Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wo­chen mit Tho­mas
Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos

Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos
Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wo­chen mit Tho­mas Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos

Am 27. No­vem­ber 1988, drei Wo­chen nach der skan­dalum­to­sten Pre­mie­re von Hel­den­platz am Wie­ner Burg­thea­ter (in­sze­niert vom un­längst ver­stor­be­nen Claus Pey­mann), flog Su­san­ne Kuhn, ge­bo­re­ne Fab­jan, mit ih­rem Halb­bru­der Tho­mas Bern­hard nach Tor­re­mo­li­nos. Von da aus ging es mit dem Ta­xi zum Ho­tel La Bar­ra­cu­da an die Co­sta del Sol. Der Rück­flug für Su­san­ne Kuhn war am 18. De­zem­ber vor­ge­se­hen. Die ge­nau­en Rei­se­da­ten in­klu­si­ve Prei­se kann man auf der ab­ge­druck­ten Rech­nung im so­eben im Kor­rek­tur Ver­lag er­schie­ne­nen Buch Drei Wo­chen mit Tho­mas Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos nach­le­sen.

Es dau­er­te fast 37 Jah­re bis Su­san­ne Kuhn sich auf­raff­te zu­sam­men mit dem Zeich­ner Ni­co­las Mahler und dem ex­zel­len­ten Bern­hard-Ken­ner und ‑Bio­gra­fen Man­fred Mit­ter­may­er die­ses Er­leb­nis ei­ne Form zu ge­ben. Her­aus­ge­kom­men ist ein ehr­li­cher Text, der schnör­kel­los hei­te­re und är­ger­li­che Mo­men­te be­schreibt, il­lu­striert in be­kann­ter Ma­nier von Ni­co­las Mahler (Tho­mas Bern­hard mit ein biss­chen an Lo­ri­ot er­in­nern­der Knollennase).Vermutlich wuss­ten nur sehr we­ni­ge, wie krank Tho­mas Bern­hard da­mals wirk­lich war. Er konn­te z. B. nur noch im Sit­zen schla­fen; Su­san­ne Kuhn muss­te ihm mit ei­ner Schreib­tisch­schub­la­de im Rücken das Bett her­rich­ten, da­mit das mög­lich war. Ein­mal konn­te sie ei­ne Atem­not Bern­hards nur mit Ni­tro­gly­ce­rin-Spray lin­dern. War­um die­se Rei­se? Aus ei­nem Be­dürf­nis, dem sehr kran­ken, aber auch im­mer et­was un­nah­ba­ren Bru­der bei­zu­ste­hen? Su­san­ne Kuhn war sel­ber nicht ge­sund, hat­te ge­ra­de ih­re vor­zei­ti­ge Ren­te durch­be­kom­men, litt un­ter zahl­rei­chen Äng­sten und Pho­bien, wie et­wa Flug- oder Platz­angst. Als die bei­den ih­re Zim­mer im 9. Stock zu­ge­wie­sen be­kom­men, drängt sie für sich auf ein Zim­mer auf der 2. oder ma­xi­mal 3. Eta­ge.

Da man sich noch nie der­art na­he ge­kom­men war, gab es be­son­ders zu Be­ginn Span­nun­gen und Miss­ver­ständ­nis­se. Et­wa als der »pas­sio­nier­te Schuh­käu­fer« Bern­hard mit ihr in ein Schuh­ge­schäft ging und dort auch zwei Paar Schu­he für sie kau­fen woll­te. Sie muss­te je­doch vor ihm wie auf ei­nem Lauf­steg im­mer wie­der ge­hend über­prü­fen, ob sie auch wirk­lich pass­ten. Kurz dar­auf er­wog sie ernst­haft, vor­zei­tig ab­zu­rei­sen, blieb dann je­doch bis zum Schluss. Da­nach über­nahm Pe­ter Fab­jan.

