Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

»Der Ein­druck, die eta­blier­te Po­li­tik sei un­fä­hig oder un­wil­lig, die Pro­ble­me der Zeit zu lö­sen, ist ei­ne Ur­sa­che für den Er­folg po­pu­li­sti­scher Par­tei­en«, so schreibt Ro­bin Alex­an­der in sei­nem neu­en Buch Letz­te Chan­ce auf Sei­te 338. Wer bis da­hin ge­le­sen hat, wun­dert sich. Denn dass die »eta­blier­te Po­li­tik« – ge­meint sind vor al­lem die Prot­ago­ni­sten der »Am­pel«, aber auch die der letz­ten vier Jah­re der Mer­kel-Re­gie­rung – größ­ten­teils un­fä­hig re­spek­ti­ve un­wil­lig zu kon­struk­ti­ver Po­li­tik wa­ren, ist nicht nur ein »Ein­druck«, son­dern es ist (bzw. war) hand­fe­ste Rea­li­tät, wie auf na­he­zu al­len der bis da­hin zu­rück­lie­gen­den 337 Sei­ten in zum Teil er­mü­dend zu le­sen­der Akri­bie aus­ge­führt wur­de.

Robin Alexander: Letzte Chance
Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

Über­all ste­hen ad­mi­ni­stra­ti­ve, for­ma­le wie in­for­mel­le Re­gu­la­ri­en und Re­geln, die aus di­ver­sen Er­wä­gun­gen her­aus nicht an­ge­ta­stet wer­den (kön­nen), sach­ge­rech­ten Lö­sun­gen im We­ge. Das po­li­ti­sche Sy­stem nä­hert sich mit all sei­nen Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen, Aus­nah­me­re­ge­lun­gen, ge­gen­sei­ti­gen Rück­sicht­nah­men be­dingt durch per­sön­li­che Be­find­lich­kei­ten von sich wich­tig neh­men­den po­li­ti­schen Ak­teu­ren wie Frak­ti­ons- oder Par­tei­vor­sit­zen­den, Mi­ni­stern, Staats­se­kre­tä­ren, Par­tei­flü­gel­ver­tre­tern und Lob­by­ver­tre­tern der Dys­funk­tio­na­li­tät. Wenn dann noch das ge­gen­sei­ti­ge, ko­ali­ti­ons­be­ding­te Ob­ser­vie­ren nach dem Mot­to »Wer-macht-den-näch­sten-Feh­ler?« auf den Plan tritt, wird viel­leicht noch ver­wal­tet, aber nicht mehr zu­kunfts­fä­hig re­giert.

Das Schei­tern der so­ge­nann­ten Am­pel-Re­gie­rung war vor­aus­zu­se­hen. Die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen der Par­tei­en stan­den ei­ner part­ner­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit von An­fang an im We­ge. So hät­te man dem po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten sei­ne Er­fol­ge gön­nen müs­sen, statt sich in krä­me­ri­schem Klein­klein zu ver­bei­ßen, wie in ei­nem wahr­lich schil­lern­den Bei­spiel ge­gen En­de der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Die Grü­nen woll­ten den Steu­er­grund­frei­be­trag um 312 Euro/Jahr an­he­ben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die In­fla­ti­on et­was hö­her aus­fiel als pro­gno­sti­ziert […] den Be­trag nun auf 324 Eu­ro [zu] er­hö­hen.« Die­sen Mi­ni­mal­tri­umph gönn­ten die Grü­nen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um das Vor­ha­ben des SPD-Ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums, um Druck aus­zu­üben auf die ih­rer­seits blockie­ren­den Mi­ni­ste­ri­en der Grü­nen. Und das al­les für 12 Eu­ro Un­ter­schied im Jahr, die man nicht ver­steu­ern muss. Re­gie­rungs­cha­os we­gen ei­nem Eu­ro pro Mo­nat.« Aber Alex­an­der schießt über das Ziel hin­aus, wenn er als Ge­gen­bei­spiel Mer­kel an­führt, die einst Dob­rindt mit sei­ner »Ausländer-Maut«-Geschichte auf­lau­fen ließ. »Dass die­se Stra­ßen­ge­bühr für nicht­deut­sche Au­to­fah­rer am En­de vor eu­ro­päi­schen Ge­rich­ten schei­tern wür­de, war Mer­kel im­mer klar. Den Mil­li­ar­den­scha­den für Steu­er­zah­ler nahm sie in Kauf. Der Ko­ali­ti­ons­frie­den mit der CSU war ihr wich­ti­ger.« Mil­li­ar­den ver­schwen­de­te Steu­er­gel­der um des lie­ben Frie­dens wil­len? Das kann doch nicht ernst ge­meint sein, ein sol­ches Ver­hal­ten als Blau­pau­se für Ko­ali­ti­ons­frie­den zu emp­feh­len.

