Neu­es von El­frie­de Je­li­nek

Vor we­ni­gen Wo­chen wur­de die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin und Dra­ma­ti­ke­rin El­frie­de Je­li­nek 76 Jah­re alt. Mit wohl­tu­en­der An­lass­lo­sig­keit kommt nun ein Film der Ber­li­ner Do­ku­men­tar­fil­me­rin Clau­dia Mül­ler mit dem schö­nen Ti­tel »El­frie­de Je­li­nek – Die Spra­che von der Lei­ne las­sen« in die Ki­nos. Mül­ler ist durch ih­re Fern­seh­ar­bei­ten u. a. über Jen­ny Hol­zer, Ka­tha­ri­na Gro­sse und ...

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Ga­brie­le Ried­le: In Dschun­geln. In Wü­sten. Im Krieg.

Gabriele Riedle: In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg.
Ga­brie­le Ried­le: In Dschun­geln.
In Wü­sten. Im Krieg.

In Ni­co­las Borns Ro­man »Die Fäl­schung« von 1979 sitzt der Re­por­ter La­schen, der vom li­ba­ne­si­schen Bür­ger­krieg be­rich­tet, täg­lich zu­sam­men mit an­de­ren Jour­na­li­sten in ei­nem Ho­tel und sor­tiert die je­wei­li­gen Pres­se­mit­tei­lun­gen der Kriegs­par­tei­en. Der Pu­bli­ka­ti­ons­druck zwingt ihn Pro­pa­gan­da­ma­te­ri­al zu le­sen, Fo­tos zu ma­chen, In­ter­views zu füh­ren, un­zu­ver­läs­si­ge Au­gen­zeu­gen zu be­fra­gen. Für Orts­ter­mi­ne au­ßer­halb des Schutz­raums Ho­tel sind die Jour­na­li­sten auf zu­ver­läs­si­ge Über­set­zer und vor al­lem das Good­will der je­wei­li­gen War­lords und de­ren Schutz an­ge­wie­sen. Da­bei weiß La­schen, dass er im­mer droht, von ei­ner Sei­te ver­ein­nahmt zu wer­den und doch ver­sucht er, so et­was wie die Wirk­lich­keit ein­zu­fan­gen.

Jo­r­is Luy­en­di­jk, Ara­bist und Kor­re­spon­dent des nie­der­län­di­schen Fern­se­hens von 1998 bis 2003, be­schrieb 2007 in sei­nem Buch »Wie im ech­ten Le­ben« des­il­lu­sio­niert die Un­mög­lich­keit ei­ner auch nur halb­wegs ob­jek­ti­ven Be­richt­erstat­tung. Der Re­por­ter wür­de zer­rie­ben zwi­schen der Pro­pa­gan­da der un­ter­schied­li­chen Par­tei­en. Von sei­nen Auf­trag­ge­bern blieb im­mer we­ni­ger Raum für die aus­führ­li­che Dar­stel­lung von Kon­flikt­li­ni­en; es galt, die schnel­le, knal­li­ge Schlag­zei­le zu lie­fern. Kom­ple­xe Sach­ver­hal­te wer­den ein­ge­dampft. Die Ent­schei­dung, was ge­sen­det, was wie ge­druckt wird, tref­fen an­de­re.

Wei­te­re Krie­ge und ein paar Di­gi­tal­me­di­en wei­ter las­sen Kriegs- und Kri­sen­be­richt­erstat­ter als die letz­ten Aben­teu­rer der Welt neu auf­fri­schen. Der­weil sich die ein­sti­gen Print­re­por­ter im­mer mehr dar­auf ver­le­gen, ih­re Er­leb­nis­se in ei­nen fik­tio­na­len Text zu trans­for­mie­ren. Sie chan­gie­ren häu­fig zwi­schen Ver­mächt­nis, Hel­den­ge­schich­te, Me­lan­cho­lie oder Re­si­gna­ti­on über die Schlecht­heit der Welt und die Un­be­lehr­bar­keit der Men­schen. Manch­mal schwingt noch das Be­dürf­nis mit, ei­nen Schlüs­sel­ro­man zu schrei­ben, um die Neu­gier des Re­zi­pi­en­ten auf Me­di­en­in­ter­na zu len­ken, so­fern die ent­spre­chen­den Prot­ago­ni­sten be­kannt ge­nug sind.