Es gibt auch an­ek­do­ti­sches vom lei­den­schaft­li­chen Über­schrif­ten­le­ser Tho­mas Bern­hard (die Stö­ße der ge­kauf­ten Zei­tun­gen trug sie ihm hin­ter­her). Bei­spiels­wei­se über den eher un­be­frie­di­gen­den Aus­flug nach Gi­bral­tar. Oder der Be­such von Jo­chen Jung (mit ei­ner merk­wür­di­gen Sitz­ord­nung im Re­stau­rant). Dann von Bern­hards Freu­de mit ihr im Du­ett In the sum­mer­ti­me zu sin­gen. Oder die Schwe­ster im 12 Grad kal­ten Ho­tel­pool schwim­men zu se­hen. Aus Spar­sam­keits­grün­den soll­te sie ei­nen öf­fent­li­chen Münz­fern­spre­cher ver­wen­den; das Te­le­fon im Ho­tel war ihm zu teu­er. Bern­hard sel­ber war­te­te auf ei­nen An­ruf von Sieg­fried Un­seld. Der kam nicht. Was er wohl nicht wuss­te: Der war mit Pe­ter Hand­ke zur glei­chen Zeit in Ma­drid.

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Ru­dolf von Wal­den­fels: In die Nacht

Rudolf von Waldenfels: In die Nacht
Ru­dolf von Wal­den­fels:
In die Nacht

Ein Mann (Mit­te 40/Anfang 50) be­kommt die Dia­gno­se Bla­sen­krebs, und hat, so die Ärz­te, viel­leicht nur noch ein Jahr zu le­ben. Die Ver­zweif­lung ist groß, die Welt bricht zu­sam­men. Dann, nach ei­ner Ope­ra­ti­on, die über­ra­schen­de Ent­war­nung: Der Krebs »hat­te ein we­sent­li­ches Sta­di­um doch noch nicht er­reicht«, er kommt »aus der Sa­che« »mehr oder min­der un­be­scha­det« her­aus, oh­ne Che­mo­the­ra­pie oder Be­strah­lung. Ein neu­es Le­ben. Und nun?

Ro­bert von Wal­den­fels zeigt uns den der­art dem Tod ent­ron­ne­nen Ich-Er­zäh­ler in sei­nem Ro­man In die Nacht zu­nächst als de­pres­si­ven, lust­lo­sen Ta­ge­ver­plem­pe­rer. Va­ge ist von ei­ner Frau und Kin­dern die Re­de, aber die spie­len kaum ei­ne Rol­le, es geht um ihn. Wel­cher Tä­tig­keit er nach­geht, er­fährt man eben­falls nicht ge­nau; es könn­te ei­ne jour­na­li­sti­sche sein. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat­te er, wie man ne­ben­bei er­fährt, ei­ne gro­ße Schau­spie­ler-Kar­rie­re aus­ge­schla­gen und war für Jah­re aus Deutsch­land ver­schwun­den.

Das al­les er­fährt man im kas­ka­di­schen Ge­dan­ken­strom des Er­zäh­lers, der zu Be­ginn in ei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­de, das viel­leicht einst von Gren­zern be­nutzt wur­de, auf­ge­wacht ist. Hier ist sein »Re­fu­gi­um jen­seits von Raum und Zeit«, das »Haus der ver­ges­se­nen Träu­me«. Hier ver­bringt er im­mer wie­der sei­ne Näch­te, in ei­nem Raum, der leicht nach Kot riecht und auch sonst al­les an­de­re als ein­la­dend be­schrie­ben wird, aber er er­fährt ei­ne Art »Hei­lung«. Und jetzt ran­da­lie­ren auf dem Ge­län­de jun­ge Män­ner, wer­fen Fla­schen, ha­ben ihn zum Glück nicht ent­deckt und der Le­ser be­kommt die gan­ze Ge­schich­te, nein: die vie­len Ge­schich­ten er­zählt, die ihn nach sei­ner Apa­thie zu ei­nem fast ob­ses­si­ven Nacht­ge­her wer­den lie­ßen, der im­mer wie­der auf­brach, auch mit ho­hem Fie­ber de­li­rie­rend oder ver­stauch­tem Fuß her­um­hum­pelnd. Bis­wei­len un­ter­nimmt er stun­den­lan­ge Zug­fahr­ten, lässt sich trei­ben, fährt, geht, wan­dert in und durch die Nacht, kam­piert im Zelt im als Ka­the­dra­le emp­fun­de­nen Wald und lässt sein und das Le­ben an­de­rer Re­vue pas­sie­ren.