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Ste­phan Lam­by: Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges

Stephan Lamby: Ernstfall - Regieren in Zeiten des Krieges
Ste­phan Lam­by: Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges

Ste­phan Lam­by ist seit ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit der Chro­nist bun­des­deut­scher In­nen­po­li­tik. Man er­in­nert sich noch an sein fast le­gen­dä­res In­ter­view mit Hel­mut Kohl und die zahl­rei­chen, zeit­ge­schicht­lich be­deu­ten­den und mehr­fach prä­mier­ten Do­ku­men­ta­tio­nen ins­be­son­de­re in der end­los er­schei­nen­den Mer­kel-Ära, die in schö­ner Re­gel­mä­ssig­keit und zeit­nah in der ARD zu se­hen wa­ren. Im­mer wie­der zeigt er Men­schen, die po­li­ti­sche Macht auf Zeit ha­ben, bei ih­ren Ver­su­chen, im Wi­der­streit zwi­schen Freund und Geg­ner, Me­di­en und Öf­fent­lich­keit für ih­re Idea­le zu agie­ren und da­bei nicht sel­ten ge­hetzt und ge­trie­ben er­schei­nen (manch­mal kom­men­tie­ren zu­sätz­lich Jour­na­li­sten). Zum fast ge­flü­gel­ten Wort wur­de der Ti­tel sei­nes Films über die »ner­vö­se Re­pu­blik«. Die po­li­ti­schen Prot­ago­ni­sten er­laub­ten ihm Ein­blicke, die an­de­ren ver­bor­gen blei­ben. Im Ge­gen­satz zu an­de­ren Fil­me­ma­chern, die sich wuch­tig in­sze­nie­ren, ist Lam­by ein Po­li­tik­flü­ste­rer; in sei­ner zu­rück­hal­ten­den, manch­mal fast an­ti­cham­brie­ren­den, da­bei je­doch nie un­ter­wür­fi­gen Art ge­lin­gen bis­wei­len be­mer­kens­wer­te Ein­sich­ten.

Da­bei for­mu­liert Lam­by mit sei­ner sanft-ein­neh­men­den Stim­me durch­aus Hy­po­the­sen. Noch häu­fi­ger als in ei­nem Film sind sol­che un­ter­schwel­li­gen Be­wer­tun­gen in Bü­chern spür­bar. Und da­mit kommt man auf Ste­phan Lam­bys neue­stes Buch Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges. Der Un­ter­ti­tel lau­tet ein biss­chen ame­ri­ka­nesk »Ein Re­port aus dem In­ne­ren der Macht«. Da­mit wird ei­ne ge­wis­se Er­war­tung ge­schürt. Und Lam­by lässt sich nicht lum­pen.