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He­le­na Ad­ler: Fret­ten

Helena Adler: Fretten
He­le­na Ad­ler: Fret­ten

Vor zwei Jah­ren wur­de He­le­na Ad­ler ei­nem brei­ten Pu­bli­kum mit ih­rem fu­rio­sen De­but »Die In­fan­tin trägt den Schei­tel links« be­kannt. Mit »Fret­ten« liegt nun der zwei­te Ro­man vor, der im Ver­gleich zum Erst­ling noch mehr an der Schrau­be der Ex­pres­si­vi­tät, der Wut aber auch der Zärt­lich­keit dreht, et­was, was man kaum für mög­lich ge­hal­ten hat. Aber ge­mach.

Zu Be­ginn wird die Vo­ka­bel »fret­ten« er­klärt: »sich ab­mü­hen, sich pla­gen […] sich wund rei­ben«. Wie schon in der »In­fan­tin« sind die 21 Ka­pi­tel des neu­en Ro­mans über­schrie­ben mit Ti­teln von Kunst­wer­ken; zu­meist Ge­mäl­den (de­ren An­schau­en zur Lek­tü­re loh­nend ist), aber auch ei­ne Per­for­mance und zwei In­stal­la­tio­nen der Au­torin, die man nur er­ah­nen kann. Auch in­halt­lich könn­te »Fret­ten« ei­ne Fort­schrei­bung des Erst­lings sein; es gibt an­ge­deu­te­te Par­al­le­len zur El­tern- und Groß­el­tern­ge­schich­te, die aber nicht mehr wei­ter aus­ge­führt wer­den. Die »In­fan­tin« en­det mit dem Ab­schied von Kind­heit und Ju­gend; sie leg­te »ih­re Waf­fen nie­der« und still­te ihr Kind. Und die Ich-Er­zäh­le­rin aus »Fret­ten« stellt ab Mit­te des Ro­mans die Ge­burt und die Be­treu­ung ih­res Soh­nes in den Mit­tel­punkt. Dann nimmt das rich­tig Fahrt auf.

Zu­nächst je­doch wird die Kind­heit als »ir­di­sches Pa­ra­dies« er­zählt, ein bu­ko­li­sches Idyll mit ima­gi­nier­ten war­men Dämp­fen; ei­ne »wei­che Welt« im »Blu­men­ver­steck« des ver­wil­der­ten Groß­el­tern­gar­tens mit Blick auf die Ber­ge, die ein »un­end­li­ches Meer« »in­sze­nier­ten«. Je­der Tag »roch nach Aben­teu­er«. Noch war es da, das »Ur­ver­trau­en« und ei­ne strot­zen­de Le­bens­gier er­füll­te sie. Es gab den »Duft un­se­rer Wei­zen­fel­der« (das Olfak­to­ri­sche spielt in die­sem Buch ei­ne wich­ti­ge Rol­le) und die »Abend­son­ne sti­chelt gold­gelb in die Al­pen­sa­van­ne« wäh­rend die Schat­ten ein Bild lie­fer­ten, »als wür­de das Land mit Erd­öl ge­flu­tet.«

Es sind Evo­ka­tio­nen aus den »Gefilde[n] der Se­li­gen« und ich fra­ge mich, wann ich zu­letzt der­art zau­ber­haf­tes ge­le­sen ha­be (das ist lan­ge her). Aber das ist nur die ei­ne Sei­te. Da­ne­ben, gleich­zei­tig, gab es auch das Le­bens in der har­ten, »bru­ta­len Welt« der El­tern, die­se Ka­da­ver- und Ver­we­sungs­ge­rü­che – ei­ne Me­ta­pher für Un­ver­ständ­nis und Bor­niert­heit – und am lieb­sten war die Er­zäh­le­rin mit sich al­lei­ne, beim Zeich­nen von Be­stia­ri­en mit den »Mon­stern der Nacht« und spä­ter wur­de die »Spra­che der Phra­sen­dre­scher« (vul­go: Fa­mi­lie) »zer­häck­selt«.

