Abermals ein Buch mit Notaten, allenfalls kleinen Erzählungen, Capriccios, eine immer stärker sich verbreitende, sanfte Form des Widerstands gegen den Romanfetischismus des Literaturbetriebs. Wide Bodied Jets lautet der Titel; nicht der einzige Anglizismus. Man erfährt, dass damit Transkontinentalflugzeuge bezeichnet werden. Es gibt/gab davon 76 bei der Lufthansa und alle blieben während der Corona-Pandemie am Boden. Und 76 Geschichten sollen es sein, so viele wie Jets. Am Ende sind es mehr als 80.
Es beginnt, wie der Autor es kurz darauf selber nennt, »altmodisch legendenhaft« mit einer Erzählung aus einem kleinen portugiesischen Ort vor zweihundert Jahren, drei hübschen Wirtstöchtern, einem Dauerverliebten und dem Versuch, diese Zeit in der Gegenwart des Dorfes wiederzufinden. Dieser Einstieg erweist sich als Glücksfall, denn danach gibt es den ersten von drei (oder sind es vier?) Selbstdialog-Einschüben. Zunächst wird hier dem Leser das Konzept erklärt, dass all diese Texte in der Corona-Zeit entstanden sind (am Ende heißt es von »Spätwinter 2020 bis Sommer 2022«), dass es wider die »klebrige Traurigkeit von Christian Kracht« (angeblich ein Diederichsen-Wort) geht und dass es viele unterschiedliche Erzähler gibt. So weit, so gut. Im weiteren Verlauf der Selbstgespräche werden allerdings nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Themen der Zeit besprochen wie beispielsweise die Schwächen des Liberalismus, die Notwendigkeit einer neuen Rechtsordnung im Anthropozän oder die Reaktionen des Staates in der Pandemie. Ausführlich knetet man die (damals aktuellen) Philosophen, Bruno Latour, Peter Sloterdijk, Boris Groys, Jürgen Habermas und Slavoj Žižek, was bei jemanden, der u. a. über Sloterdijk promoviert hat, nicht ungewöhnlich ist. Natürlich gibt es dann auch Einordnungen zum Überfall Russlands auf die Ukraine (dieser Krieg wird schließlich als »Femizid« klassifiziert).
Christian Krachts neuer Roman Air beginnt in Stromness auf den Orkney-Inseln. Dort lebt Paul. Er ist Innenausstatter (»Home Stager«), kümmert sich, warum auch immer, um eine einäugige Katze, liest gerne ein Zeitgeist-Magazin und hat ein Bild von James Archer mit Merlin und Ritter Lancelot an der Wand hängen, das ihm der Herzog von Cumberland geschenkt hatte, weil er für dessen Salon im Jagdschloss ein ganz spezielles Rot gefunden hatte. Danach kamen dann Aufträge aus allen Regionen. Paul wirkt ein bisschen gelangweilt, selbst das Polarlicht hat seinen Zauber verloren. Er hadert mit Stromness, schwärmt für ein Haus auf der Insel Jura, »Barnhill« genannt, weit weg von jeglicher Zivilisation, das er nur von Bildern kennt«. Immerhin lernt der Leser die einzige Bäckerei von Stromness kennen. Er erhält eine Einladung nach Stavanger. Dort möchte man, das er das perfekte Weiß erfindet. Er fährt hin. Die Kapitel mit Paul sind mit ungeraden, römischen Zahlen überschrieben.
Ildr ist neun Jahre alt, lebt mit einer einäugigen Eule in einem nicht näher definierten Land in einer vormodernen Zeit. Die Mutter ist am »Gelben Tod« gestorben, der Vater unterwegs, das Leben ist hart. Manchmal muss sie jagen, mit Pfeil und Bogen, so auch heute. Statt eines Rehs hat sie allerdings einen Mann getroffen. Sie ist entsetzt, nimmt den Fremden mit. Man entfernt den Pfeil, Ildr näht die Wunden zu und gibt dem Mann von seinem weißen Pulver. Als Soldaten des Herzogs von Tviot an ihre Tür klopfen und nach einem fremden Mann fragen, lügt sie diese an. Der Mann wird gesucht; er soll ein Erfinder sein, ein Magier. Die Kapitel mit Ildr und dem Fremden sind mit geraden, römischen Zahlen überschrieben.
