Jo­seph Roth: Ra­detz­ky­marsch

Ich weiß nicht, wann ich Ra­detz­ky­marsch von Jo­seph Roth das er­ste Mal ge­le­sen ha­be. Es war si­cher­lich ein Bi­blio­theks­exem­plar. Nun al­so, nach vie­len Jah­ren, wie­der (nach die­ser Ver­si­on). Wie so oft er­kann­te man Pas­sa­gen, an­de­re wie­der­um wa­ren ei­nem gänz­lich ent­fal­len. Wie wür­de man die Ge­ne­ra­tio­nen­ge­schich­te der Trot­tas heu­te le­sen und be­ur­tei­len, wenn nicht Jo­seph Roth der Au­tor wä­re? Hat die­ses Buch, um ei­ne (lei­der schein­bar) un­um­gäng­li­che Vo­ka­bel zu ver­wen­den, heu­te noch »Be­stand«? Im­mer wie­der wird es re­fe­ren­ziert. In­zwi­schen gilt fast als ein Do­ku­ment für die Un­aus­weich­lich­keit des Un­ter­gangs der Habs­bur­ger Mon­ar­chie.

Ra­detz­ky­marsch um­fasst drei Ge­ne­ra­tio­nen. Es be­ginnt 1849, als Leut­nant Jo­seph Trot­ta in ei­ner gei­stes­ge­gen­wär­ti­gen Ak­ti­on dem Kai­ser Franz Jo­seph I nach der Schlacht von Sol­fe­ri­no das Le­ben ret­tet, in­dem er im letz­ten Mo­ment den Mon­ar­chen aus der Schuss­bahn ei­nes Sni­pers wirft und da­bei sel­ber an der Schul­ter ver­wun­det wird. Der Kai­ser lässt sich nicht lum­pen, er­hebt sei­nen Le­bens­ret­ter in den Adels­stand (»Frei­herr von Si­pol­je«), be­för­dert ihn zum Haupt­mann und wird spä­ter mit ei­nem üp­pi­gen Bei­trag die Aus­bil­dung von Jo­sephs Sohn fi­nan­zie­ren (was der Ret­ter, wie es heißt, »miß­mu­tig ent­ge­gen« nahm).

Der Grund für den Miss­mut: Er fin­det ei­nes Ta­ges im Schul­buch sei­nes fünf­jäh­ri­gen Soh­nes Franz ei­ne Dar­stel­lung des Ge­sche­hens der Ret­tungs­ak­ti­on, die nicht den Tat­sa­chen ent­spricht. Zwar wird er dort na­ment­lich als Ret­ter er­wähnt, aber den Kai­ser stellt man als he­roi­schen Teil­neh­mer ei­nes Ge­fechts dar. Jo­seph von Trot­ta ist ent­setzt, be­schwert sich bei sei­nem Vor­ge­setz­ten, schreibt ei­nen Brief an das Un­ter­richts­mi­ni­ste­ri­um und als bei­des ver­pufft so­gar an den Kai­ser. Die Ant­wort ist im­mer die glei­che: Man soll doch bit­te die Sa­che nicht so ernst neh­men. In Kin­der­bü­chern wür­de nun mal ver­ein­facht; spä­ter er­folg­ten schon noch Kor­rek­tu­ren. Was na­tür­lich – das wuss­te Jo­seph – nie pas­siert.

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»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

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Mi­cha­el Rol­off

Michael Roloff
Mi­cha­el Rol­off

Ich ha­be Mi­cha­el Rol­off nie per­sön­lich ken­nen­ge­lernt. Er leb­te in Se­at­tle, ich in Düs­sel­dorf. Zum er­sten Mal wur­de ich 2006 im Rah­men der Dis­kus­sio­nen um den Hei­ne-Preis an Pe­ter Hand­ke auf ihn auf­merk­sam. Er nutz­te aus­gie­big die On­line-Kom­men­tar­spal­ten von Me­di­en, um Hand­ke ge­gen die An­grif­fe aus den Feuil­le­tons zu ver­tei­di­gen. Ge­nau­er ge­sagt: Er ver­tei­dig­te Hand­kes Li­te­ra­tur.