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Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Tilmann Lahme: Thomas Mann - Ein Leben
Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Man sucht nach ei­nem Be­griff, mit dem ad­äquat be­schrie­ben wer­den kann, was das neue­ste Buch des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Go­lo-Mann-Bio­gra­phen Til­mann Lah­me mit dem harm­lo­sen Ti­tel Tho­mas Mann aus­ge­löst hat. Wä­re »Erd­be­ben« viel­leicht recht? Wenn ja, wel­che Stär­ke hat die­ses Be­ben auf der nach oben of­fe­nen Feuil­le­ton-Ska­la? Da­bei mu­tet der auf dem Co­ver in klei­ne­rer Schrift ge­druck­te Un­ter­ti­tel harm­los an: »Ein Le­ben« steht dort. Der Ver­lag greift in sei­ner Wer­bung ei­ne Spur hö­her und tex­tet »Tho­mas Mann und sein wirk­li­ches Le­ben«. Ent­hül­lun­gen wer­den an­ge­droht. Wer der­art auf­trumpft, muss lie­fern. Und Lah­me ver­sucht das. Sein Buch ist kei­ne Bio­gra­phie, er wie­der­holt nicht auf Voll­stän­dig­keit zie­lend die längst be­kann­ten Da­ten, Fak­ten, Epi­so­den und An­ek­do­ten, Lah­me lie­fert auch nur eher spar­sa­me In­ter­pre­ta­tio­nen von Tho­mas Manns Pro­sa – und dort, wo er es macht, wird es min­de­stens ein­mal pein­lich, doch da­zu spä­ter.

Lah­me schreibt nicht über Tho­mas Manns Le­ben, son­dern vor al­lem über Tho­mas Manns Se­xu­alle­ben. Er be­treibt das, was Die­ter Borchmey­er nicht ganz ab­we­gig »Bio­gra­phis­mus« nennt. Und er stellt sich die­sen Ex­ege­ten mit of­fe­nem Vi­sier ent­ge­gen. Am En­de bi­lan­ziert Lah­me, dass »die im li­te­ra­ri­schen An­spie­lungs­raum ver­bor­ge­ne gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be bei Tho­mas Mann als ein we­sent­li­ches Ele­ment sei­ner li­te­ra­ri­schen Kunst zu be­trach­ten« sei. Nach der Lek­tü­re ver­mit­telt sich ei­nem der Ein­druck, es sei DAS we­sent­li­che Ele­ment.

Dass Tho­mas Mann ho­mo­se­xu­el­le Nei­gun­gen hat­te, die sich in heu­te eher als lä­cher­lich zu be­trach­ten­den Schwär­me­rei­en äu­ßer­ten, ist na­tür­lich kein Ge­heim­nis mehr. Und das er un­ter der zeit­ge­mä­ßen Not­wen­dig­keit, die­se zu ver­ber­gen ge­lit­ten hat, ist eben­so be­kannt. Aber Lah­me will mit sei­nen Re­cher­chen zei­gen, dass die Un­ter­drückung der Ho­mo­se­xua­li­tät mehr war als nur ein sich Ar­ran­gie­ren mit und in den Zwän­gen der Ge­sell­schaft, son­dern ein le­bens­lan­ger Kampf ge­gen die »Hun­de im Sou­ter­rain« sei­nes We­sens, wie er sei­nem Freund Ot­to Grau­toff 1896, 21jährig, in An­leh­nung an ei­ne For­mu­lie­rung von Fried­rich Nietz­sche schrieb.

