Wenn Russland gewinnt geht inzwischen in die 5. Auflage und ist, als dieser Text entsteht, Platz 1 der Spiegel-Beststellerliste »Taschenbücher Sachbuch« und vom Verlag nicht lieferbar. Das liegt natürlich vor allem an der Prominenz seines Autors, Carlo Masala. Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in den Medien omnipräsent. Es ist unbestreitbar Masalas Verdienst, dass er die Notwendigkeit geopolitischen Denkens als existentiell wichtigen Teil einer Außenpolitik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat. Sein 2022 überarbeitetes Buch Weltunordnung zeigte die Verwerfungen und Irrtümer des »Westens« der letzten dreißig Jahre auf. Deutschland wurde daran erinnert, sich seiner eigenen Interessen bewusst zu werden.
Masala befürwortete von Beginn an finanzielle Unterstützung, politische Westbindung und umfassende Waffenlieferungen für die Ukraine. Das Land sollte derart unterstützt werden, das für Russland die Kosten für eine Weiterführung des Krieges zu hoch und dadurch Verhandlungen auf Augenhöhe möglich wären. Den Einsatz von Atomwaffen durch Russland schätzte er eher gering ein. Im Gegensatz zu vielen Auguren und Experten sprach er allerdings meines Wissens nie von einem »Sieg« der Ukraine über Russland – wohl wissend, dass dies illusorisch wäre.
Parallel plädiert Masala für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr und sah im »Zeitenwende«-Sondervermögen erst einen Anfang. Hier kam einem der Vergleich mit dem später recht kontrovers diskutierten Christian Drosten während der Corona-Pandemie in den Sinn (Masala lehnte den Vergleich ab). In den sozialen Netzwerken zeigte sich Masala bisweilen als Hitzkopf (was auch der Autor dieser Zeilen miterleben durfte).
Fast zweieinhalb Jahre beobachtete der Journalist Christian Schweppe das, was man »Zeitenwende« nannte: Die Reaktionen der deutschen Regierung auf den Überfall Russlands auf die Ukraine. Schweppe weiß, dass es vom Kanzlerstuhl der Regierungsbank zum Rednerpult sieben Schritte sind. Am 27. Februar 2022 rief Bundeskanzler Olaf Scholz eine »Zeitenwende« aus. Später erfährt man von Schweppe, dass Scholz sich mit dem Begriff der Zeitenwende selbst plagiiert hatte; er verwendete ihn bereits 2017 in einem Buch, freilich ohne Verbindung mit militärischen Fragen. An jenem Februar 2022 kündigte er eine Instandsetzung der längst marode gewordenen Bundeswehr mittels einer als Sondervermögen deklarierten Verschuldung von 100 Milliarden Euro an und versprach, zukünftig 2% des BIP für die Bundeswehr auszugeben. Die Ukraine sollte mit Waffen unterstützt werden, um sich gegen den russischen Aggressor zu wehren. Mit dieser Rede und den ersten Schritte danach brach man mit mehreren Tabus der Bundesrepublik, die spätestens seit der Vereinigung 1990 in einen geopolitischen Dämmerschlaf verfallen war. Viele Medien waren beeindruckt, einige andere zeigten sich pflichtschuldig schockiert, sahen den aggressiven Deutschen wieder aufleben.
Zeiten ohne Wende heißt das Buch von Schweppe über diese Zeit, das Anfang Oktober erschienen ist. Ein Wortspiel. Der Untertitel nimmt das im Frühjahr bei Drucklegung sich abzeichnende Resultat bereits vorweg: »Anatomie eines Scheiterns«. Man liest die 350 Seiten trotzdem, in einem Rutsch, in einer Mischung aus Faszination und Widerwillen.
Schweppe schreibt eine Langzeitreportage, Stil und Ambition erinnern an Stephan Lamby. Immer wieder werden einige ausgesuchte Protagonisten besucht. Besonders häufig spricht er mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann (»Flak-Zimmermann«), jener FDP-Frau, die in hibbeliger Ungeduld und mit energischem medialen Auftreten den bei Waffenlieferungen für die Ukraine chronisch stockenden und zögernden Scholz mehrmals herausforderte. Er begleitet Daniel Andrä, zu Beginn 43, Oberstleutnant, zunächst Kommandant eines internationalen Gefechtsverbands in Litauen. Man lernt Matthias Lehna kennen, Mitte 30, einen ehemaligen Gebirgsjäger, der in Mali war. Beide werden am Ende über die Bundeswehr und den Umgang in ihr und mit ihr desillusioniert sein.