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Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse
Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Seit­dem Pa­trick Mo­dia­no den No­bel­preis zu­er­kannt wur­de, er­schei­nen sei­ne in schö­nem Rhyth­mus al­le zwei, drei Jah­re neue Ro­ma­ne und nach knapp ei­nem Jahr dann in deut­scher Spra­che im Han­ser-Ver­lag. Über­set­ze­rin ist seit mehr als 25 Jah­ren Eli­sa­beth Edl (mit ei­ner Aus­nah­me). Die­se Kon­ti­nui­tät ist wich­tig; bei ei­nem Au­tor wie Mo­dia­no erst recht.

Denn auch im neue­sten Ro­man Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se (im Ori­gi­nal von 2021 Che­v­reu­se) fin­det der Le­ser zahl­rei­che Ver­wei­se auf an­de­re, teil­wei­se län­ger zu­rück­lie­gen­de Bü­cher von Mo­dia­no. So ist die Haupt­fi­gur wie schon in Der Ho­ri­zont (2010/2013) er­neut der Schrift­stel­ler Jean Bos­mans. Im Che­v­reu­se-Ro­man er­fährt man, dass er einst auf ei­ner Art Flucht in ei­nem Ca­fé in ei­nem ent­le­ge­nen Dorf sei­nen Erst­ling »Das Schwarz des Som­mers« ver­fasst hat­te. Es ist der glei­che Ti­tel des Erst­lings von Jean Dara­ga­ne aus Mo­dia­nos viel­leicht trau­rig­stem Ro­man Da­mit du dich im Vier­tel nicht ver­irrst (Pour que tu ne te per­des pas dans le quar­tier, 2014/2015) – eben­falls in ei­nem klei­nen Ort ge­schrie­ben. Wie in fünf oder sechs an­de­ren Mo­dia­no-Bü­chern spielt die Rue du Doc­teur-Kur­zen­ne ei­ne Rol­le, ge­nau­er: das Haus Nr. 38. Es ist ei­ne Stra­ße, die tat­säch­lich exi­stiert: in Jouy-en-Jo­sas in der Île-de-France, dem Ort, in dem Mo­dia­no ei­nen Groß­teil sei­ner Kind­heit und Ju­gend ver­brach­te. Schließ­lich kommt auch im neu­en Ro­man wie­der ein ge­wis­ser Guy Vin­cent vor. Mo­dia­no zi­tiert so­gar aus ei­nem (si­cher­lich fik­ti­ven) Brief, »ge­gen En­de der neun­zi­ger Jah­re« er­hal­ten, in dem Jean Bos­mans ei­ne Re­cher­che über Guy bzw. Ro­ger Vin­cent von ei­nem Le­ser er­hält.

Die Kunst des Über­set­zens – wie die des Le­sens – be­steht dar­in, der Ver­su­chung zu wi­der­ste­hen, aus die­sen Fähr­ten ei­ne Rei­he, ei­ne über­ge­ord­ne­te Er­zäh­lung, zu re­kon­stru­ie­ren. Tat­säch­lich sind sie für das Ver­ständ­nis des je­wei­li­gen Tex­tes un­wich­tig; was auch für die Ex­ege­se von Mo­dia­nos Werk gel­ten dürf­te. Es sind Na­men von Spiel­fi­gu­ren und ‑sze­nen, die sich wie­der­ho­len, aber eben nie decken. Stets ent­ste­hen in den Ro­ma­nen je an­de­re Dy­na­mi­ken. Jean Bos­mans aus Der Ho­ri­zont hat ei­ne an­de­re Ge­schich­te wie je­ner aus dem Che­v­reu­se-Buch. Die Ma­gie des Hau­ses Nr. 38 ist im­mer an­ders.