Auf fast 400 Sei­ten wird das Wir­ken und Han­deln der neu­en Bun­des­re­gie­rung vom De­zem­ber 2021 bis zum 13. Ju­li 2023 (NA­TO-Gip­fel in Vil­ni­us) be­schrie­ben. Da­bei ste­hen zwei The­men im Vor­der­grund, die sich teil­wei­se ge­zwun­ge­ner­ma­ßen über­la­gern. Zum ei­nen die In­va­si­on Russ­lands in die Ukrai­ne vom 24.2.22, die sich ra­sant ver­än­dern­den Pa­ra­me­ter der Au­ßen- und Si­cher­heits­po­li­tik Deutsch­lands und die Aus­wir­kun­gen auf die En­er­gie­ver­sor­gung ei­nes der größ­ten In­du­strie­na­tio­nen der Welt. Und zum an­de­ren die Be­mü­hun­gen um ei­ne öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on des Lan­des im An­ge­sicht des be­droh­li­chen Kli­ma­wan­dels.

Al­le an­de­ren The­men, wie et­wa der frü­he Rück­tritt von An­ne Spie­gel, die sehr um­strit­te­ne Wahl­recht­re­form oder, noch ein­schnei­den­der für die Be­völ­ke­rung, die »Ab­wick­lung« der Co­vid-Pan­de­mie nebst dem De­ba­kel, ei­ne Impf­pflicht zu im­ple­men­tie­ren, wer­den aus­ge­blen­det. Fast ein biss­chen pflicht­schul­dig wirkt ei­ne Er­wäh­nung mit und über Karl Lau­ter­bach, der in An­be­tracht des Kriegs in der Ukrai­ne plötz­lich kaum noch in den Schlag­zei­len steht. Da­bei war ge­ra­de das The­ma Impf­pflicht ei­ne höchst kon­tro­ver­se An­ge­le­gen­heit; quer durch al­le Frak­tio­nen.

Na­tür­lich muss Lam­by Prio­ri­tä­ten set­zen. »Zei­ten­wen­de« und öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on sind die The­men, die Deutsch­land noch lan­ge be­schäf­ti­gen wer­den. Wer im Fe­bru­ar 2022 auf ei­ne ein­sa­me In­sel oh­ne Me­di­en­zu­gän­ge ver­schla­gen wur­de und heu­te, an­dert­halb Jah­re spä­ter zu­rück­ge­kom­men ist, kann mit die­sem Buch sei­ne In­for­ma­ti­ons­de­fi­zi­te rasch und, was die­se The­men an­geht, um­fas­send auf­fül­len. Weit­ge­hend wird chro­no­lo­gisch, zeit­wei­se ta­ge­buch­ar­tig er­zählt. Nur ab und zu gibt es Zu­sam­men­fas­sun­gen. Da­bei ver­mei­det Ste­phan Lam­by dan­kens­wer­ter­wei­se weit­ge­hend die mitt­ler­wei­le gras­sie­ren­de Re­por­ter­un­sit­te, sei­ne Be­ob­ach­tun­gen als Li­te­ra­tur zu ver­klei­den.

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Von Ver­harm­lo­sern und Über­trei­bern

An­fang der 90er Jah­re be­ob­ach­te­te der Schrift­stel­ler Bo­do Mor­shäu­ser ei­nen Pro­zess ge­gen vier jun­ge Män­ner, die ei­ne Frau be­sta­lisch er­mor­det hat­ten und min­de­stens teil­wei­se dem rech­ten Mi­lieu zu­ge­ord­net wur­den. Mor­shäu­ser fuhr nach Kel­ling­husen, traf auf Skin­heads, Xe­no­pho­be und so­zi­al ge­schei­ter­te Exi­sten­zen. Er fand im Verfassungs­schutz­bericht von 1986 ei­nen Hin­weis auf den Ort. Es gab / gibt ei­ne Neo­na­zi-Sze­ne. 1987 kam es zu ei­nem Tref­fen in Kel­ling­husen, zu dem die rechts­ra­di­ka­le »FAP« auf­ge­ru­fen hat­te. (Die »FAP« wur­de 1995 vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ver­bo­ten.) Mor­shäu­ser be­rich­tet von ei­ner Po­li­zei­es­kor­te für die Rechts­ra­di­ka­len und spär­li­chen Gegen­demonstrationen.