Schweppe zeichnet Portraits von Alfred Mais, Deutschlands oberstem Heeresgeneral und Ingo Gerhartz, dem »Chef« der Luftwaffe – beide könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber auch Armin Papperger, der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall, wird beäugt. Er schaut dem Haushälter Tobias Waldhüter über die Schulter (dabei bekommt man interessante Einblicke in die sogenannte »Nacht der langen Messer«, in der »der finale Haushalt für das neue Jahr ausgedealt« wird), begleitet den Nachrücker Nils Gründer, der »in der FDP-Arbeitsgruppe Verteidigung« arbeitet, zitiert den ehemaligen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels und erlebt die amtierende Wehrbeauftragte Eva Högl, die zwar alles zu wissen scheint, was die Mangellage der Bundeswehr angeht, aber irgendwie wirkungslos bleibt.
Manche Treffen wirken wie pflichtschuldige Protokolle, weil sie keinerlei Erkenntnisgewinn liefern. Etwa bei Agnieszka Brugger, die überzeugt ist, dass die Bundeswehr im »Ernstfall« besser funktionieren würde, als manche Schlagzeile vermuten lasse. Dass es nicht »Ernstfall« heißt, wissen beide anscheinend nicht, was ein bisschen peinlich ist, wenn man sich gleichzeitig darüber amüsiert, dass Verteidigungsministerin wie Bundeskanzler von »Luftabwehr« (statt Flugabwehr oder Luftverteidigung) sprechen. Er scheint auch Brugger zuzustimmen, die meint, dass die »Zeitenwende« zu sehr von Männern dominiert würde. Eine merkwürdige Feststellung, schließlich ist zu diesem Zeitpunkt Christine Lambrecht Verteidigungsministerin, Eva Högl Wehrbeauftragte, Annalena Baerbock ist omnipräsent und sieht sich auch schon einmal mit Russland im Krieg und Strack-Zimmermann beherrscht die innenpolitischen Schlagzeilen.
Es ist ein gängiges Muster: Kurz vor wichtigen Wahlen wird »der Osten« politisch wieder entdeckt. Diesmal sind es drei Landtagswahlen – Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Entwicklungen, die sich über Jahre angekündigt haben, werden plötzlich von allen Seiten im Katastrophenmodus kommentiert. Hinzu kommt, dass mit der sektenartigen Neupartei um Sahra Wagenknecht ein zusätzlicher, nicht kalkulierter Faktor aufgetaucht ist. Dachte man anfangs noch, dass hierdurch die AfD geschwächt würde, so muss man jetzt zur Kenntnis nehmen, dass sich vor allem Nichtwähler und Linke-Anhänger angesprochen fühlen. In Thüringen sagen aktuelle Umfragen voraus, dass AfD und BSW die Mehrheit der Sitze im Landtag erringen könnten.
Letzteres war bei Erscheinen von Steffen Maus Ungleich vereint in dieser Form noch nicht absehbar. Im Gegensatz zu vielen zum Teil hyperventilierenden Wortmeldungen und Wählerbeschimpfungen ist es allerdings zunächst eine Wohltat, dieses Buch zu lesen, auch wenn man in einigen Punkten nicht übereinstimmt. Mau möchte »küchenpsychologische Erklärungen vermeiden« und stellt klar: »Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.« Seine These geht dahin, dass es in Ostdeutschland unabhängig lokaler Prägungen »eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Formen« (Hervorhebung Steffen Mau) gibt. Er spricht sogar von einer »Einheitlichkeitsfiktion«. Mau setzt bewusst eine »Ost-West-Brille« auf, um »klarer zu sehen, wie Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt.«
Mau weist auf die Kränkungen zu Beginn der 1990er Jahre hin, als »die Bundesrepublik und ihr Spitzenpersonal die Rolle der Konkursverwalter« übernommen hatten und die Ostdeutschen zu »bedürftigen Empfänger[n] von Hilfe und Zuwendung« mit »nur noch begrenzte[r] Entscheidungsmacht« wurden. Ausgiebig werden diese Brüche und Verwerfungen herangezogen, die, so die These, in (Teilen) der Bevölkerung heute noch nachleben. Dabei wird klargestellt, dass dies »weder allein der DDR noch dem Einigungs- und Transformationsprozess zuzuschreiben« ist, sondern sich »aus beiden Phasen und der Verknüpfung ihrer Folgen« ergibt. Es werden Zahlen präsentiert, die Rückstände und Differenzen zu Westdeutschland aufzeigen, wie etwa Geburtenrate, Unternehmensstrukturen (es gibt kaum Großunternehmen im Osten), Tarifbindung, Organisationsgrad in politischen Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen oder auch Anteil migrantischer Bevölkerung. Ob die Tatsache, dass sich unternehmerische Selbstständigkeit in Ostdeutschland »auf den gewerblichen Bereich recht kleiner Betriebseinheiten« konzentriert, eine Schwäche darstellt, müsste man allerdings erst einmal belegen und sich gleichzeitig fragen, warum die »Alleinunternehmer« dort als »oft prekär« quantifiziert werden.