1937 ge­bo­ren, emi­grier­te er in den 1950er-Jah­ren von Deutsch­land in die USA. Er über­setz­te u.a. Theo­dor W. Ador­no, Her­mann Hes­se, Ed­gar Hil­sen­rath, Wal­ter Kem­pow­ski und bis die 1980er Jah­re auch Pe­ter Hand­ke ins Eng­li­sche. Im Brief­wech­sel zwi­schen Hand­ke und Al­fred Kol­le­rit­sch taucht Rol­off als skur­ri­ler Dan­dy mit »wild­le­der­nem Hut« und Fa­sa­nen­fe­der auf. Ir­gend­wann kam es zum Bruch mit Suhr­kamp und auch mit Hand­ke. Es ging, wie Hand­ke mir ein­mal in Cha­ville sag­te, um Geld.

Ir­gend­wie kam ich dann in Kon­takt mit ihm. Wer ein­mal in sei­nem Adress­buch war, ent­kam nicht mehr und er­hielt zu­ver­läs­sig (auch als Ver­stor­be­ner!) noch Mails. Auch ich be­kam nun täg­lich zum Teil ein Dut­zend Mails. Ne­ben Aus­zü­gen aus Re­zen­sio­nen über li­te­ra­ri­sche Bü­cher und Hin­wei­se auf sei­ne ei­ge­nen Pu­bli­ka­tio­nen im Netz wa­ren es Links, Hin­wei­se und Kom­men­ta­re zur ame­ri­ka­ni­schen Po­li­tik. Rol­off war po­li­tisch links­ra­di­kal. Er liess kein gu­tes Haar an der ame­ri­ka­ni­schen Po­li­tik, mach­te kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Clin­ton, Bush, Oba­ma (den er früh ver­ächt­lich »Oba­mi« nann­te) und Trump. Sei­ne pu­bli­zi­sti­schen Hel­den wa­ren die Au­toren von WSWS und Noam Chom­sky.

In­ter­es­sant wa­ren für mich vor al­lem sei­ne Hin­wei­se und Deu­tun­gen in Be­zug auf Hand­ke und sein Werk. Ne­ben An­ek­do­ti­schem be­schäf­tig­te er sich aus­gie­big mit der Be­hand­lung Hand­kes durch das deutsch­spra­chi­ge Feuil­le­ton. Mit den Jah­ren sponn Rol­off ein schier un­ent­wirr­ba­res Netz von Web­sei­ten, die sich aus­gie­big und de­tail­ver­ses­sen mit Hand­ke und des­sen Werk be­schäf­tig­ten. Da­bei be­dien­te er sich an al­lem, was er fand. Nicht nur mei­ne Tex­te stell­te er zum Teil mit­tels »co­py & pa­ste« oh­ne Rück­fra­gen ins Netz. Da­zu gab es zu­wei­len def­tig-der­be Kom­men­ta­re, wenn Aus­sa­gen nicht sei­nem Gu­sto ent­spra­chen.

Rol­off un­ter­schied wie kaum je­mand zwi­schen Per­son und Li­te­ra­tur. Er lieb­te Hand­kes Li­te­ra­tur, ana­ly­sier­te sie in in­zwi­schen holp­ri­gem Deutsch (oder ein­fach di­rekt Eng­lisch) mit zum Teil in­ter­es­san­ten Vol­ten, die je­doch all­zu oft hin­ter der Ve­he­menz sei­ner psy­cho­ana­ly­tisch grun­dier­ten Schimpf­ti­ra­den ge­gen die Per­son Hand­ke ver­schwan­den. Zum Teil muss­te man sei­ne Kom­men­ta­re ent­fer­nen, weil sie straf­be­wehr­te Aus­sa­gen ent­hiel­ten. Als die Er­re­gun­gen zu Hand­kes Ju­go­sla­wi­en-En­ga­ge­ment in die USA über­schwapp­ten, ver­tei­dig­te er wie­der hef­tig die Li­te­ra­tur. Es war ei­ne Hass­lie­be. (Und wie stolz war er auf Hand­kes Lob zu sei­ner Über­set­zung von »Über die Dör­fer«.)

