Anmerkungen zu einer Handvoll legendärer Sätze
5 – Dummheit ist ein Wundmal.
Gegen Ende des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Österreich veröffentlichten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ein Buch mit dem Titel Dialektik der Aufklärung, das bis heute viel zitiert, aber wenig gelesen wird (was nicht nur an der Schwierigkeit der Gedanken, sondern auch am manierierten, überladenen Satzbau liegt). So gut wie gar nicht gelesen wird der Schlußteil, eine Art Anhang von Fragmenten und Skizzen, der mit diesem Satz beginnt: »Zu den Lehren der Hitlerzeit gehört die von der Dummheit des Gescheitseins.« Daran ist zunächst einmal erstaunlich, daß die Schreiber von einer zu Ende gegangenen Epoche zu sprechen scheinen. Das Buch ist aber 1944 erschienen, im Vorwort aus diesem Jahr weisen die Autoren auf den Anhang hin, er dürfte also schon in der Erstausgabe enthalten gewesen sein. Waren sich die beiden gar so sicher, daß die Hitlerzeit demnächst der Vergangenheit angehören würde? Wenig später noch noch deutlicher, im Imperfekt: »Die in Deutschland zur Macht kamen, waren gescheiter als die Liberalen und dümmer.«
Adorno liebte paradoxe Formulierungen, seine negative Dialektik stachelte ihn immer wieder dazu an. Die rhetorische Maschinerie hat jedoch die problematische Tendenz, die Rede zunehmend von der Erfahrungswirklichkeit zu entfernen, über sie hinwegzuschweben oder sie ganz aus dem Blick zu verlieren. Das Beispiel, das Horkheimer und Adorno mehr andeuten als besprechen, ist die – nicht beim Namen genannte – Beschwichtigungspolitik des seinerzeitigen britischen Premierministers Chamberlain gegenüber dem sich immer aggressiver verhaltenden NS-Regime. Im nachhinein ist man natürlich gescheiter, aber das Zögern nicht nur Chamberlains, sondern zahlreicher Verantwortlicher in verschiedenen Ländern wäre doch zunächst nicht als Zeichen von mangelnder Intelligenz, sondern einer Zurückhaltung zu werten, die in vielen Situationen klug sein mag, im gegebenen Fall jedoch falsch war. Zu vieles, vor allem aber: zu langes Nachzudenken kann die notwendige Handlungsbereitschaft hemmen – das zeigt uns schon das Beispiel Hamlets, des Prinzen von Dänemark. Soll man in diesen Fällen aber genauso von Dummheit sprechen, wie man es bei Gedankenlosigkeit oder mangelnder Intelligenz tut? Ich fürchte, die dialektische bzw. paradoxale Figur, zu der die beiden Denker gelangen, rührt daher, daß sie das Wort »Dummheit« mit zweierlei Bedeutung gebrauchen. Sie beruht auf semantischer Inkongruenz.