Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht
Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knaus­gårds neu­er Ro­man Die Schu­le der Nacht be­ginnt da­mit, dass der 44jährige Kri­sti­an Hade­land 2010 in ei­nem Haus ir­gend­wo auf ei­ner nor­we­gi­schen In­sel sitzt und über sein Le­ben nach­denkt. Das Haus ge­hört ei­nem rei­chen In­ve­stor, den er vor Jah­ren in Lon­don ken­nen­ge­lernt und der ihm vom Haus, der Ru­he und dem Plätz­chen, an dem sich ein Schlüs­sel fin­det, er­zählt hat­te. Nie­mand weiß, dass er hier ist, au­ßer die Nach­barn, aber die ken­nen ihn nicht. Be­vor er sich das Le­ben neh­men wird, schreibt er es auf.

Ich-Er­zäh­ler Kri­sti­an be­ginnt mit sei­ner Er­in­ne­rung im Au­gust 1985, als er das er­ste Mal von Chri­sto­pher Mar­lo­we ge­hört hat­te, dem eng­li­schen Dra­ma­ti­ker, der 1593 mit ei­nem Mes­ser im Au­ge in Dept­ford um­ge­bracht wur­de. In die­sem Stadt­teil von Lon­don lebt Kri­sti­an in ei­nem Miets­haus (Du­sche auf dem Flur) und stu­diert an ei­ner Aka­de­mie Fo­to­gra­fie. Er lässt es eher ru­hig an­ge­hen, lebt von ei­nem Sti­pen­di­um (und sei­nen El­tern) und ver­bringt die Aben­de in ei­nem Pub. Hier lernt er Hans ken­nen, ei­nen Hol­län­der, den er zwar nicht be­son­ders mag, aber man ist nun zu zweit Aus­län­der in Lon­don und spricht aus­gie­big dem Bier mit Wod­ka zu. Hans ist ein »mo­no­man­er Le­ser« und Be­leh­rer, sieht sich als Künst­ler, ex­pe­ri­men­tiert mit com­pu­ter­ge­steu­er­ten Ap­pa­ra­tu­ren, et­wa ei­ner künst­li­chen Rat­te, die ei­nen Par­cours durch­lau­fen kann oder Schild­krö­ten, die sich wie heu­ti­ge Staub­sauger­ro­bo­ter fort­be­we­gen. Kri­sti­an liest sich lust­los durch Shake­speares frü­he Wer­ke, wäh­rend Hans ihm von Mar­lo­we er­zählt, sein Stück über Dok­tor Faustus, das von ei­ner lo­ka­len Thea­ter­grup­pe, die sich un­ter »School of Night« im Hin­ter­zim­mer des Pub trifft, dem­nächst auf­ge­führt wer­den soll. Er weiß, dass ei­ni­ge Mar­lo­wes Tod nicht ak­zep­tie­ren, son­dern glau­ben, er sei da­mals un­ter­ge­tauscht und ha­be un­ter Shake­speares Na­men die in­zwi­schen welt­be­kann­ten Stücke ge­schrie­ben. Hans zeigt Kri­sti­an auch das ver­mut­lich er­ste Da­guer­re-Bild von 1938, stellt kühn die The­se auf, die ein­zi­ge Fi­gur, die dort zu se­hen sei, wä­re der Teu­fel und man fach­sim­pelt un­ter an­de­rem über Alei­ster Crow­ley.

