Zoom auf den Epo­chen­ver­schlep­per

Schreibheft 105
Schreib­heft 105

Neu­es und Al­tes über und von Gre­gor von Rezz­ori

An­lass­los fin­det sich im neu­en Schreib­heft von Nor­bert Wehr un­ter an­de­rem ein Dos­sier über den 1998 ver­stor­be­nen Gre­gor von Rezz­ori, ku­ra­tiert von Jo­sé Aní­bal Cam­pos und Jan Wilm. Ge­bo­ren wur­de von Rezz­ori 1914 in Czer­no­witz, da­mals Teil der Habs­bur­ger Mon­ar­chie. Nach dem Er­sten Welt­krieg fiel die Bu­ko­wi­na vor­über­ge­hend an Ru­mä­ni­en, spä­ter wur­de sie von Sta­lin ein­ver­leibt. Von Rezz­ori, der fünf Spra­chen flie­ßend be­herrsch­te, pen­del­te zwi­schen Öster­reich und Ru­mä­ni­en, stran­de­te schließ­lich En­de der 1930er Jah­re als de fac­to Staa­ten­lo­ser in Ber­lin und be­gann zu schrei­ben. Zum En­de des Krie­ges ver­ließ er Ber­lin nach Schle­si­en. Von da aus floh er vor den Rus­sen und wur­de mit et­was Glück Mit­ar­bei­ter des NWDR. In den 1950er Jah­ren er­fand er sein fik­ti­ves »Ma­ghre­bi­ni­en«, ein Phan­ta­sie­land mit star­ken Be­zü­gen auf sei­ne ehe­ma­li­ge Hei­mat und, wie es im Schreib­heft heißt, »mit­un­ter pi­kar­esken iro­ni­schen Ele­gi­en auf ein ver­sun­ke­nes Mit­tel­eu­ro­pa«. (Ei­ni­ge Ein­blicke in die­ses Ma­ghre­bi­ni­en lie­fert ein Vor­trag aus 2017 von Ju­rij An­drucho­wytsch ). Wie so oft wur­de Er­folg auch Bür­de. Sei­ne spä­te­re Pro­sa nahm man ins­be­son­de­re im deutsch­spra­chi­gen Raum nicht be­son­ders ernst. Von Rezz­ori wur­den Images ver­passt, Mär­chen­on­kel und Le­be­mann et­wa, spä­ter dann »Grand­sei­gneur«. Mein­te man es gut, nann­te man ihn »Epo­chen­ver­schlep­per«, ei­ne Be­zeich­nung, die er für sich selbst ge­fun­den ha­ben will. Da­mit sei »das ana­chro­ni­sti­sche Über­lap­pen von Wirk­lich­keits­ele­men­ten, die spe­zi­fisch ei­ner ver­gan­ge­nen Epo­che an­ge­hö­ren, in die dar­auf­fol­gen­de« ge­meint, so sei­ne De­fi­ni­ti­on.

Ei­ne Ti­tel­ge­schich­te im Spie­gel in den 1960er Jah­ren fiel we­nig schmei­chel­haft für ihn aus und soll­te das Bild über ihn vie­le Jah­re be­stim­men. Je­der kann­te ihn und er kann­te je­den; ei­ne Art »Ze­lig« des Kul­tur­be­triebs. Seit Mit­te der 1960er Jah­re wohn­te er mit sei­ner drit­ten Frau in ei­nem von ihm suk­zes­si­ve re­no­vier­ten An­we­sen in der Tos­ka­na. Ne­ben Il­lu­strier­ten-Ar­ti­keln (er selbst nann­te es »jour­na­li­sti­sche Pro­sti­tu­ti­on«), Feuil­le­tons und Ro­ma­nen schrieb er auch Film-Dreh­bü­cher und trat als Ge­le­gen­heits­schau­spie­ler auf, ob­wohl er kein Ci­ne­ast war. In Vi­va Ma­ria von Lou­is Mal­le et­wa als Zau­be­rer. Über die Dreh­ar­bei­ten in ei­ner fünf­mo­na­ti­gen Zeit­kap­sel, den Re­gis­seur Lou­is Mal­le, die bei­den Haupt­dar­stel­le­rin­nen Jean­ne Mo­reau und Bri­git­te Bar­dot, die Art und Wei­se, wie ein Film ent­steht und sei­ne Rol­le im In­tri­gen­sta­del hat er ein lau­ni­ges Ta­ge­buch ge­führt, dass zu­nächst aus­schnitt­wei­se in drei ver­schie­de­nen Me­di­en er­schien und dann ge­sam­melt un­ter dem Ti­tel Die To­ten auf ih­re Plät­ze. Li­te­ra­risch wird es im­mer dann, wenn er von der Wei­te Me­xi­kos er­zählt, je­nes Lan­des, das er schon zu Be­ginn zum Bal­kan Ame­ri­kas er­klär­te.