Ge­mein­sam ist das My­ste­ri­um der Er­in­ne­rung, wel­ches die je­weils aus per­so­na­ler Sicht er­zähl­ten Fi­gu­ren ir­gend­wann über­fällt und nicht mehr los­lässt. Häu­fig läuft dies auf zwei Ebe­nen ab. Im neue­sten Buch sind die Zeit­mar­ken 50 und 15 Jah­re. Jean Bos­mans re­kon­stru­iert sei­ne Ein­drücke von vor 50 Jah­ren und er­in­nert sich dar­an, als er sich 15 Jah­re zu­rück er­in­ner­te. Der Er­eig­nis­kern liegt so­mit rund 65 Jah­re von der Ge­gen­wart (hier die 2010er Jah­re) ent­fernt. Bos­mans lich­tet sei­ne Er­in­ne­rungs­lücken rund um ein Haus im Stadt­teil Che­v­reu­se (eben auf je­ner er­wähn­ten Stra­ße), in dem er sei­ne Kind­heit ver­bracht hat­te. Fünf­zehn Jah­re spä­ter macht er Be­kannt­schaft mit Ca­mil­le, die, war­um auch im­mer, »To­ten­kopf« ge­nannt wird. Sie wie­der­um bringt ihn mit zwei an­de­ren Fi­gu­ren in Kon­takt, die, so ver­fe­stigt sich der Ein­druck, et­was von Jean wis­sen wol­len. Sie füh­ren ihn zu dem omi­nö­sen Haus, wo­bei Jean sich erst wie­der an sei­nen Auf­ent­halt er­in­nern muss – was ihm müh­sam ge­lingt. Aber in­tui­tiv ver­schweigt er sei­ner Be­kann­ten und den bei­den Män­nern sei­ne Er­in­ne­rung und den ein­sti­gen Auf­ent­halt. Die An­ge­le­gen­heit ent­wickelt sich zu ei­nem Kri­mi­nal­fall (mehr soll nicht ver­ra­ten wer­den), denn die Be­kannt­schaf­ten, die er da­mals mach­te, wa­ren nicht zu­fäl­lig. Mo­dia­no fährt ei­ni­ges Per­so­nal auf – der Le­ser muss auf­pas­sen, weil es fal­sche Fähr­ten gibt. Jean be­gibt sich schließ­lich auf ei­ne Flucht und schreibt sei­nen er­sten Ro­man. 50 Jah­re spä­ter kommt er wie­der auf die Zeit mit »To­ten­kopf« und die selt­sa­men Er­eig­nis­se um die­ses Haus zu­rück; der An­lass bleibt un­klar.

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Jo­han­nes V. Jen­sen: Him­mer­lands­ge­schich­ten

Jo­han­nes Vil­helm Jen­sen wur­de 1873 als Sohn ei­nes Tier­arz­tes in Far­sø im jüt­län­di­schen Him­mer­land, Dä­ne­mark, ge­bo­ren. 1894 be­gann er un­ter dem Pseud­onym Ivar Lykke Span­nungs­ro­ma­ne zu schrei­ben, um sein Me­di­zin­stu­di­um zu fi­nan­zie­ren. Die er­sten Ro­ma­ne un­ter sei­nem ei­ge­nen Na­men be­gann er 1896 (spä­ter woll­te er die­se, wie es heißt, eher un­ge­sche­hen ma­chen). Er gab das ...