Kri­sti­an ge­riet in den Bann von Hans, we­ni­ger der Thea­ter­grup­pe. Das Weih­nachts­fest 1985 ver­brach­te er je­doch bei den El­tern in Nor­we­gen. Es en­de­te ab­rupt in ei­ner Ka­ta­stro­phe. Sei­ne Schwe­ster Liv hat­te ei­nen Selbst­mord­ver­such un­ter­nom­men, der je­doch im letz­ten Mo­ment ent­deckt wur­de. Abends hör­te Kri­sti­an die El­tern im Ge­spräch. Der Va­ter, ein eher schweig­sa­mer Groß­bau­er mit ei­ser­nen Re­geln, be­zeich­ne­te Kri­sti­an als »Voll­blut-Nar­ziss­ten«. Die Mut­ter, ei­ne »Ar­chi­va­rin der Sen­ti­men­ta­li­tät«, be­schwich­tig­te ver­geb­lich. Das konn­te Kri­sti­an nicht auf sich sit­zen­las­sen. Er pack­te in al­ler Heim­lich­keit und ver­ließ das El­tern­haus oh­ne je­der Nach­richt Rich­tung Lon­don. Am mei­sten be­trüb­te ihn, dass er nicht sei­ne gan­ze Plat­ten­samm­lung mit­neh­men konn­te. Er schwor, mit den El­tern für im­mer zu bre­chen. In Lon­don an­ge­kom­men, er­geht er sich in Selbst­be­spie­ge­lun­gen und ‑be­schwö­run­gen. Ans Te­le­fon geht er nicht, weil es die El­tern sein könn­ten. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter wird ei­ne An­ge­stell­te der nor­we­gi­schen Bot­schaft bei ihm klin­geln. Ei­nen Brief und ei­ne Post­kar­te der Mut­ter, die er vie­le Mo­na­te spä­ter er­hal­ten wird, warf er (nach Lek­tü­re) in den Müll.

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Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Henning Ziebritzki: Brand
Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Brand ist der Na­me ei­nes fik­ti­ven Or­tes, ein Dorf, ir­gend­wo in der Re­gi­on Han­no­ver und es ist der Ti­tel des er­sten Ro­mans des Schrift­stel­lers und Es­say­isten Hen­ning Zie­britz­ki. Es be­ginnt mit Au­gust, der an­ders ist, was der Er­zäh­ler aber schon wuss­te, be­vor es ihm die El­tern er­zählt hat­ten. Au­gust ist schweig­sam, ein »Ta­ch« be­ant­wor­tet er ent­spre­chend, an­son­sten spricht er sel­ten und träumt ger­ne. Er ist »Greis und Kind zu­gleich«, ein Döll­mer, wie man dort sagt und das ist nicht her­ab­set­zend ge­meint, denn Au­gust hat ei­ne wich­ti­ge Auf­ga­be im Dorf. Er muss im Früh­ling die im Win­ter un­ter dem Schnee her­vor­ge­kom­me­nen Stei­ne aus dem Bo­den her­aus­su­chen, die an­son­sten die Mes­ser des Pflugs be­schä­di­gen könn­ten. Und er macht das mit Akri­bie und spie­le­ri­schem Ver­gnü­gen zu­gleich, baut, wenn es ge­lingt, klei­ne Py­ra­mi­den mit den aus­sor­tier­ten Stei­nen.

Die Er­zäh­lung von Au­gusts Le­ben und Ar­bei­ten ist das er­ste von elf Ka­pi­teln die­ses klei­nen Büch­leins mit knapp 140 Sei­ten. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler er­in­nert sich an sei­ne Er­in­ne­run­gen aus Kind­heit und Ju­gend, von Mit­te der 1960er Jah­re an. Es ist we­ni­ger der an­non­cier­te Ro­man als ei­ne No­vel­len­samm­lung.

Er­zählt, ja: wie­der-holt wird ei­ne Kind­heit, die tief ver­wur­zelt ist im länd­li­chen Le­ben Mit­te der 1960er Jah­re. Das Jahr war noch be­stimmt durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten. Die Jah­re wur­den un­ter­teilt in »vor«, »wäh­rend« und »nach« dem Krieg. Drei Ge­ne­ra­tio­nen der Fa­mi­lie müt­ter­li­cher­seits des Er­zäh­lers leb­ten im Dorf. Es gab Zei­ten, als Ur­groß­mutter, Groß­mutter und Mut­ter zu­sam­men­ar­bei­te­ten, bei­spiels­wei­se beim Ern­ten und Ein­wecken von Obst. Das Kind war ent­bun­den vom Mit­hel­fen, schau­te zu, be­kam mit et­was Glück ei­nen Kom­pott nicht ver­wer­te­ter Früch­te.