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Fré­dé­ric Schwil­den: Gu­te Men­schen

Frédéric Schwilden: Gute Menschen
Fré­dé­ric Schwil­den:
Gu­te Men­schen

Fré­dé­ric Schwil­den ist Re­por­ter und Ko­lum­nist bei der Welt. Auf X po­stet er un­ter @totalreporter. Manch­mal sieht man ihn dort, wenn er un­ter­wegs ist, im Zug, in atem­be­rau­bend bun­ten Sak­kos. Vor ei­ni­gen Wo­chen er­schien ei­ne groß­ar­ti­ge In­ter­ven­ti­on zu De­pres­sio­nen und dem Brief von Wolf­gang Grupp nach des­sen Sui­zid-Ver­such. Da­vor las ich sei­ne Be­suchs­be­rich­te bei Rai­ner Lang­hans und Uwe Tell­kamp. Schwil­den ist neu­gie­rig und über­lässt dem Le­ser das Ur­tei­len; ein Re­por­ter im alt­mo­di­schen Sinn. Jetzt legt er mit Gu­te Men­schen sei­nen zwei­ten Ro­man vor.

Er han­delt von Jan und Jen­ni­fer. Bei­de sind 1988 ge­bo­ren, ver­hei­ra­tet und le­ben in Mün­chen. Sie ist Part­ne­rin ei­ner Kar­tell­rechts­kanz­lei (da­her der Ehe­ver­trag), er Gym­na­si­al­leh­rer. Gu­te Men­schen be­ginnt mit dem Aus­zug von Jen­ni­fer aus der ge­mein­sa­men Woh­nung. Es ist der 18. De­zem­ber 2023. Jan ist bei der Groß­mutter in Kre­feld. Jen­ni­fers Ha­be füllt ein V‑Klas­se-Ta­xi zur Hälf­te. Sie hat ih­re Kanz­lei­an­tei­le ver­kauft, hin­zu kommt ein Er­be. 1,5 Mil­lio­nen Eu­ro hat sie auf dem Kon­to. Sie lässt sich zu ih­rer neu­en 144 m² gro­ßen Woh­nung fah­ren. Der La Chai­se von Ea­mes wird ge­lie­fert; mehr als 8.000 Eu­ro. Die an­de­ren Mö­bel kom­men in den näch­sten Ta­gen. Sie hat Jan ei­nen Brief ge­schrie­ben und in den Brief­ka­sten ge­wor­fen. Sie be­en­det die Ehe. Man stritt über Geld. Geld, das man hat­te. Man stritt dar­über, wie man es aus­gibt. »Ich will raus« schreibt sie. Will sei­ne Freun­din blei­ben. Die ehe­li­che Woh­nung über­lässt sie ihm.

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Hin­rich von Haa­ren: Wild­nis

Hinrich von Haaren: Wildnis
Hin­rich von Haa­ren:
Wild­nis

Zu­nächst ist man ver­wirrt. Ein ge­wis­ser Schult er­wacht im Kran­ken­haus aus dem Ko­ma und ist zor­nig. Er will nie­mand ge­be­ten ha­ben, ihn ins Roy­al Lon­don Hos­pi­tal in Whitecha­pel ein­zu­lie­fern und phan­ta­siert, er sei bis ge­ra­de zum zwei­ten Mal tot ge­we­sen, das er­ste Mal 1943, als Sechs­jäh­ri­ger, in der Nacht vom 27. auf den 28. Ju­li, in Ham­burg, Stadt­teil Ham­mer­brook, am Grü­nen Deich. Wer ein we­nig Ge­schichts­kennt­nis­se hat, weiß, was in die­ser Nacht in Ham­burg ge­schah. Es wird spä­ter als der Ham­bur­ger Feu­er­sturm be­zeich­net wer­den. Gott­fried Schult und sei­ne Mut­ter über­le­ben; der Va­ter war be­reits 1941 in Russ­land ge­fal­len.