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Stef­fen Men­sching: Hau­sers Aus­flug

Steffen Mensching: Hausers Ausflug
Stef­fen Men­sching:
Hau­sers Aus­flug

Nach dem mo­nu­men­ta­len, do­ku-dra­ma­ti­schen Ro­man »Men­schings Au­gen« aus dem Jahr 2018 über den Ge­dächt­nis­künst­ler, Hell­se­her und Psy­cho-Gra­pho­lo­gen Ra­fa­el Scher­mann, der in den 1940er Jah­ren in ei­nem so­wje­ti­schen Gu­lag ge­lan­det war und sein Le­ben ei­nem Ber­li­ner Kom­mu­ni­sten er­zähl­te und, drei Jah­re spä­ter, den leich­ten, welt­zu­ge­wand­ten Ge­dich­ten »In der Bran­dung des Traums«, legt Stef­fen Men­sching mit »Hau­sers Aus­flug« nun ei­ne an­spruchs­vol­le Me­lan­ge aus Sci­ence-Fic­tion-Ro­man und Thril­ler vor.

»Als Da­vid Hau­ser ei­nes Ta­ges er­wach­te, fand er sich in sei­ner AIR­DROP-Kap­sel zum sy­ri­schen Staats­bür­ger Wa­lid Said ver­wan­delt.« So könn­te man – ei­nen be­rühm­ten An­fang Be­ginn die­ses Ro­mans er­zäh­len – was der Au­tor na­tür­lich nicht macht. Die Haupt­fi­gur, Da­vid Hau­ser, 52, seit dem 7. Le­bens­jahr mut­ter­los, lebt nach an­fäng­li­chem Schei­tern als er­folg­rei­cher Un­ter­neh­mer in Ber­lin. Man schreibt das Jahr 2029 und Hau­sers Fir­ma hat ei­ne ef­fek­ti­ve und si­che­re Kap­sel ent­wickelt, die ab­ge­lehn­te Asyl­be­wer­ber wie­der in ih­re Hei­mat­län­der ver­bringt – per Ab­wurf aus ei­nem Flug­zeug aus 2000 m Hö­he. 10.000 Eu­ro pro Per­son ko­stet dem Auf­trag­ge­ber (es sind in der Re­gel Staa­ten) die­ser »Trans­port«, in­klu­si­ve Kap­sel. Hau­ser ge­hö­ren auch die Flug­zeu­ge, die er in der letz­ten gro­ßen Pan­de­mie (2024/25) von fi­nan­zi­ell not­lei­den­den Flug­ge­sell­schaf­ten auf­ge­kauft hat­te. Sei­ne Flot­te be­steht in­zwi­schen aus über 40 Ma­schi­nen; min­de­stens zwei Ma­schi­nen pro Tag star­ten von Par­chim bei Mün­chen mit »Re­pa­tri­ie­run­gen«. Es gab na­tür­lich »nicht we­ni­ge Men­schen, die ihn ver­ach­te­ten«, aber Hau­ser stört dies we­nig, zu­mal er sich zu­recht­leg­te, dass vie­le Flücht­lin­ge man­gels Per­spek­ti­ve in Eu­ro­pa wie­der zu­rück woll­ten, die Hei­mat­län­der je­doch ei­ne Ein­rei­se ver­wei­ger­ten.

Plötz­lich sitzt er al­so sel­ber in ei­ner sol­chen Kap­sel; er­in­ne­rungs­los, wie dies pas­sie­ren konn­te. Nicht nur sei­ne Pa­tek-Phil­ip­pe-Uhr war ver­schwun­den. Er steck­te zu­dem in an­de­rer, ihm un­be­kann­ter, »säu­er­lich« rie­chen­der, Klei­dung; le­dig­lich der schwar­ze Slip von Cal­vin Klein war ihm ge­blie­ben. Das Lu­xus-Smart­phone war zu Gun­sten ei­nes äl­te­ren Ge­rä­tes aus­ge­tauscht wor­den (Sta­tus: »Low bat­tery«). Der sy­ri­sche Pass, den man ihm mit­ge­ge­ben hat­te, trug sein Fo­to und sein Ge­burts­da­tum; aus­ge­stellt auf den Na­men Waid Said. Hau­ser be­kam den Auf­prall mit und fin­det sich in ei­ner »Mond­land­schaft oh­ne mensch­li­che Spu­ren« wie­der. Im­mer­hin, das »Not­fall­pa­ket«, wel­ches je­der Kap­sel mit­ge­ge­ben wird, ist vor­han­den: 10 Mul­ti­vit­amin­rie­gel, zwei Was­ser­fla­schen, Schmerz­ta­blet­ten, Son­nen­bril­le, Hand­schu­he. In der Klei­dung ei­ne Schach­tel Zi­ga­ret­ten (Hau­ser war Nicht­rau­cher ge­wor­den), ein Feu­er­zeug, Zahn­sei­de und zwei S‑­Bahn-Fahr­kar­ten aus Ber­lin.