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Mar­tin Mo­se­bach: Die Rich­ti­ge

Martin Mosebach: Die Richtige
Mar­tin Mo­se­bach:
Die Rich­ti­ge

Weiß je­mand, wie Mar­tin Mo­se­bach die­ses häss­li­che »Spie­gel Best­sel­ler-Au­tor« Eti­kett auf dem Co­ver sei­nes neu­en Ro­mans Die Rich­ti­ge ge­fal­len hat? Ob­wohl nur auf dem tur­quoi­sen Hin­ter­grund plat­ziert und das Mo­tiv nicht di­rekt tan­gie­rend, muss es doch je­man­dem mit sei­nem äs­the­ti­schen Emp­fin­den ein Graus ge­we­sen sein.

Die Lek­tü­re kann erst nach der vor­sich­ti­gen, rück­stands­frei­en Ent­fer­nung des Eti­ketts be­gin­nen. Und sie­he: Es ist wie so oft bei Mo­se­bach ein klei­ner Kreis, der hier vor­ge­stellt wird. An­lass ist ei­ne Aus­stel­lungs­er­öff­nung der Ga­le­rie Grün­haus, in der neue Ge­mäl­de von Lou­is Creutz ge­zeigt wer­den. Der Mei­ster wird so­fort als »In­be­griff der Un­be­ein­druck­bar­keit« vor­ge­stellt und bleibt da­her osten­ta­tiv dem Be­ginn der Ver­an­stal­tung mit der Re­de des Kunst­kri­ti­kers fern und kom­po­niert in sei­nem nicht weit ent­fernt lie­gen­den Ate­lier tra­di­ti­ons­ge­mäß sein neu­es In­kar­nat. Der Le­ser er­fährt rasch die Ge­wohn­hei­ten. So malt Creutz nur in sei­nem Ate­lier, fast aus­schließ­lich Frau­en, frei­wil­lig nie Por­traits (nur im Auf­trag ge­gen ein hor­ren­des Ho­no­rar: Hö­he mal Brei­te mal fünf­und­zwan­zig), nur Ak­te, die er aber als sol­che nur un­gern be­zeich­net. Er malt auf Bo­lus und pflegt »ei­ne fein­po­ri­ge Ma­le­rei von luft­lo­ser Schwe­re«. Sei­ne Ob­ses­si­on ist die mensch­li­che Haut. »Die ei­gent­li­che Auf­ga­be der Ma­le­rei [ist] die Schil­de­rung der Haut«, so Creutz. Hier zei­ge sich die ho­he Schu­le der Öl­ma­le­rei.

Im­mer bei sol­chen Ver­an­stal­tun­gen da­bei sind die »Ge­treu­en«: Ru­dolf und Bea­te, Samm­ler der er­sten Stun­de (ne­ben­bei er­fährt man, dass sie län­ger nicht mehr ge­kauft ha­ben und die Wert­stei­ge­rung der frü­hen Wer­ke ab­war­ten). Im Schlepp­tau Ru­dolfs Bru­der Diet­rich, ein stil­ler, freund­li­cher Mensch. Die Brü­der füh­ren die von den El­tern ge­erb­te Fa­brik fort, mit gro­ßem Er­folg, wie es heißt und der be­ruht vor al­lem auf Diet­rich. Im Schlepp­tau der drei neu da­bei ist ei­ne blon­de Frau mit et­was un­or­dent­li­chen Haa­ren, Astrid Thor­blén, 35 Jah­re, »aus dem Nor­den«, ge­nau­er: Schwe­den, kom­mend. Die zän­ki­sche Bea­te lässt schon jetzt kein gu­tes Haar an Astrid, die aber für Hö­he­res vor­ge­se­hen ist: Sie soll die Ehe­frau des schüch­ter­nen, bra­ven Diet­rich wer­den. Sie sei, so hat wohl Ru­dolf be­schlos­sen, »die Rich­ti­ge«.