Der 61jährige, in Lon­don le­ben­de, deut­sche Au­tor Hin­rich von Haa­ren bleibt in sei­nem Ro­man Wild­nis bei die­sem Gott­fried Schult, nennt ihn stets nur »Schult«, was be­wusst ei­ne Di­stanz er­zeugt. Die Mut­ter woll­te, dass Schult nach der Schu­le ei­ne Bank­leh­re macht, aber der schrieb sich zum Stu­di­um für Ge­schich­te ein. Es war nach­träg­li­che Op­po­si­ti­on zu sei­nem Na­zi-Leh­rer auf der Schu­le, der das »Drit­te Reich« schlicht über­gan­gen hat­te. Schult woll­te es ge­nau­er wis­sen. Nach dem Stu­di­um be­warb er sich auf ei­ne Do­zen­ten­stel­le in Eng­land, wur­de zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung an­ge­nom­men und aus Gott­fried wur­de Ge­off. Zwan­zig Jah­re nach dem Feu­er­sturm war er al­so nun in Cam­bridge, wenn es auch nur das nicht so be­rühm­te »Dow­ning Col­lege« war.

Der aka­de­mi­sche Be­trieb er­zeug­te bei Schult ein Phleg­ma; er fand sich früh da­mit ab, kei­ne Kar­rie­re ma­chen zu kön­nen. Zu Be­ginn lern­te er die Non­kon­for­mi­sten Tom und Liz ken­nen, die sel­ber kaum Am­bi­tio­nen he­gen. Ei­ne der we­ni­gen Freund­schaf­ten, die Schult ein­ging, denn er war kon­takt­scheu. Um dem Uni-Be­trieb zu ent­flie­hen, mie­te­te er sich ei­ne klei­ne Woh­nung am Ar­nold Cir­cus, ei­nem der äl­te­sten Stadt­vier­tel Lon­dons; da­mals, 1964 beim Ein­zug, an­zie­hend schä­big. Hier konn­te er sei­ne Ho­mo­se­xua­li­tät ab­seits von Cam­bridge aus­le­ben, be­such­te ab und zu das »Ge­or­ge and Dra­gon«, ei­ne eher ver­gam­mel­te Knei­pe mit ei­ner herz­li­chen Wir­tin. Und hier fand er die Stri­cher, die er be­zahl­te und da­bei froh war, kei­ne wei­te­ren Ver­pflich­tun­gen zu ha­ben. Die hy­po­chon­dri­sche Mut­ter in Ham­burg wird zwei Mal im Jahr be­sucht; man hat­te sich we­nig zu sa­gen. Den Weih­nachts­be­such brach Schult im­mer am 23.12. ab. Nur ein­mal, wäh­rend ei­nes Kur­auf­ent­halts, leb­te das Ver­hält­nis der bei­den für kur­ze Zeit auf.

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Pa­trick Mo­dia­no: Die Tän­ze­rin

Patrick Modiano: Die Tänzerin
Pa­trick Mo­dia­no:
Die Tän­ze­rin

Un­längst fei­er­te der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Pa­trick Mo­dia­no sei­nen 80. Ge­burts­tag. Seit Mit­te der 1970er Jah­ren wer­den sei­ne Bü­cher in Deutsch­land pu­bli­ziert – in meh­re­ren Ver­la­gen und von ei­ni­gen Über­set­zern, un­ter an­de­rem auch Pe­ter Hand­ke, der zeit­wei­se die Mo­dia­no-Bü­cher nach Suhr­kamp brach­te, be­vor sie bei Han­ser und Über­set­ze­rin Eli­sa­beth Edl ei­ne Heim­statt be­kom­men ha­ben. Mit den Jahr­zehn­ten sind sei­ne Ro­ma­ne zu klei­nen, luf­tig-duf­ti­gen Er­zäh­lun­gen ge­wor­den, die um Er­in­ne­rung, Zä­su­ren und ge­schei­ter­te (oder ge­lun­ge­ne) Le­bens­ent­wür­fe krei­sen. Auch im neu­en Ro­man Die Tän­ze­rin (wie ge­habt über­setzt von Eli­sa­beth Edl) spielt die Er­in­ne­rung und de­ren Un­zu­ver­läs­sig­keit ei­ne wich­ti­ge, ei­gent­lich die ent­schei­den­de Rol­le. Zeit und Bil­der ver­wi­schen, aber ge­ra­de hier­in scheint der Reiz zu lie­gen, der we­ni­ger dar­in be­steht, sich prä­zi­se zu er­in­nern, son­dern trotz oder ge­ra­de mit den bruch­stück­haf­ten Bil­dern so et­was wie ei­ne »ewi­ge Ge­gen­wart« zu er­zeu­gen, wie es fast eu­pho­risch am En­de des Bu­ches heißt.