In­ter­es­sant ist die in sol­chen Fäl­len zu be­ob­ach­ten­de Di­cho­to­mie, die als re­prä­sen­ta­tiv bis zum heu­ti­gen Tag an­ge­se­hen wer­den kann. Mor­shäu­ser macht im Dis­kurs um Rechts­extremismus Ver­harm­lo­ser und Über­trei­ber aus. Bei­de Sei­ten trei­ben ihr idiotisch­es Mei­nungs­spiel, das eher ein Vor­ur­teils­re­cy­cling ist. Je­der will sich vor dem Pro­blem und vor der Ge­gen­sei­te ins Recht so­wie die Ge­gen­sei­te ins Un­recht set­zen. Hand­lungs­im­puls ist nicht, das Pro­blem zu lö­sen, al­so erst mal zu be­nen­nen – was schon schwie­rig ist, weil Teil des Pro­blems so­fort auch die sind, die mit die­sen ver­fluch­ten zwei Mei­nun­gen auf­kreu­zen, je­ner Scheindif­fe­renz, die sie für die Dif­fe­renz hal­ten.

Im kon­kre­ten Fall ru­bri­zier­te Mor­shäu­ser Po­li­zei und Po­li­tik in die Grup­pe der Ver­harmloser. Sie hat­ten fal­sche gu­te Grün­de, über die rechts­extre­me Er­neue­rung zu schwei­gen.. Die Über­trei­ber agier­ten rhe­to­risch über­zo­gen, nen­nen den fa­schi­stisch, der nur da­bei ist, Ta­bu­zo­nen zu ent­decken (und auf ei­ne stößt). Die Ver­harm­lo­ser mei­nen, man kön­ne die Ge­fahr her­bei­re­den. Die Über­trei­ber sa­gen, man kön­ne die Ge­fahr her­bei­schwei­gen.

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Ro­bert Ha­beck: Pa­trio­tis­mus – Ein lin­kes Plä­doy­er

Robert Habeck: Patriotismus - Ein linkes Plädoyer
Ro­bert Ha­beck: Pa­trio­tis­mus – Ein lin­kes Plä­doy­er

Die Feind­schaft zum Staat als Re­pres­si­ons­in­stanz, »Atom­staat«, »Bul­len­staat«, als pa­ter­na­li­sti­scher Ak­teur, Hü­ter fau­ler Kom­pro­mis­se, ver­stell­te den grü­nen Blick dar­auf, was (mit ei­nem) ge­sche­hen wür­de, wenn man selbst zu dem ge­hör­te. Der zi­vi­le Mut woll­te im­mer über den Staat hin­aus, ziel­te auf die Idee ei­nes Ge­mein­we­sens oh­ne Staat. Als dann rot-grün 1998 an die Re­gie­rung kam, wa­ren die li­be­ra­len Vor­stel­lun­gen von Ge­mein­wohl nicht mehr ge­gen, son­dern mit dem Staat durch­zu­set­zen. Auf die­sen Schritt wa­ren die pro­gres­si­ven Kräf­te schlecht vor­be­rei­tet und sind es bis heu­te.

Hart geht Ro­bert Ha­beck, 41, Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der der Grü­nen im schles­wig-hol­stei­ni­schen Land­tag, mit der Lin­ken im All­ge­mei­nen und sei­ner Par­tei im Be­son­de­ren ins Ge­richt (wo­mit die po­li­ti­sche Rich­tung und nicht de­zi­diert die Par­tei »Die Lin­ke« ge­meint ist). Nach rot-grün, so Ha­becks The­se, ha­be das Land in ei­ner Gro­ßen Ko­ali­ti­on, die ih­re Chan­cen lei­der (!) sträf­lich ver­passt ha­be, vier Jah­re ver­lo­ren.

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