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Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin
Saya­ka Mu­ra­ta:
Die La­den­hü­te­rin

Über den Ro­man »Die La­den­hü­te­rin« von Saya­ka Mu­ra­ta

Mit ei­ni­ger Ver­spä­tung – aber wenn es um Li­te­ra­tur geht, ist es be­kannt­lich nie zu spät – ha­be ich Die La­den­hü­te­rin von Saya­ka Mu­ra­ta ge­le­sen. Das Buch ist in Ja­pan 2016 er­schie­nen, Ur­su­la Grä­fes deut­sche Über­set­zung 2018; ich ha­be den klei­nen Ro­man in der 5. Auf­la­ge der Ta­schen­buch­aus­ga­be von 2021 ge­le­sen. Der zeit­li­che Ab­stand zur Erst­pu­bli­ka­ti­on und den Re­ak­tio­nen dar­auf gibt dem Ver­lag die Mög­lich­keit, über den Er­folg zu ju­beln und da­mit Wer­bung zu trei­ben (was ihm durch­aus nicht zu ver­den­ken ist): »Be­ein­druckend leicht und ele­gant«, das Buch ha­be die deut­schen Le­se­rin­nen und Le­ser »im Sturm er­obert« – ob­wohl es gar nicht stür­misch, son­dern so sym­pa­thisch zu­rück­hal­tend wie die Ich-Er­zäh­le­rin und Haupt­fi­gur ist. Aber sei’s drum, wenn Li­te­ra­tur die Men­schen er­obert, soll’s mir recht sein.

Der Ti­tel des Ori­gi­nals ist üb­ri­gens, wört­lich über­setzt, »Kon­bi­ni-Men­schen«, wo­bei im Ja­pa­ni­schen oh­ne Kon­text zu­nächst nicht zu ent­schei­den ist, ob Sin­gu­lar oder Plu­ral, es könn­ten auch Kon­bi­ni-Men­schen sein, ein gan­zer Men­schen­schlag, zu dem ich mich dann auch zäh­len wür­de, weil ich wie fast al­le in Ja­pan Le­ben­den häu­fig ei­nes der zahl­lo­sen Kon­bi­nis – con­ve­ni­ence stores – auf­su­che. Ur­su­la Grä­fe hat den Ti­tel nicht kon­ge­ni­al, son­dern in­ge­ni­ös über­setzt: Die La­den­hü­te­rin, und sie hat das Wort so­gar ein- oder zwei­mal in sei­ner zwei­ten Be­deu­tung in den Text ein­ge­streut: Die Ver­käu­fe­rin im Kon­bi­ni ist ei­ne un­ver­hei­ra­te­te Mitt-Drei­ßi­ge­rin, die an­schei­nend nie­mand hei­ra­ten will und die selbst auch nie auf die Idee ge­kom­men ist, sich dem an­de­ren Ge­schlecht se­xu­ell an­zu­nä­hern. Die Ich-Er­zäh­le­rin, Kei­ko Fu­ru­ku­ra, be­müht sich nach Kräf­ten, nor­mal zu sein, das heißt so wie al­le an­de­ren zu sein, aber sie schafft es nicht, schafft es al­len­falls am Rand der Nor­ma­li­tät als un­ver­hei­ra­te­ter free­ter, der schlecht be­zahl­te Teil­zeit­ar­beit ver­rich­tet und in ei­ner win­zi­gen Woh­nung haust. Zieht man da­zu auch die kurz re­ka­pi­tu­lier­te Vor­ge­schich­te die­ser Frau in Be­tracht, Au­ßen­sei­te­rin seit der Grund­schu­le, fällt die Nä­he zu ei­ner an­de­ren Sym­bol­fi­gur der heu­ti­gen ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft auf, dem hi­ki­ko­m­ori, der sich in sei­nem Zim­mer ver­bar­ri­ka­diert und zur Welt kaum noch Be­zie­hun­gen un­ter­hält.1