Zu Beginn seines Buches mit dem vielsagenden Titel Unter Beobachtung stellt der deutsche Politikwissenschaftler Philip Manow eine scheinbar einfache Frage: »Hat es eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie gegeben?« Denn man hört im politischen Diskurs immer häufiger, das die »liberale Demokratie« in Gefahr sei. Diese gehe, so Manow listig, inzwischen anscheinend »besonders oft von Wahlen aus, dem Prozess, der am engsten mit dem demokratischen System verbunden wird.« Vor allem, so möchte man ergänzen, wenn das (antizipierte) Resultat droht, das »falsche« zu sein. Verschiedentlich wird schon von der »Tyrannei der Mehrheit« gesprochen. Manow durchschaut diese Erregungen und fragt »wessen Demokratie eigentlich genau verteidigt wird, wenn ‘die’ Demokratie verteidigt wird.« Doch dazu später.
Festzustehen scheint: Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Grundrechte und freie Wahlen (»elektorale Demokratie«) greifen in ihrer »Einfachheit und Statik« nicht mehr als alleinige Kriterien einer demokratischen Verfasstheit. Die Zuschreibung »liberal« speist sich aus einem »ganzen Kranz an Werten«, wie sie beispielsweise im »Global State of Democracy«-Index oder, relevanter, dem »Liberal-Democracy-Index« des »Varieties-of-Democracy«-Projekts der EU definiert sind. Letzterer wird in einem Appendix am Ende des Buches vom Autor untersucht und als ungeeignet verworfen, »sowohl um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise der Demokratie, gerade wenn sie sich […] als Konflikt zwischen Exekutive und (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit manifestiert, als auch um ihre Ursache zu verstehen.« Am Rande wird süffisant gefragt, warum die EU sich selber »nicht auf seinem Liberal-Democracy- oder einem Electoral-democracy-Index« bewertet habe. Und Dahrendorfs Bonmot, dass, wenn die die EU um Mitgliedschaft in der EU nachsuchte, diese »wegen ihres Mangels an demokratischer Ordnung abgewiesen« würde, findet sich immerhin in den Anmerkungen. Manows Skepsis an der demokratischen Verfasstheit der EU und deren Gründungsmythen, wird noch eine Rolle spielen.
Was ist also »liberale Demokratie«? Hilfsweise wird sie »in der Verbindung aus Parteienwettbewerb, Meinungsfreiheit, Wohlfahrtsstaatlichkeit und LGBTQ+-Rechten […] oder in Verbindung von freien Wahlen und Klimaschutz« definiert. Sie wird schließlich als »End- oder Kompromissprodukt zweier Strömungen verstanden, des Liberalismus einerseits: also Beschränkung von Herrschaft durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, subjektive Rechte […] und des Mehrheitsprinzips und der Volkssouveränität andererseits. […] Oder noch eine Abstraktionsstufe höher, nicht als Idee oder Ideologie, sondern als Wert: Freiheit vs. Gleichheit. Liberale Demokratie ist dann die Verbindung aus oder der Kompromiss zwischen beidem.«
Stephan Lamby: Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges
Stephan Lamby ist seit einer gefühlten Ewigkeit der Chronist bundesdeutscher Innenpolitik. Man erinnert sich noch an sein fast legendäres Interview mit Helmut Kohl und die zahlreichen, zeitgeschichtlich bedeutenden und mehrfach prämierten Dokumentationen insbesondere in der endlos erscheinenden Merkel-Ära, die in schöner Regelmässigkeit und zeitnah in der ARD zu sehen waren. Immer wieder zeigt er Menschen, die politische Macht auf Zeit haben, bei ihren Versuchen, im Widerstreit zwischen Freund und Gegner, Medien und Öffentlichkeit für ihre Ideale zu agieren und dabei nicht selten gehetzt und getrieben erscheinen (manchmal kommentieren zusätzlich Journalisten). Zum fast geflügelten Wort wurde der Titel seines Films über die »nervöse Republik«. Die politischen Protagonisten erlaubten ihm Einblicke, die anderen verborgen bleiben. Im Gegensatz zu anderen Filmemachern, die sich wuchtig inszenieren, ist Lamby ein Politikflüsterer; in seiner zurückhaltenden, manchmal fast antichambrierenden, dabei jedoch nie unterwürfigen Art gelingen bisweilen bemerkenswerte Einsichten.