Es be­ginnt mit ei­nem Mann, den der Ich-Er­zäh­ler zwi­schen all den Touristen-»Horden« in Pa­ris zu ent­decken glaubt: sei­nen ehe­ma­li­gen Ver­mie­ter von vor 50 (oder mehr) Jah­ren. Lei­der kann sich der der­art an­ge­spro­che­ne Mann we­der an ihn noch an die vor­ge­brach­ten Er­eig­nis­se er­in­nern, gibt ihm aber ei­nen Zet­tel mit Te­le­fon­num­mern und Adres­se.

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Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wo­chen mit Tho­mas
Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos

Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos
Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wo­chen mit Tho­mas Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos

Am 27. No­vem­ber 1988, drei Wo­chen nach der skan­dalum­to­sten Pre­mie­re von Hel­den­platz am Wie­ner Burg­thea­ter (in­sze­niert vom un­längst ver­stor­be­nen Claus Pey­mann), flog Su­san­ne Kuhn, ge­bo­re­ne Fab­jan, mit ih­rem Halb­bru­der Tho­mas Bern­hard nach Tor­re­mo­li­nos. Von da aus ging es mit dem Ta­xi zum Ho­tel La Bar­ra­cu­da an die Co­sta del Sol. Der Rück­flug für Su­san­ne Kuhn war am 18. De­zem­ber vor­ge­se­hen. Die ge­nau­en Rei­se­da­ten in­klu­si­ve Prei­se kann man auf der ab­ge­druck­ten Rech­nung im so­eben im Kor­rek­tur Ver­lag er­schie­ne­nen Buch Drei Wo­chen mit Tho­mas Bern­hard in Tor­re­mo­li­nos nach­le­sen.

Es dau­er­te fast 37 Jah­re bis Su­san­ne Kuhn sich auf­raff­te zu­sam­men mit dem Zeich­ner Ni­co­las Mahler und dem ex­zel­len­ten Bern­hard-Ken­ner und ‑Bio­gra­fen Man­fred Mit­ter­may­er die­ses Er­leb­nis ei­ne Form zu ge­ben. Her­aus­ge­kom­men ist ein ehr­li­cher Text, der schnör­kel­los hei­te­re und är­ger­li­che Mo­men­te be­schreibt, il­lu­striert in be­kann­ter Ma­nier von Ni­co­las Mahler (Tho­mas Bern­hard mit ein biss­chen an Lo­ri­ot er­in­nern­der Knollennase).Vermutlich wuss­ten nur sehr we­ni­ge, wie krank Tho­mas Bern­hard da­mals wirk­lich war. Er konn­te z. B. nur noch im Sit­zen schla­fen; Su­san­ne Kuhn muss­te ihm mit ei­ner Schreib­tisch­schub­la­de im Rücken das Bett her­rich­ten, da­mit das mög­lich war. Ein­mal konn­te sie ei­ne Atem­not Bern­hards nur mit Ni­tro­gly­ce­rin-Spray lin­dern. War­um die­se Rei­se? Aus ei­nem Be­dürf­nis, dem sehr kran­ken, aber auch im­mer et­was un­nah­ba­ren Bru­der bei­zu­ste­hen? Su­san­ne Kuhn war sel­ber nicht ge­sund, hat­te ge­ra­de ih­re vor­zei­ti­ge Ren­te durch­be­kom­men, litt un­ter zahl­rei­chen Äng­sten und Pho­bien, wie et­wa Flug- oder Platz­angst. Als die bei­den ih­re Zim­mer im 9. Stock zu­ge­wie­sen be­kom­men, drängt sie für sich auf ein Zim­mer auf der 2. oder ma­xi­mal 3. Eta­ge.

