs Bin Ladens nicht, was aber vielleicht daran liegt, dass ich ihn nur insoweit verstanden habe, dass Bin Laden diesen religiös unterfüttert, in dem zu den bestehenden fünf Säulen des Islam weitere fünf postuliert.
Sehr interessant sind die Hinweise auf die »Ökumenebestrebungen« Bin Ladens, über die in den Anwerkungen zu den Originaltexten ausführlicher eingegangen wird: Bin Laden kittet die fast schismatischen Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten, in dem er mehrfach in vielen Bemerkungen die Einheit aller Muslime beschwört. In den Einleitungsworten der Herausgeber wird darauf hingewiesen, dass dieser Punkt neuerdings von dem im Irak agierenden Terroristen al-Zarqawi (der am Ende des Buches besprochen wird) aufgegriffen und umgekehrt wird, in dem er neben den Amerikanern und Kollaborateuren Amerikas auch die Schiiten als Feinde darstellt.
Die kleinen Einwürfe am Ende sollen nicht verzerren. Es ist eine interessante Einführung, die es ermöglicht, den Tenor der anschliessenden Original-Texte auch ohne sofortige Lektüre der detailreichen Anmerkungen zu verstehen; freilich kommt man dann um ein zweites Lesen nicht herum.
Kurze Anmerkung
Hier findet man ein Deutschlandfunk-Interview mit Prof. Peter Heine, Islamwissenschaftler an der Humboldt-Universität, zu dem Buch.
Vielen dank für den Link
Hier ist das Interview auch nachzulesen.
Der Professor verwickelt sich m. E. in einen Widerspruch, in dem er einerseits feststellt, es sei alles mehr oder weniger für den Spezialisten bekannt, andererseits jedoch erkennt er dann doch Neues (und wenn es in den Einführungstexten ist).
Man könnte auch argumentieren, dass das Buch nicht primär für Spezialisten geschrieben wurde, sondern für den interessierten Laien.
Die Fragerin hat sicherlich weder das Buch noch Rezensionen hierzu gelesen, sonst könnte sie nicht behaupten, es bestünde aus 500 Seiten Al-Qaida-Texten. Der Vergleich mit »Mein Kampf« ist absurd.
Wie gesagt, Dank für den Einwurf – das ist keine Kritik wider solche EInwürfe; das ist für mich in jedem Fall interessant.
Interview
Zustimmung. Der Eiertanz des Herrn Professor stellte mir die Frage, was der Mann den ganzen Tag macht. Auch die Moderatorin konnte meine Liebäugelei mit dem Buch nicht verstärken. So gesehen: Neu, »Begleitschreiben« jetzt attraktiver als DLF.
Tribunenfunktion
Der PCF wurde eine TribUnenfunktion zugewiesen (zurückgehend auf die römischen Volkstribune). KEINE Tribünenfunktion!
Tatsächlich
Erst einmal vielen Dank für Ihren Kommentar.
Sie haben Recht. Ich habe mich verlesen, da ich in anderem Zusammenhang so etwas schon einmal gelesen hatte.
Da war der Wunsch der Vater des Gedanken. Zumal auch die Erklärung entsprechend der »TribÜnenfunktion« war: man setzt sich auf die Tribüne und wartet, dass sie anderen einen Fehler machen.
Ich ändere dies nicht im Text; es ist nicht essentiell und durch diesen Kommentar klargestellt.