Dabei formuliert Lamby mit seiner sanft-einnehmenden Stimme durchaus Hypothesen. Noch häufiger als in einem Film sind solche unterschwelligen Bewertungen in Büchern spürbar. Und damit kommt man auf Stephan Lambys neuestes Buch Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges. Der Untertitel lautet ein bisschen amerikanesk »Ein Report aus dem Inneren der Macht«. Damit wird eine gewisse Erwartung geschürt. Und Lamby lässt sich nicht lumpen.
Auf fast 400 Seiten wird das Wirken und Handeln der neuen Bundesregierung vom Dezember 2021 bis zum 13. Juli 2023 (NATO-Gipfel in Vilnius) beschrieben. Dabei stehen zwei Themen im Vordergrund, die sich teilweise gezwungenermaßen überlagern. Zum einen die Invasion Russlands in die Ukraine vom 24.2.22, die sich rasant verändernden Parameter der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und die Auswirkungen auf die Energieversorgung eines der größten Industrienationen der Welt. Und zum anderen die Bemühungen um eine ökologische Transformation des Landes im Angesicht des bedrohlichen Klimawandels.
Alle anderen Themen, wie etwa der frühe Rücktritt von Anne Spiegel, die sehr umstrittene Wahlrechtreform oder, noch einschneidender für die Bevölkerung, die »Abwicklung« der Covid-Pandemie nebst dem Debakel, eine Impfpflicht zu implementieren, werden ausgeblendet. Fast ein bisschen pflichtschuldig wirkt eine Erwähnung mit und über Karl Lauterbach, der in Anbetracht des Kriegs in der Ukraine plötzlich kaum noch in den Schlagzeilen steht. Dabei war gerade das Thema Impfpflicht eine höchst kontroverse Angelegenheit; quer durch alle Fraktionen.
Natürlich muss Lamby Prioritäten setzen. »Zeitenwende« und ökologische Transformation sind die Themen, die Deutschland noch lange beschäftigen werden. Wer im Februar 2022 auf eine einsame Insel ohne Medienzugänge verschlagen wurde und heute, anderthalb Jahre später zurückgekommen ist, kann mit diesem Buch seine Informationsdefizite rasch und, was diese Themen angeht, umfassend auffüllen. Weitgehend wird chronologisch, zeitweise tagebuchartig erzählt. Nur ab und zu gibt es Zusammenfassungen. Dabei vermeidet Stephan Lamby dankenswerterweise weitgehend die mittlerweile grassierende Reporterunsitte, seine Beobachtungen als Literatur zu verkleiden.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 steht die deutsche Politik unter Schock. Begleitet wird er mit dem Begriff der »Zeitenwende«, der wenige Tage nach dem Kriegsbeginn von Bundeskanzler Scholz als Pflaster verschrieben und inzwischen bis zur Unkenntlichkeit strapaziert wurde. Deutschland liefert der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung, wobei die Sprünge von Helmen ...
Die Publikationsgeschichte des Buchs »Weltunordnung« von Carlo Masala bestätigt indirekt die sich im Titel ausdrückende Feststellung. Die erste Auflage erschien 2016. Zwei Jahre danach eine aktualisierte Version. Und jetzt, 2022, nach der Invasion der Ukraine durch Russland, erscheint eine dritte, abermals aktualisierte und um ein Kapitel ergänzte Auflage. So werden Befunde des Autors belegt und noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehaltene Entwicklungen werden plötzlich Realität.
Carlo Masala, 1968 geboren, ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er durch die militärische und geopolitische Kommentierung des Kriegs Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 bekannt. Sein Idealismus dem argumentativen Austausch gegenüber ist so groß, dass er sich bisweilen sogar ins Dilettantengetümmel der Polittalkshows stürzt. Wer sich dies ersparen möchte, kann immerhin noch dieses Buch lesen. Und es lohnt sich.