Da man sich noch nie der­art na­he ge­kom­men war, gab es be­son­ders zu Be­ginn Span­nun­gen und Miss­ver­ständ­nis­se. Et­wa als der »pas­sio­nier­te Schuh­käu­fer« Bern­hard mit ihr in ein Schuh­ge­schäft ging und dort auch zwei Paar Schu­he für sie kau­fen woll­te. Sie muss­te je­doch vor ihm wie auf ei­nem Lauf­steg im­mer wie­der ge­hend über­prü­fen, ob sie auch wirk­lich pass­ten. Kurz dar­auf er­wog sie ernst­haft, vor­zei­tig ab­zu­rei­sen, blieb dann je­doch bis zum Schluss. Da­nach über­nahm Pe­ter Fab­jan.

Es gibt auch an­ek­do­ti­sches vom lei­den­schaft­li­chen Über­schrif­ten­le­ser Tho­mas Bern­hard (die Stö­ße der ge­kauf­ten Zei­tun­gen trug sie ihm hin­ter­her). Bei­spiels­wei­se über den eher un­be­frie­di­gen­den Aus­flug nach Gi­bral­tar. Oder der Be­such von Jo­chen Jung (mit ei­ner merk­wür­di­gen Sitz­ord­nung im Re­stau­rant). Dann von Bern­hards Freu­de mit ihr im Du­ett In the sum­mer­ti­me zu sin­gen. Oder die Schwe­ster im 12 Grad kal­ten Ho­tel­pool schwim­men zu se­hen. Aus Spar­sam­keits­grün­den soll­te sie ei­nen öf­fent­li­chen Münz­fern­spre­cher ver­wen­den; das Te­le­fon im Ho­tel war ihm zu teu­er. Bern­hard sel­ber war­te­te auf ei­nen An­ruf von Sieg­fried Un­seld. Der kam nicht. Was er wohl nicht wuss­te: Der war mit Pe­ter Hand­ke zur glei­chen Zeit in Ma­drid.

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Ru­dolf von Wal­den­fels: In die Nacht

Rudolf von Waldenfels: In die Nacht
Ru­dolf von Wal­den­fels:
In die Nacht

Ein Mann (Mit­te 40/Anfang 50) be­kommt die Dia­gno­se Bla­sen­krebs, und hat, so die Ärz­te, viel­leicht nur noch ein Jahr zu le­ben. Die Ver­zweif­lung ist groß, die Welt bricht zu­sam­men. Dann, nach ei­ner Ope­ra­ti­on, die über­ra­schen­de Ent­war­nung: Der Krebs »hat­te ein we­sent­li­ches Sta­di­um doch noch nicht er­reicht«, er kommt »aus der Sa­che« »mehr oder min­der un­be­scha­det« her­aus, oh­ne Che­mo­the­ra­pie oder Be­strah­lung. Ein neu­es Le­ben. Und nun?

Ro­bert von Wal­den­fels zeigt uns den der­art dem Tod ent­ron­ne­nen Ich-Er­zäh­ler in sei­nem Ro­man In die Nacht zu­nächst als de­pres­si­ven, lust­lo­sen Ta­ge­ver­plem­pe­rer. Va­ge ist von ei­ner Frau und Kin­dern die Re­de, aber die spie­len kaum ei­ne Rol­le, es geht um ihn. Wel­cher Tä­tig­keit er nach­geht, er­fährt man eben­falls nicht ge­nau; es könn­te ei­ne jour­na­li­sti­sche sein. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat­te er, wie man ne­ben­bei er­fährt, ei­ne gro­ße Schau­spie­ler-Kar­rie­re aus­ge­schla­gen und war für Jah­re aus Deutsch­land ver­schwun­den.