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Szc­ze­pan Twar­doch: Die Null­li­nie

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie
Szc­ze­pan Twar­doch:
Die Null­li­nie

Koń ist 45, Hi­sto­ri­ker, leb­te in War­schau und wie er in der an­de­ren Welt, »die es nicht mehr gibt«, ge­hei­ßen hat, wer­den wir nie er­fah­ren. Er hat­te sei­ne Woh­nung der gro­ßen Schwe­ster Ewa über­ge­ben und war auf­ge­bro­chen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Be­ginn des Ro­mans Die Null­li­nie von Szc­ze­pan Twar­doch zu­sam­men mit je­man­dem, der Rat­te ge­ru­fen wird. Den Na­men kennt der auf­merk­sa­me Twar­doch-Le­ser aus ei­ner Re­por­ta­ge, die im Ok­to­ber 2023 in der NZZ er­schie­nen war. Koń und Rat­te sit­zen in ei­nem Erd­loch, eu­phe­mi­stisch Un­ter­stand ge­nannt, auf der »fal­schen Sei­te« von »Va­ter Dnipro«, we­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt von der Null­li­nie. Dort sind sie, die »Rus­sacken«, oder, ver­ächt­li­cher: »Pä­do­rus­sen«. Ei­ne Kam­mer­spiel­sze­ne zu Be­ginn, mit dem er­zäh­len­den Koń, dem lust­los am to­ten Han­dy dad­deln­den Rat­te. Dem er­zählt Koń von sei­nem Groß­va­ter, der ukrai­ni­sche Wur­zeln hat­te und un­be­dingt woll­te, dass der En­kel ukrai­nisch sprach und, der, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, bei der SS-Ga­li­zi­en war. Er er­zählt von sei­nem pol­ni­schen Va­ter, der sich als Eu­ro­pä­er fühl­te, die Na­tio­na­lis­men ab­le­gen woll­te und sei­ner ver­knö­cher­ten Mut­ter. 2016 war Koń, der da­mals noch nicht Koń war, zum er­sten Mal in der Ukrai­ne, ein »ci­ty break« in Kiew, hier: Ky­jiw (was merk­wür­dig ist, zwi­schen den Lem­bergs und Kra­kaus). Ei­ne Stadt »wie ein Frei­licht­mu­se­um«, er schau­te sich noch die Spu­ren vom Mai­dan an und mach­te Be­kannt­schaft mit ei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Na­tio­na­lis­mus.

Wer ist hier Ro­bert Jor­dan?

Spä­ter, kurz vor der Un­ter­schrift, der Ver­pflich­tung, wie­der in Ky­jiw, sah er die um­trie­bi­gen Ge­schäfts­leu­te in den Lu­xus­ho­tels in ih­ren »gro­ßen, ge­pan­zer­ten Land Crui­sern«, wäh­rend er we­nig spä­ter in ei­nem al­ten, klapp­ri­gen Nis­san Na­va­ra zu den Stel­lun­gen fah­ren muss­te, was nicht ein­fach ge­we­sen war. Vor dem Ein­satz ein Be­such in ei­nem Lu­xus­re­stau­rant, das »Pic­co­li­no«, nichts Ukrai­ni­sches war hier, au­ßer auf den Kra­wat­ten der Kell­ner, dort war ein »auf­ge­stick­tes Folk­lo­re­mo­tiv« zu se­hen, an­son­sten blieb hier der Na­tio­na­lis­mus, der Pa­trio­tis­mus, drau­ßen und man ras­pel­te am Tisch dem Gast den Trüf­fel auf das »ide­al ge­hack­te Rind­fleisch«.