Siebzig »Mikroromane« auf etwas mehr als 250 Seiten präsentiert Christoph Ransmayr in seinem neuesten Buch mit dem zunächst leicht irritierenden Titel Egal wohin, Baby. Natürlich ist die Kategorie Mikroroman ein Widerspruch in sich, denn ein Text von drei oder fünf Seiten ist kein Roman. Aber Erzählungen im klassischen Sinn sind es auch nicht. Nach je einem Foto erfolgt der Text, der wiederum Ort und Gegenstand der Abbildung erläutert. Manchmal kommt es fast zum Erzählen, häufiger jedoch ist es ein Aufflackern einer Situation.
Zu Beginn jedoch eine Distanzierung: Hier erzähle kein Ich, kein Ransmayr, sondern wir sehen, erleben einen gewissen Lorcan, einen Namen »aus einem bislang nur aus Kritzeleien bestehenden, noch ungeschriebenen Roman, der den Titel tragen soll Swan oder Der Puls der Sterne und von der Entdeckung der wahren Größe des Universums handeln soll.«
Viele Orte und Erinnerungen dürfte Ransmayr-Lesern beispielsweise aus dem Atlas eines ängstlichen Mannes oder der Erzählungssammlung Als ich noch unsterblich war bekannt vorkommen und bisweilen wirken die hier konstruierten Mikroromane wie geraffte Wiedergaben der ausführlicheren Texte. Man sieht ihn unter anderem in der Arktis des Franz-Josef-Landes auf russischen Eisbrechern, in der Azteken-Metropole Tenochtitlán, beim indischen Sternenfest Tanabata, im oberösterreichischen Toten Gebirge, in der algerischen Erg-Oase auf dem Weg nach Timbuktu oder auf einer Nilfahrt. Er besucht die Robinson-Crusoe‑, Oster- und Pitcairn-Inseln, rätselt über die merkwürdigen Kugelgebilde auf der Champ-Insel, bewundert die subtropische Vielfalt des Gartens des Castlehaven House, bereist Handlungsorte der Illias und Odyssee und entwickelt am Grab Homers seine eigene Theorie über den Ursprung der beiden Epen. Seltener gibt es Ergänzungen zu den langen Texten, wie etwa über diese Buntstiftzeichnung von Emily Christian von den Pitcairn-Inseln, die Lorcan vom Kapitän des Schiffes geschenkt wurde, der ihn auf die Insel brachte. Emily war »ein siebenjähriges Mädchen und Nachfahrin des Steuermannsmaats und Anführers der Meuterer Fletcher Christian« und malte Pferde, obwohl sie noch nie welche gesehen hatte.
Der Blick nach oben zu einem Lämpchen, vielleicht gehört es ja zum Bratwursthäusle in Nürnberg, dem Ort der kleinen, vier Jahre nach seinem Tod erscheinenden, nachgelassenen Erzählung Ein Sonntag mit mir und Bier von Ludwig Fels. Ein Text, der nach Angabe des Verlags 2018 geschrieben wurde. Geringfügig sei er korrigiert und verändert worden, heißt es. Schade, dass man nicht mehr erfährt. Oder, besser: Schade, dass man es überhaupt erfährt. Das Büchlein wirkt aus sich selbst. Weg mit dem »Faulturm« der Kritik!
Ein »Selbstporträt im Gastgarten« ist der Untertitel. Und tatsächlich setzte sich der Schriftsteller Ludwig Fels an einem Sonntag in diesen Bier- oder Gastgarten und wollte dort einen Roman schreiben, oder mindestens ein Gedicht oder er ist Hauptfigur in einem Film mit sich zugleich als Regisseur oder alles gleichzeitig.