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Kol­lek­tiv­ge­spenst ge­gen In­di­vi­du­al­ge­spenst

Wie­der­le­se­ver­such über Ni­co­las Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«.

Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte
Ni­co­las Born: Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te

Nach der Be­schäf­ti­gung mit Ni­co­las Borns letz­tem Ro­man »Die Fäl­schung« und der hier­in deut­lich ge­äu­ßer­ten Jour­na­lis­mus- und Sprach­kri­tik (die, wie ich ana­ly­sie­re, als ein Vor­läu­fer der Kri­tik Pe­ter Hand­kes an der Be­richt­erstat­tung zu den Ju­go­sla­wi­en-Krie­gen der 1990er Jah­re gel­ten kann) be­sorg­te ich mir an­ti­qua­risch den be­kann­te­sten Ro­man Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«, der drei Jah­re vor der »Fäl­schung« er­schie­nen war und für den Ly­ri­ker Born so et­was wie den Durch­bruch be­deu­te­te.

Mein Ex­em­plar war die 6.–8. Tau­send-Auf­la­ge 1976. Die Klap­pen­tex­te be­stan­den vor al­lem aus Aus­schnit­ten aus Re­zen­sio­nen, na­tur­ge­mäß al­le lo­bend. Wie nicht an­ders zu er­war­ten stand an er­ster Stel­le ein Satz von Mar­cel Reich-Ra­nicki, dann et­was von Wolf­ram Schüt­te. Auf der hin­te­ren Klap­pe ist dann noch ei­ne Pas­sa­ge aus Pe­ter Hand­kes Be­gleit­schrei­ben zum Buch aus der »Zeit« ab­ge­druckt.

Ich er­in­ne­re mich das Buch vor vie­len Jah­ren aus der Bi­blio­thek ent­lie­hen und nach we­ni­gen Sei­ten weg­ge­legt und schließ­lich vor der Ab­ga­be­frist zu­rück­ge­ge­ben zu ha­ben. Zu ex­zes­siv schien mir die Kla­ge des Ich-Er­zäh­lers über sich, sei­ne Freun­din Ma­ria und über­haupt die Welt.

Nach der Lek­tü­re des schö­nen Tex­tes von Hil­mar Klu­te zum 80. Ge­burts­tag des 1979 ge­stor­be­nen Ni­co­las Born griff ich nun zum Buch. Es war eben auch das sanf­te Plä­doy­er Klu­tes für die »neue Sub­jek­ti­vi­tät«, die die deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur lan­ge Zeit präg­te und – wenn man ge­nau hin­schaut – längst wie­der­ge­kehrt ist, frei­lich an­ders als da­mals in den 1970er Jah­ren (hier­auf wird noch ein­zu­ge­hen sein), die mich nun wie­der neu­gie­rig mach­te.

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An­dré Seel­mann: Aben­teu­er im Kaf­fee­haus

André Seelmann: Abenteuer im Kaffeehaus
An­dré Seel­mann:
Aben­teu­er im Kaf­fee­haus

Nicht nur ein Jub­liäums­text

Fast zu­fäl­lig hat­te ich Mit­te März er­fah­ren, dass An­dré Seel­manns Um­blät­te­rer-Tex­te von 2007 bis 2015 als Buch er­schei­nen sol­len und das bei Il­le & Rie­mer, je­ner Ver­lag, der mein Hand­ke/­Ju­go­sla­wi­en-Buch ver­legt hat­te. Dann schrieb Pa­co noch ei­ne Mail und lud mich zur Book Re­lease Par­ty bei der Leip­zi­ger Buch­mes­se ein, aber ich konn­te aus di­ver­sen Grün­den nicht da­bei sein.