Und nun sitzt im an­de­ren, im »gu­ten Kel­ler« die­ser Stel­lung, Ja­go­da, der auch nicht Ja­go­da heißt, der meh­re­re Spra­chen spricht, ein Le­ser, mit Kind­le im Ruck­sack, mehr­spra­chig, der fünf Jah­re in Ber­lin ge­lebt und stu­diert hat­te, da­vor und da­nach dann je­weils die Ver­wand­lung zum Krie­ger, in­klu­si­ve drei­mo­na­ti­ger Ge­fan­gen­schaft bei den Rus­sen in Do­nezk. Ja­go­da ist es, der an He­ming­ways Wem die Stun­de schlägt denkt, an Ro­bert Jor­dan, der ei­ne Brücke spren­gen soll, »da­mit die Fa­schi­sten nicht durch­kom­men«. We­nig­stens wä­re das et­was Sinn­vol­les ge­we­sen, meint er, wäh­rend sie hier in ei­nem Loch sit­zen, fest­sit­zen, nur dass »Se­len­skyj mit sei­ner Sor­gen­mie­ne im kack­grü­nen Hemd auf den Kon­fe­ren­zen da­von fa­seln kann, dass ihr ei­nen Brücken­kopf auf die­ser Sei­te eu­res Va­ters Dnipro hal­tet, oh­ne ge­nau­er zu er­klä­ren, wo­zu das gut sein soll.«

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Chri­stoph Nar­holz: Wi­de Bo­di­ed Jets

Christoph Narholz: Wide Bodied Jets
Chri­stoph Nar­holz:
Wi­de Bo­di­ed Jets

Aber­mals ein Buch mit No­ta­ten, al­len­falls klei­nen Er­zäh­lun­gen, Ca­pric­ci­os, ei­ne im­mer stär­ker sich ver­brei­ten­de, sanf­te Form des Wi­der­stands ge­gen den Ro­man­fe­ti­schis­mus des Li­te­ra­tur­be­triebs. Wi­de Bo­di­ed Jets lau­tet der Ti­tel; nicht der ein­zi­ge An­gli­zis­mus. Man er­fährt, dass da­mit Trans­kon­ti­nen­tal­flug­zeu­ge be­zeich­net wer­den. Es gibt/gab da­von 76 bei der Luft­han­sa und al­le blie­ben wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie am Bo­den. Und 76 Ge­schich­ten sol­len es sein, so vie­le wie Jets. Am En­de sind es mehr als 80.

Es be­ginnt, wie der Au­tor es kurz dar­auf sel­ber nennt, »alt­mo­disch le­gen­den­haft« mit ei­ner Er­zäh­lung aus ei­nem klei­nen por­tu­gie­si­schen Ort vor zwei­hun­dert Jah­ren, drei hüb­schen Wirts­töch­tern, ei­nem Dau­er­ver­lieb­ten und dem Ver­such, die­se Zeit in der Ge­gen­wart des Dor­fes wie­der­zu­fin­den. Die­ser Ein­stieg er­weist sich als Glücks­fall, denn da­nach gibt es den er­sten von drei (oder sind es vier?) Selbst­dia­log-Ein­schü­ben. Zu­nächst wird hier dem Le­ser das Kon­zept er­klärt, dass all die­se Tex­te in der Co­ro­na-Zeit ent­stan­den sind (am En­de heißt es von »Spät­win­ter 2020 bis Som­mer 2022«), dass es wi­der die »kleb­ri­ge Trau­rig­keit von Chri­sti­an Kracht« (an­geb­lich ein Di­ede­rich­sen-Wort) geht und dass es vie­le un­ter­schied­li­che Er­zäh­ler gibt. So weit, so gut. Im wei­te­ren Ver­lauf der Selbst­ge­sprä­che wer­den al­ler­dings na­he­zu al­le po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen The­men der Zeit be­spro­chen wie bei­spiels­wei­se die Schwä­chen des Li­be­ra­lis­mus, die Not­wen­dig­keit ei­ner neu­en Rechts­ord­nung im An­thro­po­zän oder die Re­ak­tio­nen des Staa­tes in der Pan­de­mie. Aus­führ­lich kne­tet man die (da­mals ak­tu­el­len) Phi­lo­so­phen, Bru­no La­tour, Pe­ter Slo­ter­di­jk, Bo­ris Groys, Jür­gen Ha­ber­mas und Sla­voj Žižek, was bei je­man­den, der u. a. über Slo­ter­di­jk pro­mo­viert hat, nicht un­ge­wöhn­lich ist. Na­tür­lich gibt es dann auch Ein­ord­nun­gen zum Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne (die­ser Krieg wird schließ­lich als »Fe­mi­zid« klas­si­fi­ziert).