Zwischenzeitlich hatte man Ludwig Fels fast schon für einen österreichischen Schriftsteller gehalten, aber das war er nicht, obwohl er jahrzehntelang in Wien lebte. Er war ein »Vrange« (hochdeutsch: Franke) und zwar mehr als ihm lieb war, was sich jetzt in dieser Heimatbeschwörung mit vielen fränkischen Einsprengseln zeigt. Das Essen ist bestellt, die ersten Maß Bier wirken schnell. Er erinnert sich an Biergärten und deren Erzeugnisse in Antananarivo und Papua-Neuguinea, erträgt mannhaft die Busladungen Touristen in Wandertracht, die das Bratwursthäusle aufsuchen, imaginiert seine (vergebliche) Suche nach dem Yeti und setzt sich mit einem Mann mit Aktentasche auseinander, der ihm erklärt, dass er 20 Mark Honorar für einen Vierzeiler nicht ordnungsgemäss versteuert habe.
József Debreczeni wurde 1905 als József Bruner in Budapest geboren. Die jüdische Familie floh 1919 vor antijüdischen Pogromen in den ungarisch sprechenden Teil des damaligen Königreichs Jugoslawien. Unter dem Pseudonym Debreczeni verfasste Bruner Artikel und Kommentare, wurde Redakteur und Herausgeber überregionaler ungarischer Zeitungen und Magazine, schrieb aber auch Gedichte, Romane und Theaterstücke. Die ungarischen Rassegesetze des Horty-Regimes, einem Verbündeten Hitlers, beendeten 1938 die Möglichkeit der Publikation. Er zog in die Region Bačka (Vojvodina), die allerdings 1941 von Ungarn annektiert wurde. Debreczeni und seine Familie wurden in das Arbeitslager Bačka Topola deportiert. Am 1. April 1944 stieg er einen Waggon. Gerüchte sprachen von Auschwitz als Ziel.
Mit diesem Transport beginnt Kaltes Krematorium. Es endet irgendwann Anfang Mai 1945. József Debreczeni hat überlebt. Er ist frei. Sein »Bericht aus dem Land namens Auschwitz« (so der deutsche Untertitel) erschien 1950 in Jugoslawien. Von da an dauerte es nur etwas mehr als sieben Jahrzehnte bis es in Englische und nun von Timea Tankó ins Deutsche übersetzt wurde.
Über die Gründe der Missachtung des Buches kann nur spekuliert werden. Vielleicht weil es in Ungarisch geschrieben war? Ahnte Debreczeni die Reserviertheit, ja Ablehnung, sich mit diesen Menschenverbrechen zu beschäftigen? Dem Bericht ist ein Gedicht vorangestellt, dass einer gewisse Ahnung Ausdruck verleiht. Da heißt es unter anderem:
»Wozu die Jahreszeiten,
Wenn die Faschisten bleiben,
Leben wie Maden im Speck?
Ob meiner Mutter Mörder
Noch lebt als braver Bürger,
Nach seiner Sünden Beichte?«
Es endet fatalistisch:
»Ein bekannter Wind weht,
Neue Uniform trägt
Der Mörder meiner Mutter.«
Der Titel klingt zunächst etwas kompliziert: Konstruktive Dekonstruktionen. Es ist ein dezentes Wortspiel über die vom Autor Dieter Liewerscheidt eher skeptisch betrachteten Dekonstruktivisten. In siebzehn »Studien zur deutschen Literatur« (die meisten davon in den 2010er Jahren entstanden und in diversen Publikationen veröffentlicht) liest der 1946 geborene Literaturwissenschaftler markante Werke vom 18. bis 20. Jahrhundert noch ...
Jede Zeit kreiert ihre Erzählungen und Romane, die entweder zu Klassikern werden, in Vergessenheit geraten oder irgendwann mit Emphase vom Klassikerthron gestoßen werden. Und wenn die zeitgenössische Literatur wieder einmal droht, in eine Gleichförmigkeit zu versinken, blühen die Revivals, Variationen von altbekannten, einst bereits als unzeitgemäß denunzierte Romane und deren Motive, transformiert in die Gegenwart. Einer der Romane der Zeit scheint Der Zauberberg von Thomas Mann zu sein, fast genau vor einhundert Jahren erschienen. Der Publizist Jens Nordalm erklärte kürzlich in einem fulminanten Text, warum man gerade heute den Zauberberg lesen muss. Inmitten all der Aufgeregtheiten entdecken Literaten plötzlich den Eskapismus als letzten Ausweg. Es ist der Wunsch nach Abgeschiedenheit von der zunehmend als kompliziert wahrgenommenen, überfordernden Welt mit der Möglichkeit der Überwindung von Lebens- und/oder Liebeskrisen. Olga Tokarczuk verlagerte 2023 ihr Zauberberg-Setting nach Niederschlesien, Timon Karl Kaleyta schickte seinen letzten Romanhelden in ein Sanatorium, Monika Zeiner ließ in Hans-Castorp-Manier das schwarze Schaf einer Industriellenfamilie am Ort seiner Kindheit seine Jugenderinnerungen auffrischen und Norman Ohler verfasste einen Klimawandel-Roman mit Zauberberg-Elementen (damit jeder darauf kommt, ist er im Titel schon erwähnt).