Ich bin ja im­mer skep­tisch, wenn On­line-In­hal­te (wenn auch »sach­te durch­re­di­giert«) in Buch­form her­aus­ge­bracht wer­den, weil ich glau­be, dass es kaum je­mand kau­fen wird so­lan­ge es noch im Netz steht und ein ziem­li­ches öko­no­mi­sches Wag­nis für ei­nen Ver­le­ger dar­stellt. Aber ei­nen non­kon­for­mi­sti­schen Mut hat­te der Ver­lag schon 2012 mit mei­nem Buch be­wie­sen und bei An­dré Seel­mann ist man nun ir­gend­wie an­ders­mu­tig.

Die Ge­schich­ten von Di­que aus dem Um­blät­te­rer hat­te ich sei­ner­zeit ger­ne ge­le­sen, aber eben im­mer nur am PC und meist im Bü­ro. Al­so noch ein­mal von vor­ne, zu­rück in die Ver­gan­gen­heit. Es be­ginnt schon vor­her rich­tig ana­log: der Post­ver­sand des Buchs von Leip­zig nach Düs­sel­dorf dau­er­te 16 Ta­ge. Aber es traf dann ge­nau zum rich­ti­gen Zeit­punkt ein, denn ich hat­te ge­ra­de ei­ni­ge er­gän­zen­de Lek­tü­ren zu mei­nem im Spät­som­mer er­schei­nen­den Buch mit Es­says über Pe­ter Hand­ke be­en­det und da war die Ab­wechs­lung sehr pas­send.

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Sprach­zwei­fel und Sprach­ver­trau­en

Über das Fort­wir­ken von Hof­mannst­hals Chan­dos-Brief

Für Gre­gor Keu­sch­nig,
und auch für Aki­ra Hot­ta, zur Er­mun­te­rung

Ei­ner der Tex­te, die ich oft wie­der­le­se, teils am Leit­fa­den des Zu­falls, beim Streu­nen zwi­schen den Bü­chern, dann wie­der an­ge­regt durch Kol­le­gen, ist der Chan­dos-Brief von Hu­go von Hof­manns­thal. Ein bei Au­toren be­lieb­ter Text, der sich gut zum Zi­tie­ren eig­net; man kommt nicht um ihn her­um. Bei mei­ner neue­sten Lek­tü­re ha­be ich ihn mehr als frü­her als Er­zäh­lung ge­le­sen, als Ge­schich­te mit re­la­tiv weit ge­spann­tem Er­zähl­bo­gen, der dann in der Ge­gen­wart kul­mi­niert, in den Au­gen­blicken der Epi­pha­nie. Kul­mi­niert wie ei­ne Brücke, die plötz­lich ab­bricht, ins Nichts führt – nicht in ei­ne hel­le oder dü­ste­re Zu­kunft, die wir ah­nen, son­dern ins Nichts.

Die­ser Lord Chan­dos ist ein jun­ger, be­gü­ter­ter Mann, einst­mals Schü­ler des be­deu­ten­den Phi­lo­so­phen Fran­cis Ba­con, dem er nach lan­ger Schwei­ge­zeit nun ei­nen Brief schreibt, den letz­ten, wie man ver­mu­ten muß. Chan­dos ist ein Schrift­stel­ler, ein Dich­ter, der mit sei­nen Schä­fer­spie­len ei­ni­gen Er­folg hat­te und nun mit sei­nem La­tein am En­de ist. Die Schäfer­dichtung war ein be­lieb­tes Gen­re im Hu­ma­nis­mus, al­so je­ner Kul­tur, der Ba­con und Chan­dos ent­stamm­ten; es wur­de noch im Ba­rock und Ro­ko­ko eif­rig be­dient. Der­lei Idyl­len kann Chan­dos nun nicht mehr schrei­ben, und auch sein epi­sches Groß­pro­jekt – in der Art ei­nes Ver­gil, mag man sich vor­stel­len – ist ge­schei­tert. Das ehe­ma­li­ge Ta­lent steht nun al­so mit lee­ren Hän­den da. Chan­dos be­fin­det sich nicht nur in ei­ner Schreib­kri­se, son­dern in ei­ner ra­di­ka­len Sprach­kri­se – um das Zau­ber­wort zu ge­brau­chen, das die Le­ser, Au­toren und Ger­ma­ni­sten und Kri­ti­ker, bis heu­te gern und oft et­was ge­dan­ken­los ver­wen­den. Die In­ter­pre­ta­ti­on ei­nes die­ser be­rufs­be­ding­ten Chan­dos­brief­le­ser will be­son­ders ori­gi­nell sein und läuft dar­auf hin­aus, daß der ge­reif­te Chan­dos künf­tig je­der Ori­gi­na­li­tät ent­sa­ge, das Dich­ten sein las­se und sich sei­nen Land­gü­tern wid­me. Das wä­re nun ei­ne ru­hi­ge, sinn­vol­le, der Ge­sell­schaft dien­li­che Art des Ver­stum­mens, die in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te tat­säch­lich ein an­de­rer Dich­ter voll­zo­gen hat, kein fik­tio­na­ler, son­dern ein hi­sto­ri­scher: Ar­thur Rim­baud.