Das al­les er­fährt man im kas­ka­di­schen Ge­dan­ken­strom des Er­zäh­lers, der zu Be­ginn in ei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­de, das viel­leicht einst von Gren­zern be­nutzt wur­de, auf­ge­wacht ist. Hier ist sein »Re­fu­gi­um jen­seits von Raum und Zeit«, das »Haus der ver­ges­se­nen Träu­me«. Hier ver­bringt er im­mer wie­der sei­ne Näch­te, in ei­nem Raum, der leicht nach Kot riecht und auch sonst al­les an­de­re als ein­la­dend be­schrie­ben wird, aber er er­fährt ei­ne Art »Hei­lung«. Und jetzt ran­da­lie­ren auf dem Ge­län­de jun­ge Män­ner, wer­fen Fla­schen, ha­ben ihn zum Glück nicht ent­deckt und der Le­ser be­kommt die gan­ze Ge­schich­te, nein: die vie­len Ge­schich­ten er­zählt, die ihn nach sei­ner Apa­thie zu ei­nem fast ob­ses­si­ven Nacht­ge­her wer­den lie­ßen, der im­mer wie­der auf­brach, auch mit ho­hem Fie­ber de­li­rie­rend oder ver­stauch­tem Fuß her­um­hum­pelnd. Bis­wei­len un­ter­nimmt er stun­den­lan­ge Zug­fahr­ten, lässt sich trei­ben, fährt, geht, wan­dert in und durch die Nacht, kam­piert im Zelt im als Ka­the­dra­le emp­fun­de­nen Wald und lässt sein und das Le­ben an­de­rer Re­vue pas­sie­ren.

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Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Tilmann Lahme: Thomas Mann - Ein Leben
Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Man sucht nach ei­nem Be­griff, mit dem ad­äquat be­schrie­ben wer­den kann, was das neue­ste Buch des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Go­lo-Mann-Bio­gra­phen Til­mann Lah­me mit dem harm­lo­sen Ti­tel Tho­mas Mann aus­ge­löst hat. Wä­re »Erd­be­ben« viel­leicht recht? Wenn ja, wel­che Stär­ke hat die­ses Be­ben auf der nach oben of­fe­nen Feuil­le­ton-Ska­la? Da­bei mu­tet der auf dem Co­ver in klei­ne­rer Schrift ge­druck­te Un­ter­ti­tel harm­los an: »Ein Le­ben« steht dort. Der Ver­lag greift in sei­ner Wer­bung ei­ne Spur hö­her und tex­tet »Tho­mas Mann und sein wirk­li­ches Le­ben«. Ent­hül­lun­gen wer­den an­ge­droht. Wer der­art auf­trumpft, muss lie­fern. Und Lah­me ver­sucht das. Sein Buch ist kei­ne Bio­gra­phie, er wie­der­holt nicht auf Voll­stän­dig­keit zie­lend die längst be­kann­ten Da­ten, Fak­ten, Epi­so­den und An­ek­do­ten, Lah­me lie­fert auch nur eher spar­sa­me In­ter­pre­ta­tio­nen von Tho­mas Manns Pro­sa – und dort, wo er es macht, wird es min­de­stens ein­mal pein­lich, doch da­zu spä­ter.

Lah­me schreibt nicht über Tho­mas Manns Le­ben, son­dern vor al­lem über Tho­mas Manns Se­xu­alle­ben. Er be­treibt das, was Die­ter Borchmey­er nicht ganz ab­we­gig »Bio­gra­phis­mus« nennt. Und er stellt sich die­sen Ex­ege­ten mit of­fe­nem Vi­sier ent­ge­gen. Am En­de bi­lan­ziert Lah­me, dass »die im li­te­ra­ri­schen An­spie­lungs­raum ver­bor­ge­ne gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be bei Tho­mas Mann als ein we­sent­li­ches Ele­ment sei­ner li­te­ra­ri­schen Kunst zu be­trach­ten« sei. Nach der Lek­tü­re ver­mit­telt sich ei­nem der Ein­druck, es sei DAS we­sent­li­che Ele­ment.

Dass Tho­mas Mann ho­mo­se­xu­el­le Nei­gun­gen hat­te, die sich in heu­te eher als lä­cher­lich zu be­trach­ten­den Schwär­me­rei­en äu­ßer­ten, ist na­tür­lich kein Ge­heim­nis mehr. Und das er un­ter der zeit­ge­mä­ßen Not­wen­dig­keit, die­se zu ver­ber­gen ge­lit­ten hat, ist eben­so be­kannt. Aber Lah­me will mit sei­nen Re­cher­chen zei­gen, dass die Un­ter­drückung der Ho­mo­se­xua­li­tät mehr war als nur ein sich Ar­ran­gie­ren mit und in den Zwän­gen der Ge­sell­schaft, son­dern ein le­bens­lan­ger Kampf ge­gen die »Hun­de im Sou­ter­rain« sei­nes We­sens, wie er sei­nem Freund Ot­to Grau­toff 1896, 21jährig, in An­leh­nung an ei­ne For­mu­lie­rung von Fried­rich Nietz­sche schrieb.

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Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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