Alex­an­der Kiss­ler: Die in­fan­ti­le Ge­sell­schaft

Alexander Kissler: Die infantile Gesellschaft
Alex­an­der Kiss­ler:
Die in­fan­ti­le Ge­sell­schaft

»Kin­der an die Macht«, »Kin­der­mund tut Wahr­heit kund« – an Be­kennt­nis­sen, das Kin­di­sche zu idea­li­sie­ren, hat es nie ge­fehlt. Alex­an­der Kiss­ler, einst Ci­ce­ro-Re­dak­teur und seit kur­zem bei der Neu­en Zür­cher Zei­tung, sieht al­ler­dings in­zwi­schen ei­ne zu­neh­men­de Ten­denz zu dem, was er In­fan­ti­li­sie­rung der Ge­sell­schaft nennt. Die »flä­chen­decken­de Be­reit­schaft, dem Kin­der­mund all­ge­mein höch­ste Weis­heits­gra­de zu­zu­spre­chen« ha­be, so die The­se, ein neu­es Ni­veau er­reicht. Ein­her ge­he dies mit ei­ner Ver­klä­rung der Na­tur. So­weit dies die bun­ten Sei­ten von Il­lu­strier­ten oder eso­te­ri­sche Rat­ge­ber be­trifft, mag man sol­che Rhe­to­rik noch be­lä­cheln. Kiss­ler sieht al­ler­dings Be­le­ge da­für, dass die In­fan­ti­li­sie­rung bis weit in die Ge­sell­schaft hin­ein­ragt, den Dis­kurs zu­neh­mend be­stimmt und letzt­lich der Po­li­tik als will­kom­me­nes Werk­zeug für die Steue­rung der Be­völ­ke­rung die­nen könn­te bzw. zum Teil schon dient. Denn: »Wer sich in­fan­ti­li­sie­ren lässt, wird zum Ob­jekt sou­ve­rä­ner In­stan­zen, die mut­wil­lig mit ihm ver­fah­ren.« Am En­de dro­he nichts we­ni­ger als die Ab­kehr von den Wer­ten der Auf­klä­rung.

Ob es glück­lich ist, die­ses Buch mit den Rat­schlä­gen und Er­kennt­nis­sen aus Rous­se­aus fik­ti­vem Er­zie­hungs­rat­ge­ber »Émi­le« zu be­gin­nen? Wie auch im­mer: Rous­se­au füh­re, so Kiss­ler, »sei­nen Émi­le, in der Fik­ti­on ein ge­sun­des Kind aus wohl­ha­ben­dem El­tern­haus, zur Er­kennt­nis des Le­bens hin­aus in die Na­tur. Auf­wach­sen soll Émi­le im Dorf, nicht in der Stadt, in Ein­fach­heit, nicht im Lu­xus, auf Wie­sen, nicht auf Kis­sen, keusch, nicht lust­be­tont.« Kin­der sol­len nur ei­nes sein: Kin­der. Sie »müs­sen sprin­gen, lau­fen, schrei­en dür­fen, so oft sie Lust da­zu ver­spü­ren.« Auf kei­nen Fall sol­len sie all­zu schnell zu klei­nen Er­wach­se­nen wer­den. Wer ih­nen zu früh die Kind­lich­keit ab­trai­niert, ver­hin­dert ih­re Ent­wick­lung zum ge­sun­den, zum gan­zen Men­schen. Wie be­kannt, schei­ter­te Rous­se­au sel­ber an sei­nem Ide­al, in dem er sei­ne Kin­der in An­stal­ten steck­te – falsch muss es, so der Au­tor, des­halb nicht sein.

Was Kiss­ler um­treibt, ist die Ver­mi­schung der Sphä­ren zwi­schen Kind und Er­wach­se­nem. Er stellt klar: »Kin­der sind kei­ne Er­wach­se­nen in War­te­stel­lung, son­dern Kin­der. Er­wach­se­ne sind kei­ne Kin­der in grö­ße­ren Klei­dern, son­dern Er­wach­se­ne.« Ei­gent­lich ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, aber Kin­der wer­den in­zwi­schen früh zu er­wach­se­nem Ver­hal­ten hin ge­drängt. Un­wei­ger­lich fühlt man sich an Neil Post­mans War­nung vom »Ver­schwin­den der Kind­heit« An­fang der 1980er Jah­re er­in­nert. Post­man warn­te da­vor, dass das Fern­se­hen (das war da­mals der Buh­mann) den Kin­dern die Welt der Er­wach­se­nen vor­zei­tig, zu früh, über­stül­pe – mit fa­ta­len Fol­gen für den spä­ter wo­mög­lich de­for­mier­ten Er­wach­se­nen.