Die­se Lek­tü­re über­sieht, daß Chan­dos lei­det; der Ton sei­nes Brie­fes deu­tet eher dar­auf hin, daß das Lei­den un­heil­bar ist. Chan­dos ist in ei­ne Kri­se ge­ra­ten, die er nicht, viel­leicht nie mehr, zu lö­sen, der er nicht zu ent­ge­hen ver­mag. Sei­ne Kri­se ist in Wahr­heit ei­ne Ka­ta­stro­phe, ein Zu­sam­men­bruch. Al­ler­dings darf man nicht über­se­hen, wie es eben­falls ei­ni­gen Le­sern un­ter­lau­fen ist, al­len vor­an Her­mann Broch, daß der Chan­dos-Brief kei­nes­wegs nur »ne­ga­tiv« ist. Nein, er ent­hält zahl­rei­che lich­te Au­gen­blicke, Er­leb­nis­se, die of­fen­bar nur des­halb statt­fin­den kön­nen, weil er sich der Ka­ta­stro­phe aus­ge­setzt hat, statt ihr, wie es we­ni­ger ra­di­ka­le Au­toren tun mö­gen, den Rücken zu keh­ren und sprach­li­che, in letz­ter In­stanz al­so: ge­sell­schaft­li­che Kom­pro­mis­se zu schlie­ßen. Broch hat die­se Er­leb­nis­se, in de­nen das wahr­neh­men­de Sub­jekt sich in der um­ge­ben­den Welt der Din­ge auf­zu­lö­sen scheint, als Schritt in den Wahn­sinn be­zeich­net. Auch dar­in kann ich ihm nicht fol­gen. Will man über­haupt so et­was wie ein Auf­ge­ho­ben­sein in der Welt er­fah­ren, hat man sich zu­vor ei­ner Rei­he be­que­mer Si­cher­hei­ten und prag­ma­ti­scher Ori­en­tie­run­gen zu be­ge­ben. Chan­dos tut dies, in­dem er auf Kom­mu­ni­ka­ti­on zu­gun­sten von schwei­gend-spre­chen­der Kom­mu­ni­on ver­zich­tet. Ne­ben­her be­dient er sich wei­ter der gän­gi­gen Sprach­for­men, er ist durch­aus im­stan­de, sei­ne Ge­schäf­te zu er­le­di­gen und so zu tun, als ver­bän­de ihn noch et­was mit der bür­ger­li­chen Welt. Daß er im Brief an Fran­cis Ba­con sei­nen Er­leb­nis­sen in der Be­geg­nung mit klei­nen, un­schein­ba­ren Din­gen sprach­li­chen Aus­druck gibt, ist ein per­for­ma­ti­ves Pa­ra­dox. Chan­dos sagt näm­lich das, was er nicht sa­gen kann.

