TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN PETER STEPHAN JUNGK, ENDE DEZEMBER 1998
Samstag, 26. 12.1998 Unsere Abreise nach Palermo überaus anstrengend, weil wir via Rom fliegen, dort das Umsteigen. Der Verlust des Koffers, den Lillian1 dann in einem Abstellraum des Flughafens Palermo wiederfindet. Ankunft um ca. 21h im Hotel Villa Igiea – eigenartiges Hotel! Peter, Sophie, Léocadie2 erwarten uns im Restaurant.
Verbringen schwierige, aber intensive Tage in Palermo, vom 26.12. bis zum 1.1.1999.
Unser Zimmer sehr schön, mit Aussicht auf den Hafen und das Meer. Die Heizung funktionierte nicht gut, aber man gab uns einen Elektro-Ofen. Der wunderschöne Hotel-Park der Villa Igiea!
Léocadie krank, Sophie krank, als wir ankamen. Sophie die ersten zwei Tage kaum gesehen, sie liegt im Bett. Ich gebe Peter mein Buch3 zu lesen, zu diesem Zeitpunkt war der Schluss allerdings noch ein ganz anderer, als der, den ich heute vor 4 Tagen4 nach München sandte.
Professor Cometa, der Germanist, der Peter besuchen kommt, unterrichtet deutschsprachige Literatur in Palermo, ein runder, jovialer Mensch, der uns viel über die Stadt erzählt. Er hatte auch mit der Aufführung des Theaterstücks von Peter zu tun, vor kurzer Zeit, »Das Spiel vom Fragen«, das er für das Theater in Palermo übersetzt hat.
Ein erster Spaziergang, allein mit Lillian und Adah5, am 27.12., in der Nähe des Hotels. Die verkommenen Gassen, die schmutzigen Hinterhöfe, die traurigen Gebäude. Die erfolglose Suche nach dem Hafen. Hundescheiße, auf Schritt und Tritt.
Die Piazza Aquasanta, nahe dem Hotel, als einer der besten, schönsten Punkte der ganzen Stadt. Das Lokal dort, am Platz – wie reizend man zu uns war. Der Besitzer, ehemals Kellner und Koch in großen europäischen Hotels, u.a. in St. Moritz, der uns zeigt, was er kann. (Als Koch.) Wir reservieren dort für den 31. 12. – vor lauter Sympathie.
Ich sehe Peter gleichsam beim Lesen meines Manuskripts zu, 3 Tage lang – 27., 28., 29. – bemerke, wie sehr es ihn zu interessieren scheint, einmal sagt er sogar: »kafkaesk…« Sitzen eines Abends beisammen, führen eines der intensivsten Gespräche jemals, aber es ist wie im Traum: Habe beinahe ALLES vergessen. Weiß nur, dass es nach 23h war, Lillian und Adah schliefen, Sophie ihrer Krankheit wegen sowieso, auch Léocadie natürlich, und Peter und ich saßen an einem Tischchen in einer Art kleinen Bibliothek, vis à vis von seiner Suite, ein Raum über dem großen Festsaal mit den fin-de-siècle-Wandmalereien. Er hatte ca. die Hälfte des Manuskripts gelesen…schien recht angetan zu sein, wollte aber, naturgemäß, noch nichts Endgültiges sagen. Und wir gerieten vom 100. ins 1000., ad Serbien sogar. Dass er glaube, vieles sei passiert, im Krieg in Jugoslawien, weil vor lauter Zorn und Wut etwas, was nur zur Hälfte im Argen lag, dann zerschmettert wurde, mit aller Gewalt. Sehe seine Handbewegung des Schlagens vor mir, von oben nach unten, als Zeichen des Zerschlagens, vor lauter Wut. / Wir sprechen davon, dass viele Bereiche des Zwischenmenschlichen im Grunde nie beschrieben worden seien. Ich lese zur Zeit gerade den »Zauberberg« neu, aber Peter lehnt Thomas Mann ab, da die Sprache ihm einfach unerträglich sei. Die Sprache Kafkas, Robert Walsers, die könne er ertragen, sie sei REIN, WAHR, ECHT, auch er schreibe so, und er vergleicht sich durchaus mit Kafka und Robert Walser. »Auch bei mir«, sagt er, »hat die Sprache diese Klarheit – das kommt aus dem Traum. Traumsprache…« / Mehr als 1 Stunde saßen wir da – und wie im Traum: mein Mir-Vornehmen, mir alles, alles exakt merken zu müssen, zu wollen…
Lillian Birnbaum, die Frau des Autors, Fotografin und Filmproduzentin ↩
Gemeint sind Peter Handke, seine Frau Sophie Semin und ihre damals 7-jährige Tochter ↩
Es handelte sich um die 1. Fassung meines Romans "Die Erbschaft", der im Herbst 1999 im Ullstein Verlag erschienen ist. Die Geschichte eines Dichters, Daniel Löw, der in Südamerika einer Erbschaft nachjagt, die ihm der Cousin seines Vaters hinterlassen hat, ist heute als Nachdruck erhältlich: https://www.fischerverlage.de/buch/peter-stephan-jungk-die-erbschaft-9783596317592
↩Die vorliegenden Aufzeichnungen entstanden rückblickend, etwa vier Wochen später. ↩
Die 1994 geborene Tochter des Autors. ↩