Und heu­te? Ist es nicht eher so, dass sich die Er­wach­se­nen zu­se­hends re-in­fan­ti­li­sie­ren? Sie heu­len in Bam­bi-Fil­men und pfle­gen die »My­tho­lo­gie des In­fan­ti­len« bei­spiels­wei­se durch die Idea­li­sie­rung der Ge­schich­te von Pe­ter Pan, des Jun­gen, der nicht er­wach­sen wer­den möch­te. Wer kennt nicht die Dis­ney-Dar­stel­lung des Jun­gen mit den bei­den Flü­geln, der freu­dig mit sei­nem Zau­ber­stab her­um­fliegt und Aben­teu­er be­steht. Kiss­ler er­in­nert an den Ur­text von John Matthew Bar­rie. Dort ist Pe­ter Pan mit­nich­ten der bra­ve Jun­ge, son­dern »ein un­ge­lieb­ter Kna­be«, der Reiß­aus nimmt und sich zum Tot­schlä­ger ent­wickelt. In der Kin­der­welt Pe­ter Pans auf der In­sel Nim­mer­land geht es al­les an­de­re als pa­ra­die­sisch zu: »Die An­zahl der Jun­gen auf der In­sel va­ri­iert na­tür­lich, je nach­dem, wie vie­le ge­tö­tet wer­den und so wei­ter; und wenn sie er­wach­sen zu wer­den dro­hen, was ge­gen die Re­geln ver­stößt, de­zi­miert Pe­ter ih­re Zahl…« Das ist ein Zi­tat aus Bar­ries Buch; in den Dis­ney-Ad­ap­tio­nen die die Po­pu­la­ri­tät der Fi­gur we­sent­lich be­för­der­ten und präg­ten, feh­len die­se Grau­sam­kei­ten. Kiss­ler fol­gert: »Ei­ne Ge­sell­schaft, die sich un­ter dem Ban­ner Pe­ter Pans lust­voll in­fan­ti­li­siert oder in­fan­ti­li­sie­ren lässt, muss wis­sen, dass der Preis ewi­ger Ju­gend ewi­ge Un­mün­dig­keit wä­re.«

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Mar­tin Ge­ss­mann: Mit Nietz­sche im Sta­di­on

An­mer­kung zur Le­se­run­de:

Der Text zu Ge­ss­mann ist viel­leicht et­was lang ge­wor­den. Un­ge­dul­di­gen sei ge­sagt, dass der Pro­log »Fuß­ball und Po­li­tik« nicht zwin­gend für das Ver­ständ­nis der Äu­ße­run­gen zum Ge­ss­mann-Buch ist. Es ist viel­leicht auch ein biss­chen un­fair, noch ein zwei­tes Buch ins Spiel zu brin­gen, aber ich konn­te nicht wi­der­ste­hen. Wer möch­te, kann den Pro­log über­sprin­gen und so­fort auf Auf­tritt der Phi­lo­so­phen klicken.

Pro­log: Fuß­ball und Po­li­tik (Nor­bert Seitz)

Als bei der Fuß­ball-WM 1998 Gast­ge­ber Frank­reich Welt­mei­ster wur­de, in­iti­ier­te Da­ni­el Cohn-Ben­dit, da­mals Mo­de­ra­tor der Schwei­zer Li­te­ra­tur­sen­dung »Li­te­ra­tur­club«, ei­ne »Spe­zi­al­sen­dung«, die dann tat­säch­lich ei­nen Tag nach dem End­spiel aus­ge­strahlt wur­de. Am Ort, an dem nor­ma­ler­wei­se über li­te­ra­ri­sche Neu­erschei­nun­gen dis­ku­tiert wur­de, lud der sicht- wie hör­bar auf­ge­wühl­te Mo­de­ra­tor vier Gä­ste ein, um über Par­al­le­len zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik und den viel­leicht hier­aus re­sul­tie­ren­den Kon­se­quen­zen zu disku­tieren.1 Cohn-Ben­dit führ­te die Run­de ziel­ge­rich­tet in ei­ne Dis­kus­si­on um ein Buch von Nor­bert Seitz mit dem Ti­tel »Dop­pel­päs­se«. Seitz’ Buch wur­de sei­ner­zeit stark re­zi­piert Der Ti­tel ist dop­pel­deu­tig. Zum ei­nen geht um den Dop­pel­pass zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik (das, was man hoch­tra­bend In­ter­de­pen­den­zen nen­nen könn­te), zum an­de­ren wird auf die Mög­lich­keit der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft an­ge­spielt, die En­de der 1990er Jah­ren in Deutsch­land für gro­ße Dis­kus­sio­nen sorg­te. Ver­kürzt lau­tet die The­se des Bu­ches, dass sich der Zu­stand und die po­li­ti­sche La­ge ei­ner Ge­sell­schaft (vul­go: Na­ti­on) in de­ren Fuß­ball­spiel spie­gelt (und um­ge­kehrt!).