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Vom 19. Jahr­hun­dert ler­nen

Lafcadio Hearn: Chita
Laf­ca­dio Hearn: Chi­ta
Wie­der­ent­deckt: Laf­ca­dio Hearn

»Un­er­schöpf­lich sind die­se Bü­cher. Wie ich sie auf­blättere, ist es mir bei­na­he un­be­greif­lich, zu den­ken, daß sie wirk­lich un­ter den Deut­schen noch fast un­be­kannt sein sol­len.« Die­se Sät­ze schrieb Hu­go von Hof­manns­thal 1904 nach dem Tod von Laf­ca­dio Hearn, und sie sind mehr als hun­dert Jah­re spä­ter zu wie­der­ho­len. Der un­greif­ba­re, no­ma­di­sie­ren­de, in un­ter­schied­li­chen Gen­res tä­ti­ge Au­tor: daß sich an sei­ner Si­tua­ti­on post­hum et­was Ent­schei­den­des än­dern wird, ist zu hof­fen, wenn­gleich man es be­zwei­feln mag. Der Über­set­zer Alex­an­der Pech­mann tut das Sei­ne da­zu, in ei­ner her­vor­ra­gen­den Ar­beit von Prä­sen­ta­ti­on, Ein­füh­lung und Wie­der­ga­be. Im Nach­wort zu sei­ner Aus­ga­be des Ro­mans Chi­ta. Ei­ne Er­in­ne­rung an Last Is­land si­tu­iert er Hearn li­te­r­ar­hi­sto­risch zwi­schen Ro­bert Cra­ne, R. L. Ste­ven­son und Jo­seph Con­rad.

Ein an­gel­säch­si­scher Au­tor, ge­wiß. Viel­leicht ame­ri­ka­nisch. In­ter­kul­tu­rell und mehr­sprachig wie Con­rad. Neu­gie­rig auf Aben­teu­er wie Ste­ven­son. In Grie­chen­land ge­bo­ren, in Frank­reich zur Schu­le ge­gan­gen, nach Ir­land und in die USA ge­schickt, da­mit ihn die Fa­mi­lie los­wird. Von Cin­cin­na­ti nach New Or­leans ge­flüch­tet (oder wie­der ver­trie­ben). Dann Mar­ti­ni­que, dann Ja­pan, da­mals ein fast ganz un­be­kann­tes Land – Hearn trug viel da­zu bei, es jen­seits ei­nes ge­fäl­li­gen Exo­tis­mus be­kannt zu ma­chen. Die letz­ten 14 Jah­re bis zu sei­nem Tod. Hear­ns’ Werk ist he­te­ro­gen, es zeugt von ei­nem müh­sa­men Lebens­kampf, auch wenn die Mü­hen in den Tex­ten durch­aus nicht im­mer durch­klin­gen. Chi­ta zum Bei­spiel ist ein sorg­fäl­tig ge­wirk­ter Ro­man mit zahl­lo­sen Na­tur­be­schrei­bun­gen, die eben­so wie die lang­sa­me, dann doch wie­der be­schleu­nig­te Er­zähl­be­we­gung an Adal­bert Stif­ter er­in­nern. Er­zäh­lung ei­ner Ge­gend, der In­seln und Ba­yous und Sümp­fe in Loui­sia­na, am Golf von Me­xi­ko; aber auch ei­nes ver­wai­sten Mäd­chens und sei­ner Pfle­ge­el­tern.

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Die Grau­sam­keit der Ver­nunft

Karl Gutz­kow: Wal­ly, die Zweif­le­rin Je­sus war ein »Schwär­mer«, der ei­ne »ver­un­glück­te Re­vo­lu­ti­on« an­zet­tel­te. Sich als Mes­si­as zu be­zeich­nen, war ei­ne »drei­ste Be­haup­tung«. Die Je­sus-Ge­­schich­ten in der Bi­bel sind »Mär­chen«, die nur von Och­sen und Eseln – wie im Stall von Beth­le­hem – ge­glaubt wür­den... Wer heu­te sol­che Sät­ze über den Pro­phe­ten Mo­ham­med und den ...

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