Und jetzt auch noch Heinz Strunk, der vor einigen Jahren bereits aus Thomas Manns Tod in Venedig einen Sommer in Niendorf häkelte. Sein neuestes Buch heißt Zauberberg 2. Der Held heißt Jonas Heidbrink, ist 1986 geboren. Er fährt mit 36 Jahren und rund 180 kg Gepäck in eine bis zum Schluss namenlos bleibende Klinik, 4 Stunden 52 Minuten Fahrzeit entfernt in der Nähe eines Sumpfgebiets in Mecklenburg-Vorpommern (womöglich in der Nähe von Botho Strauß’ Wohnsitz – Strunk ist Strauß-Aficionado). Heidbrinks Kontrakt läuft auf dreißig Tage, der Aufenthalt ist mit 823 Euro am Tag nicht gerade billig, aber er kann es sich leisten, weil sein Start-up wurde vor einiger Zeit aufgekauft wurde. Zwar bedeutet dies nach Lage der Dinge, das er ausgesorgt hat, aber die depressiven Zustände, bereits vor der Start-up-Gründung vorhanden, während der Zeit in dieser Firma jedoch ruhten, traten jetzt wieder hervor: Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit gepaart mit Angst- und Panikzuständen.
Das 25 m²-Zimmer ist zunächst ein bisschen kalt, ansonsten oberer Standard. Die Mahlzeiten (»Deutsches Soulfood«) werden in einem Speisesaal eingenommen, der Tisch, an dem man sitzt, wird zugeteilt. Es gibt Aufnahmeuntersuchungen – zunächst die psychologische, dann die medizinische. Zu seiner eigenen Überraschung werden ein Nierentumor und ein Melanom festgestellt. Letzteres wird noch am gleichen Tag der Entdeckung entfernt. Am Ende wird für beide Fälle Entwarnung gegeben.
Heidbrink findet schwer Kontakt, was auch daran liegt, dass er meist alleine an seinem Sechsertisch sitzt und die Mahlzeiten serviert bekommt. Der Tag ist mit den Mahlzeiten, Untersuchungen und Therapie- und Gruppenterminen gut strukturiert. Ab und an gibt es einen »Kulturabend«. Eine Spielerunde der »Patienten« (die bevorzugte Bezeichnung der Bewohner) gibt es auch, aber Heidbrink kann kein Doppelkopf spielen.
Der Roman plätschert. Immerhin: In der Beschreibung der Heidbrink begegnenden Ärzte, Klinikangestellten und Patienten läuft Heinz Strunk zu großer Form auf. Mal ist jemand »so mager, dass sie wie ihr eigenes Röntgenfoto aussieht«, oder, eine andere Teilnehmerin, fällt durch ihre »spargelige, friedlich-freundlich-vegan/vegatarische« Erscheinung auf. Uwe aus Dormagen ist dick und »triefäugig«, sein Körper hat »Ähnlichkeit mit einer Kirchenglocke«, Simons Stirn »ist von einem Spiralnebel entzündlicher Pusteln übersät«. Weibliche Wangen haben die Durchsichtigkeit in »Sushi-Qualität«, ein anderes Gesicht sieht aus wie ein »Trockenpilz«, ein »liegendes Fünfeck« oder es »glänzt wie eine kalte Bratkartoffel«. Doreen hat Tränensäcke »wie geschmolzenes Kerzenwachs«. Große Phantasie braucht man bei der Vorstellung eines Körpergeruchs, »als hätte man Bleistiftspäne destilliert«.