Die Arbeitshypothese ist schnell formuliert: Die Zeitenwende 1989/90 mit dem Zusammenbruch des bipolaren Systems (USA vs UdSSR bzw. NATO vs Warschauer Pakt) hat nach einem kurzzeitigen Honeymoon (»Ende der Geschichte«) zu einer veritablen weltpolitischen Unordnung geführt. Aber, so stellt Masala kühl fest: »Die Versuche der ‘westlichen’ Welt […] eine neue globale Ordnung zu schaffen, haben in einem nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen, dass wir heute in einer Welt der Unordnung leben.« (»Westlich« wird hier natürlich nicht als geografische sondern als gesellschaftlich-kulturelle Zuordnung verstanden.) Daneben gibt es mit dem internationalen Terrorismus, Migrationsströmen, Cyberangriffen und Pandemien weitere Herausforderungen, die zur Destabilisierung führen.
In den 2000er Jahren wurde die »unilaterale Wende« der amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik durch eine seltsame Allianz aus Neokonservativen und liberalen Demokraten noch verstärkt. Die USA sahen »den Einsatz militärischer Machtmittel als legitimes Instrument […] um ihre globalen Phantasien zu realisieren«. Dabei sind alle Missionierungsversuche, die bisweilen unter dem Euphemismus der »humanitären Intervention« geframt wurden und Demokratie und freie Marktwirtschaft universalisieren sowie die » ‘westliche’ Vorherrschaft über den Rest der Welt« festschreiben sollten, gescheitert. Die Liste ist lang, reicht »von Bosnien-Herzegowina über Afghanistan und den Irak bis hin zu Libyen« (und ist damit noch nicht einmal vollständig). Resultat: Zerfallende Staaten oder bestenfalls eingefrorene Konflikte. Auch die gewaltsame Bekämpfung des islamischen Terrorismus ist nur teilweise gelungen.
Masala belegt dies an zahlreichen Beispielen, analysiert die Doppelmoral des Westens, der Demokratie predigt, aber beispielsweise »falsche« Wahlausgänge (wie in Algerien 1991/92 oder der Türkei 1996) sabotiert oder korrupte, aber ihm gewogene Präsidenten an die Macht hievt (wie in der Vergangenheit in Afghanistan). Schließlich verwirft Masala mit dem »Liberalismus« und der Verrechtlichung der Außen- bzw. Weltpolitik zwei Säulen des aktuellen politischen Denkens.
René Pfister ist seit fast zwanzig Jahren in unterschiedlichen Funktionen beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel tätig. 2019 geht er für das Magazin in die USA. Donald Trump war Präsident und der Wahlkampf hatte bereits begonnen. Er kam mit seiner Familie nach Chevy Chase, einem, wie es heißt, liberalen Stadtteil Washingtons. Hier wird die Regenbogenfahne gehisst und man geniert sich für Trump. Aber rasch bekommt dieses paradiesische Bild Risse, etwa wenn ihm jemand erzählt, dass sein Sohn in der Schule Probleme bekommt, weil er nichts dabei findet, dass Weiße Dreadlocks tragen. Pfister erkennt, dass die Fassade von Furcht durchsetzt ist. Es ist die Furcht, etwas Falsches zu denken und zu sagen. Denn sofort droht die soziale Ausgrenzung – und eventuell Schlimmeres.
In den letzten Jahren häufen sich in den so freiheitlich gebenden Vereinigten Staaten die »Fälle«, in denen vermeintlich unbedachte Aussagen zu weitreichenden Folgen führen. Pfister bündelt einige dieser Ereignisse in seinem Buch »Ein Wort zuviel«. Es ist, so der Anspruch, ein »Report« »wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht«.
Die Kapitel des Buches sind Reportagen, die miteinander verknüpft werden. Da wird Ian Buruma besucht, der wegen des Protestes über die Veröffentlichung eines Textes von Jian Ghomeshi, der zu Unrecht sexueller Übergriffe angeklagt war, seinen Chefredakteursposten bei der New York Review of Books aufgab. Der Geophysiker Dorian Abbot schildert seine Ausladung als Redner beim MIT, weil er in einem Text Qualität über »Diversität« stellt. Pfister analysiert die neue »Campus Culture«, bei der Redner beschimpft und gestört werden, wenn man es nicht geschafft hat, sie auszuladen und ihre Beiträge damit zu verunmöglichen.