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Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht
Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knaus­gårds neu­er Ro­man Die Schu­le der Nacht be­ginnt da­mit, dass der 44jährige Kri­sti­an Hade­land 2010 in ei­nem Haus ir­gend­wo auf ei­ner nor­we­gi­schen In­sel sitzt und über sein Le­ben nach­denkt. Das Haus ge­hört ei­nem rei­chen In­ve­stor, den er vor Jah­ren in Lon­don ken­nen­ge­lernt und der ihm vom Haus, der Ru­he und dem Plätz­chen, an dem sich ein Schlüs­sel fin­det, er­zählt hat­te. Nie­mand weiß, dass er hier ist, au­ßer die Nach­barn, aber die ken­nen ihn nicht. Be­vor er sich das Le­ben neh­men wird, schreibt er es auf.

Ich-Er­zäh­ler Kri­sti­an be­ginnt mit sei­ner Er­in­ne­rung im Au­gust 1985, als er das er­ste Mal von Chri­sto­pher Mar­lo­we ge­hört hat­te, dem eng­li­schen Dra­ma­ti­ker, der 1593 mit ei­nem Mes­ser im Au­ge in Dept­ford um­ge­bracht wur­de. In die­sem Stadt­teil von Lon­don lebt Kri­sti­an in ei­nem Miets­haus (Du­sche auf dem Flur) und stu­diert an ei­ner Aka­de­mie Fo­to­gra­fie. Er lässt es eher ru­hig an­ge­hen, lebt von ei­nem Sti­pen­di­um (und sei­nen El­tern) und ver­bringt die Aben­de in ei­nem Pub. Hier lernt er Hans ken­nen, ei­nen Hol­län­der, den er zwar nicht be­son­ders mag, aber man ist nun zu zweit Aus­län­der in Lon­don und spricht aus­gie­big dem Bier mit Wod­ka zu. Hans ist ein »mo­no­man­er Le­ser« und Be­leh­rer, sieht sich als Künst­ler, ex­pe­ri­men­tiert mit com­pu­ter­ge­steu­er­ten Ap­pa­ra­tu­ren, et­wa ei­ner künst­li­chen Rat­te, die ei­nen Par­cours durch­lau­fen kann oder Schild­krö­ten, die sich wie heu­ti­ge Staub­sauger­ro­bo­ter fort­be­we­gen. Kri­sti­an liest sich lust­los durch Shake­speares frü­he Wer­ke, wäh­rend Hans ihm von Mar­lo­we er­zählt, sein Stück über Dok­tor Faustus, das von ei­ner lo­ka­len Thea­ter­grup­pe, die sich un­ter »School of Night« im Hin­ter­zim­mer des Pub trifft, dem­nächst auf­ge­führt wer­den soll. Er weiß, dass ei­ni­ge Mar­lo­wes Tod nicht ak­zep­tie­ren, son­dern glau­ben, er sei da­mals un­ter­ge­tauscht und ha­be un­ter Shake­speares Na­men die in­zwi­schen welt­be­kann­ten Stücke ge­schrie­ben. Hans zeigt Kri­sti­an auch das ver­mut­lich er­ste Da­guer­re-Bild von 1938, stellt kühn die The­se auf, die ein­zi­ge Fi­gur, die dort zu se­hen sei, wä­re der Teu­fel und man fach­sim­pelt un­ter an­de­rem über Alei­ster Crow­ley.