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  1. Zu Gast waren die Historikerin Christiane Eisenberg, der Theaterregisseur und –intendant Stephan Müller, Johnny Klinke, der als "Lebenskünstler" vorgestellt wurde (er betreibt ein Varieté-Theater in Frankfurt, der Heimatstadt Cohn-Bendits) und der Schriftsteller Thomas Hürlimann

Es ist ein Jam­mer

Al­so jetzt noch ei­ne Be­spre­chung von Akif Pi­rin­çcis »Deutsch­land von Sin­nen«? Noch ein Text, der die Men­schen­ver­ach­tung die­ses Bu­ches her­vor­hebt, die scheuß­li­che Spra­che gei­ßelt? Die­se tat­säch­lich fürch­ter­li­chen fast 230 Sei­ten, auf de­nen Pi­rin­çci auf die »links­versiffte Pres­se« schimpft, die »Fi­gu­ren aus dem Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­nett« (Po­li­ti­ker), »Mul­ti­kul­ti-En­gel aus dem Rot­wein­gür­tel« (die »Kindersex«-Grünen, die­ser »kom­plett über­flüs­si­ge Ver­ein«), die »so­zi­al­päd­ago­gi­sche Witz­ju­stiz« (spä­ter leicht va­ri­iert zur »deutsche[n] Au­gen­zu­drück-Ju­stiz«) und das EU-»Gesindel«. Die­ser Rausch des Au­tors, wenn es um den Is­lam geht (»ge­walt­a­ffi­ne und lei­stungs­feind­li­che Ideo­lo­gie«, die seit Jahr­hun­der­ten kei­ne Er­fin­dung mehr zu­stan­de ge­bracht ha­be [En­zens­ber­ger lässt grü­ßen] und Deutsch­land un­wei­ger­lich in ein schreck­li­ches »Eu­ra­bia« stür­zen wird), die »Geistes­krankheit na­mens Gen­der Main­stream« (nebst »Kampf­les­ben«) und die »Ver­got­tung« der Ho­mo­se­xua­li­tät. Al­so noch ein lang­wei­lig-selbst­ge­rech­ter Ge­gen­text, der sich am En­de in der Ge­wiss­heit suhlt, ir­gend­wie doch auf der rich­ti­gen (vul­go: der an­de­ren) Sei­te zu ste­hen und den Au­tor à la »heu­te show« mit ähn­li­chem Duk­tus zer­rupft wie er dies mit der von ihm so ver­hass­ten Ge­sell­schaft, dem jour­na­li­sti­sche Estab­lish­ment, prak­ti­ziert?

Und wenn man dies ver­mei­den möch­te – was dann? Ist Pi­rin­çci ein Wie­der­keh­rer des ta­xi­fah­ren­den Tre­vis Bick­le, der sich aus lau­ter Ekel vor dem »Ab­schaum«, der ihm be­geg­net in Selbst­ju­stiz flüch­tet und da­für ur­plötz­lich in der Öf­fent­lich­keit als Held ver­ehrt wird? Oder nur ein rhe­to­ri­scher Amok­läu­fer, ein Al­fred Tetzlaff rel­oa­ded, je­ner »Ekel Al­fred« ge­nann­ten Fi­gur aus der An­ti-Fa­mi­li­en­se­rie der 1970er Jah­re »Ein Herz und ei­ne See­le«, die in­zwi­schen ei­nen Kult­sta­tus er­reicht hat? Wolf­gang Men­ge, der die Idee zu die­ser Se­rie aus Groß­bri­tan­ni­en über­nom­men und auf deut­sche Ver­hält­nis­se an­ge­passt hat­te, in­sze­nier­te die Fol­gen wie ein Kam­mer­spiel auf der Büh­ne vor Pu­bli­kum. Tetzlaff wur­de zur ex­em­pla­ri­schen Spie­ßer-Fi­gur, der schon op­tisch ein­stimm­te: klein, fast im­mer mit Pan­tof­feln, meist lie­der­lich im Un­ter­hemd her­um­sit­zend, vor al­lem je­doch mit sei­nem spe­zi­el­len Ober­lip­pen­bart und der Fri­sur durch­aus (und ge­wollt) von Fer­ne an Adolf Hit­ler er­in­nernd. Die Ge­sin­nung Al­freds war schon auf den er­sten Blick klar.

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