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  1. Die österreichisch-tschechisch-japanische Autorin Milena Michiko Flašar hat dieses Thema in ihrem Roman Ich nannte ihn Krawatte aufgegriffen. 

Karl Ove Knaus­gård: Der Mor­gen­stern

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern
Karl Ove Knaus­gård:
Der Mor­gen­stern

Es sind zwei Ta­ge En­de Au­gust 2023, in Ber­gen, Nor­we­gen. Neun Per­so­nen stellt Karl Ove Knaus­gård in sei­nem 2020 in Nor­we­gen er­schie­ne­nen Ro­man »Der Mor­gen­stern« vor (deutsch – wie fast im­mer – von Paul Berf). Da ist Ar­ne, der Li­te­ra­tur­pro­fes­sor aus Os­lo mit sei­ner psy­chisch la­bi­len Frau To­ve und den ge­mein­sa­men drei Kin­dern; Ar­nes Freund Egil, ein ge­schei­ter­ter Künst­ler und Do­ku­men­tar­fil­mer, ali­men­tiert von sei­nem rei­chen Va­ter, das be­rühm­te schwar­ze Schaf in der Fa­mi­lie; die Pfar­re­rin Kath­ri­ne, die aus ih­rem ei­gent­lich glück­li­chen Fa­mi­li­en­le­ben war­umauch­im­mer aus­bre­chen möch­te; Jo­stein, der ins Kul­tur­res­sort ver­bann­te not­gei­le Kri­mi­nal­jour­na­list und sei­ne Frau Turid, die Nacht­schich­ten in ei­ner psych­ia­tri­schen An­stalt schiebt und Solv­eig, ei­ne Sta­ti­ons­schwe­ster, die mit ih­ren Pa­ti­en­ten mit­lei­det. Bei al­len un­ter­schied­li­chen Tem­pe­ra­men­ten ge­hö­ren sie der Ge­ne­ra­ti­on En­de 30/Anfang 40 an. Ih­nen wer­den mit Emil, der in ei­nem Kin­der­gar­ten ar­bei­tet und ein Miss­ge­schick ver­schweigt, die mit gro­ßem Ge­sangs­ta­lent aus­ge­stat­te­te Su­per­markt­kas­sie­re­rin Ise­lin und Vi­be­ke, die mit ei­nem 27 Jah­re äl­te­ren Ar­chi­tek­ten ver­hei­ra­tet ist und vom na­he­zu gleich­alt­ri­gen Stief­sohn se­xu­ell be­lä­stigt wird, drei jün­ge­re Fi­gu­ren zur Sei­te ge­stellt. Al­le Fi­gu­ren sind in ih­ren je­wei­li­gen Ka­pi­teln Ich-Er­zäh­ler. Ei­ni­ge er­zäh­len mehr­mals – drei Mal: Ar­ne, Kath­ri­ne, Jo­stein und Turid; Ise­lin und Solv­eig zwei Mal.