Kri­sti­an ge­riet in den Bann von Hans, we­ni­ger der Thea­ter­grup­pe. Das Weih­nachts­fest 1985 ver­brach­te er je­doch bei den El­tern in Nor­we­gen. Es en­de­te ab­rupt in ei­ner Ka­ta­stro­phe. Sei­ne Schwe­ster Liv hat­te ei­nen Selbst­mord­ver­such un­ter­nom­men, der je­doch im letz­ten Mo­ment ent­deckt wur­de. Abends hör­te Kri­sti­an die El­tern im Ge­spräch. Der Va­ter, ein eher schweig­sa­mer Groß­bau­er mit ei­ser­nen Re­geln, be­zeich­ne­te Kri­sti­an als »Voll­blut-Nar­ziss­ten«. Die Mut­ter, ei­ne »Ar­chi­va­rin der Sen­ti­men­ta­li­tät«, be­schwich­tig­te ver­geb­lich. Das konn­te Kri­sti­an nicht auf sich sit­zen­las­sen. Er pack­te in al­ler Heim­lich­keit und ver­ließ das El­tern­haus oh­ne je­der Nach­richt Rich­tung Lon­don. Am mei­sten be­trüb­te ihn, dass er nicht sei­ne gan­ze Plat­ten­samm­lung mit­neh­men konn­te. Er schwor, mit den El­tern für im­mer zu bre­chen. In Lon­don an­ge­kom­men, er­geht er sich in Selbst­be­spie­ge­lun­gen und ‑be­schwö­run­gen. Ans Te­le­fon geht er nicht, weil es die El­tern sein könn­ten. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter wird ei­ne An­ge­stell­te der nor­we­gi­schen Bot­schaft bei ihm klin­geln. Ei­nen Brief und ei­ne Post­kar­te der Mut­ter, die er vie­le Mo­na­te spä­ter er­hal­ten wird, warf er (nach Lek­tü­re) in den Müll.

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Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Henning Ziebritzki: Brand
Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Brand ist der Na­me ei­nes fik­ti­ven Or­tes, ein Dorf, ir­gend­wo in der Re­gi­on Han­no­ver und es ist der Ti­tel des er­sten Ro­mans des Schrift­stel­lers und Es­say­isten Hen­ning Zie­britz­ki. Es be­ginnt mit Au­gust, der an­ders ist, was der Er­zäh­ler aber schon wuss­te, be­vor es ihm die El­tern er­zählt hat­ten. Au­gust ist schweig­sam, ein »Ta­ch« be­ant­wor­tet er ent­spre­chend, an­son­sten spricht er sel­ten und träumt ger­ne. Er ist »Greis und Kind zu­gleich«, ein Döll­mer, wie man dort sagt und das ist nicht her­ab­set­zend ge­meint, denn Au­gust hat ei­ne wich­ti­ge Auf­ga­be im Dorf. Er muss im Früh­ling die im Win­ter un­ter dem Schnee her­vor­ge­kom­me­nen Stei­ne aus dem Bo­den her­aus­su­chen, die an­son­sten die Mes­ser des Pflugs be­schä­di­gen könn­ten. Und er macht das mit Akri­bie und spie­le­ri­schem Ver­gnü­gen zu­gleich, baut, wenn es ge­lingt, klei­ne Py­ra­mi­den mit den aus­sor­tier­ten Stei­nen.

Die Er­zäh­lung von Au­gusts Le­ben und Ar­bei­ten ist das er­ste von elf Ka­pi­teln die­ses klei­nen Büch­leins mit knapp 140 Sei­ten. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler er­in­nert sich an sei­ne Er­in­ne­run­gen aus Kind­heit und Ju­gend, von Mit­te der 1960er Jah­re an. Es ist we­ni­ger der an­non­cier­te Ro­man als ei­ne No­vel­len­samm­lung.

Er­zählt, ja: wie­der-holt wird ei­ne Kind­heit, die tief ver­wur­zelt ist im länd­li­chen Le­ben Mit­te der 1960er Jah­re. Das Jahr war noch be­stimmt durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten. Die Jah­re wur­den un­ter­teilt in »vor«, »wäh­rend« und »nach« dem Krieg. Drei Ge­ne­ra­tio­nen der Fa­mi­lie müt­ter­li­cher­seits des Er­zäh­lers leb­ten im Dorf. Es gab Zei­ten, als Ur­groß­mutter, Groß­mutter und Mut­ter zu­sam­men­ar­bei­te­ten, bei­spiels­wei­se beim Ern­ten und Ein­wecken von Obst. Das Kind war ent­bun­den vom Mit­hel­fen, schau­te zu, be­kam mit et­was Glück ei­nen Kom­pott nicht ver­wer­te­ter Früch­te.

