Gräu­el der Ge­gen­wart ‑10/11-

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Viel­leicht neigt je­der, der glaubt, ge­nau Be­scheid zu wis­sen, zur Rhe­to­rik. Es gibt dann beim Schrei­ben nichts mehr zu er­ar­bei­ten, zu er­for­schen, man ist nicht auf‑, son­dern ab­ge­klärt und wird sich von nichts über­ra­schen las­sen. Die Ge­dan­ken ver­fer­ti­gen sich un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht beim Sprechen/Schreiben. Es geht nur noch dar­um, die pas­sen­den, d. h. wirk­sam­sten For­mu­lie­run­gen zu fin­den. Nach mei­nem Emp­fin­den ist das ein kal­tes Schrei­ben, die Rhe­to­rik ein kal­tes Sy­stem (was man durch­aus, von Fall zu Fall, schät­zen kann). In mei­nem ei­ge­nen Fall kommt es häu­fig vor, daß ich mich auf dem dis­kur­si­ven Weg nicht mehr aus­ken­ne, und auch jetzt in die­sem Mo­ment ist das ein we­nig der Fall. Viel­leicht bin ich da­mit nicht der ein­zi­ge; im schon ein gu­tes Stück fort­ge­schrit­te­nen 21. Jahr­hun­dert sind wir doch al­le – al­le? – ziem­lich rat­los; die Rat­lo­sig­keit ist un­se­re con­di­ti­on ac­tu­el­le. Mit mei­ner Kri­tik am hy­ste­ri­schen Li­te­ra­tur­be­trieb, am Op­ti­mie­rungs­wahn, am Bil­dungs­ab­bau, an der ge­sell­schaft­li­chen In­fan­ti­li­sie­rung und an­de­ren Phä­no­me­nen un­se­rer schö­nen, grau­en­haf­ten Ge­gen­wart, ern­te ich re­gel­mä­ßig Zu­stim­mung, nichts als Zu­stim­mung – frei­lich ge­paart mit der Be­mer­kung, lei­der kön­ne man nichts da­ge­gen ma­chen. Der Neo­li­be­ra­lis­mus ist auf zahl­lo­sen Schleich­we­gen to­ta­li­tär ge­wor­den; du mußt und willst mit­ma­chen, es gibt kei­nen Ort au­ßer­halb. Du mußt wol­len; du willst müs­sen. Un­ter­des­sen sind wir rat­los, ich und mei­ne Gleich­ge­sinn­ten, die – so mein Ein­druck – mehr­heits­fä­hig sein könn­ten.

War­um kann man nichts ma­chen? Et­wa weil das re­vo­lu­tio­nä­re Sub­jekt fehlt? Oder, be­son­ne­ner, das al­ter­na­ti­ve Sub­jekt? Mit der Ar­beit ist die Ar­bei­ter­klas­se ver­schwun­den (die oh­ne­hin vor­her schon »ver­bür­ger­licht« war). Und auf Min­der­hei­ten kann man nicht bau­en, sie bil­den kein kol­lek­ti­ves Sub­jekt. Oder? Bei For­re­ster blei­ben die­se Fra­gen un­be­ant­wor­tet, sie wer­den nicht ein­mal ge­stellt. Ih­re Rhe­to­rik läuft auf ei­nen Punkt am Ho­ri­zont hin­aus: be­din­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men für al­le! Vom Staat oder ei­ner an­de­ren Kör­per­schaft zu ga­ran­tie­ren­de Er­hal­tung al­ler, un­ab­hän­gig da­von, ob sie ar­bei­ten oder nicht. Das aber ist ei­ne Maß­nah­me, die al­lein nicht aus­reicht, weil sie nur fruch­ten kann, wenn sie von min­de­stens ei­ner zwei­ten be­glei­tet wird: Bil­dung für al­le, in ei­nem ra­di­ka­len Sinn, oh­ne Hier­ar­chien, oh­ne Prü­fun­gen, oh­ne Wett­be­werb, oh­ne zeit­li­che Gren­zen (die tat­säch­li­che Ent­wick­lung geht in die Ge­gen­rich­tung).

Wei­ter­le­sen ...