Al­le ver­su­chen im Rah­men ih­rer Mög­lich­kei­ten zu­recht zu kom­men, ha­ben, wie man ins­be­son­de­re von Jo­stein und Egil aber auch der jun­gen Ise­lin er­fährt, auch ei­ni­ge Rück­schlä­ge zu ver­kraf­ten. Aber die bei­den Ta­ge än­dern ih­rer al­ler Le­ben und das hat auch (oder vor al­lem?) mit der neu­en Su­per­no­va zu tun, die sich am Him­mel zeigt, ein glei­ßen­der, wun­der­schö­ner Stern, den man »Mor­gen­stern« nennt, der aber, trotz sei­ner Ein­zig­ar­tig­keit und Wucht zu­nächst den All­tag nicht be­son­ders be­rührt.

Gra­vie­ren­der sind da die sich häu­fen­den merk­wür­di­gen Er­eig­nis­se, die über die Prot­ago­ni­sten zei­chen- und bis­wei­len fluch­haft ein­bre­chen. Ar­ne er­lebt plötz­lich ei­ne Au­to­stra­ße über­sät mit le­ben­di­gen Kreb­sen. Kath­ri­ne muss nach ei­ner Rück­kehr von ei­nem Kon­gress ei­nen Mann be­er­di­gen, mit dem sie am Tag zu­vor noch im Flug­zeug ge­spro­chen hat­te – und der ihr spä­ter, nach der Be­er­di­gung, wie­der be­geg­net. Vö­gel neh­men Men­schen­ge­sich­ter an, Hir­sche neh­men Dis­ney-Po­sen an, Ma­ri­en­kä­fer über­schwem­men ei­nen Gar­ten, Vö­gel sam­meln sich à la Hitch­cock (aber sie grei­fen nicht an) und von ei­ner vier­köp­fi­gen Ju­gend­band, die mit Na­zi-Sym­bo­len agiert, wer­den drei Mit­glie­der schreck­lich er­mor­det auf­ge­fun­den. Ar­nes Frau köpft ei­ne Kat­ze, um die­sen be­son­ders ge­nau zeich­nen zu kön­nen. Es gibt Er­schei­nun­gen von rie­sen­haf­ten nicht-mensch­li­chen aber auch nicht-tie­ri­schen Ge­stal­ten und Men­schen, die im­mer ver­stimmt wa­ren, sind plötz­lich fröh­lich, an­de­re tau­chen voll­stän­dig in psy­chi­sche De­for­ma­tio­nen ab, wie­der an­de­re ver­schwin­den phy­sisch. Und es gibt den Fall ei­nes kli­nisch to­ten Pa­ti­en­ten, der ur­plötz­lich wie­der zum Le­ben er­wacht, als man schon da­bei ist, ihn auf­zu­sä­gen und sei­ne Or­ga­ne zu ent­neh­men.

Ei­ner­seits schil­dert Knaus­gård die all­täg­li­chen Ver­rich­tun­gen sei­ner Fi­gu­ren mit der ihm ei­ge­nen Hin­ga­be und De­tail­freu­de, an­de­rer­seits rat­tert ein Sus­pen­se-Mo­tor ir­gend­wo zwi­schen Sci­ence Fic­tion, Um­ber­to Eco und Da­vid Lynch. Wo­bei der Le­ser zu­nächst ge­neigt ist, die Ur­tei­le der Prot­ago­ni­sten mit de­nen sie die Merk­wür­dig­kei­ten kom­men­tie­ren, zu über­neh­men: Ent­we­der es sind Halb­schlaf­bil­d­er, Hal­lu­zi­na­tio­nen oder Aus- bzw. Nach­wir­kun­gen des von ei­ni­gen ex­zes­siv be­trie­be­nen Al­ko­hol­kon­sums. Ein­zig der Mor­gen­stern, des­sen Er­schei­nen al­len zu­gän­gig ist und der dann auch in den Nach­rich­ten the­ma­ti­siert wird, scheint ei­ne fest­ste­hen­de Rea­li­tät zu sein.

Wei­ter­le­sen ...