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Mar­tin Mo­se­bach: Die Rich­ti­ge

Martin Mosebach: Die Richtige
Mar­tin Mo­se­bach:
Die Rich­ti­ge

Weiß je­mand, wie Mar­tin Mo­se­bach die­ses häss­li­che »Spie­gel Best­sel­ler-Au­tor« Eti­kett auf dem Co­ver sei­nes neu­en Ro­mans Die Rich­ti­ge ge­fal­len hat? Ob­wohl nur auf dem tur­quoi­sen Hin­ter­grund plat­ziert und das Mo­tiv nicht di­rekt tan­gie­rend, muss es doch je­man­dem mit sei­nem äs­the­ti­schen Emp­fin­den ein Graus ge­we­sen sein.

Die Lek­tü­re kann erst nach der vor­sich­ti­gen, rück­stands­frei­en Ent­fer­nung des Eti­ketts be­gin­nen. Und sie­he: Es ist wie so oft bei Mo­se­bach ein klei­ner Kreis, der hier vor­ge­stellt wird. An­lass ist ei­ne Aus­stel­lungs­er­öff­nung der Ga­le­rie Grün­haus, in der neue Ge­mäl­de von Lou­is Creutz ge­zeigt wer­den. Der Mei­ster wird so­fort als »In­be­griff der Un­be­ein­druck­bar­keit« vor­ge­stellt und bleibt da­her osten­ta­tiv dem Be­ginn der Ver­an­stal­tung mit der Re­de des Kunst­kri­ti­kers fern und kom­po­niert in sei­nem nicht weit ent­fernt lie­gen­den Ate­lier tra­di­ti­ons­ge­mäß sein neu­es In­kar­nat. Der Le­ser er­fährt rasch die Ge­wohn­hei­ten. So malt Creutz nur in sei­nem Ate­lier, fast aus­schließ­lich Frau­en, frei­wil­lig nie Por­traits (nur im Auf­trag ge­gen ein hor­ren­des Ho­no­rar: Hö­he mal Brei­te mal fünf­und­zwan­zig), nur Ak­te, die er aber als sol­che nur un­gern be­zeich­net. Er malt auf Bo­lus und pflegt »ei­ne fein­po­ri­ge Ma­le­rei von luft­lo­ser Schwe­re«. Sei­ne Ob­ses­si­on ist die mensch­li­che Haut. »Die ei­gent­li­che Auf­ga­be der Ma­le­rei [ist] die Schil­de­rung der Haut«, so Creutz. Hier zei­ge sich die ho­he Schu­le der Öl­ma­le­rei.

Im­mer bei sol­chen Ver­an­stal­tun­gen da­bei sind die »Ge­treu­en«: Ru­dolf und Bea­te, Samm­ler der er­sten Stun­de (ne­ben­bei er­fährt man, dass sie län­ger nicht mehr ge­kauft ha­ben und die Wert­stei­ge­rung der frü­hen Wer­ke ab­war­ten). Im Schlepp­tau Ru­dolfs Bru­der Diet­rich, ein stil­ler, freund­li­cher Mensch. Die Brü­der füh­ren die von den El­tern ge­erb­te Fa­brik fort, mit gro­ßem Er­folg, wie es heißt und der be­ruht vor al­lem auf Diet­rich. Im Schlepp­tau der drei neu da­bei ist ei­ne blon­de Frau mit et­was un­or­dent­li­chen Haa­ren, Astrid Thor­blén, 35 Jah­re, »aus dem Nor­den«, ge­nau­er: Schwe­den, kom­mend. Die zän­ki­sche Bea­te lässt schon jetzt kein gu­tes Haar an Astrid, die aber für Hö­he­res vor­ge­se­hen ist: Sie soll die Ehe­frau des schüch­ter­nen, bra­ven Diet­rich wer­den. Sie sei, so hat wohl Ru­dolf be­schlos­sen, »die Rich­ti­ge«.

Wei­ter­le­sen ...