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Chri­sti­an Kracht: Air

Christian Kracht: Air
Chri­sti­an Kracht: Air

Chri­sti­an Krachts neu­er Ro­man Air be­ginnt in Strom­ness auf den Ork­ney-In­seln. Dort lebt Paul. Er ist In­nen­aus­stat­ter (»Home Stager«), küm­mert sich, war­um auch im­mer, um ei­ne ein­äu­gi­ge Kat­ze, liest ger­ne ein Zeit­geist-Ma­ga­zin und hat ein Bild von Ja­mes Ar­cher mit Mer­lin und Rit­ter Lan­ce­lot an der Wand hän­gen, das ihm der Her­zog von Cum­ber­land ge­schenkt hat­te, weil er für des­sen Sa­lon im Jagd­schloss ein ganz spe­zi­el­les Rot ge­fun­den hat­te. Da­nach ka­men dann Auf­trä­ge aus al­len Re­gio­nen. Paul wirkt ein biss­chen ge­lang­weilt, selbst das Po­lar­licht hat sei­nen Zau­ber ver­lo­ren. Er ha­dert mit Strom­ness, schwärmt für ein Haus auf der In­sel Ju­ra, »Barnhill« ge­nannt, weit weg von jeg­li­cher Zi­vi­li­sa­ti­on, das er nur von Bil­dern kennt«. Im­mer­hin lernt der Le­ser die ein­zi­ge Bäcke­rei von Strom­ness ken­nen. Er er­hält ei­ne Ein­la­dung nach Sta­van­ger. Dort möch­te man, das er das per­fek­te Weiß er­fin­det. Er fährt hin. Die Ka­pi­tel mit Paul sind mit un­ge­ra­den, rö­mi­schen Zah­len über­schrie­ben.

Il­dr ist neun Jah­re alt, lebt mit ei­ner ein­äu­gi­gen Eu­le in ei­nem nicht nä­her de­fi­nier­ten Land in ei­ner vor­mo­der­nen Zeit. Die Mut­ter ist am »Gel­ben Tod« ge­stor­ben, der Va­ter un­ter­wegs, das Le­ben ist hart. Manch­mal muss sie ja­gen, mit Pfeil und Bo­gen, so auch heu­te. Statt ei­nes Rehs hat sie al­ler­dings ei­nen Mann ge­trof­fen. Sie ist ent­setzt, nimmt den Frem­den mit. Man ent­fernt den Pfeil, Il­dr näht die Wun­den zu und gibt dem Mann von sei­nem wei­ßen Pul­ver. Als Sol­da­ten des Her­zogs von Tvi­ot an ih­re Tür klop­fen und nach ei­nem frem­den Mann fra­gen, lügt sie die­se an. Der Mann wird ge­sucht; er soll ein Er­fin­der sein, ein Ma­gi­er. Die Ka­pi­tel mit Il­dr und dem Frem­den sind mit ge­ra­den, rö­mi­schen Zah­len über­schrie­ben.

Wei­ter­le­sen ...