Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

József Debreczeni: Kaltes Krematorium

Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

Józ­sef De­brec­ze­ni wur­de 1905 als Józ­sef Bru­ner in Bu­da­pest ge­bo­ren. Die jü­di­sche Fa­mi­lie floh 1919 vor an­ti­jü­di­schen Po­gro­men in den un­ga­risch spre­chen­den Teil des da­ma­li­gen Kö­nig­reichs Ju­go­sla­wi­en. Un­ter dem Pseud­onym De­brec­ze­ni ver­fass­te Bru­ner Ar­ti­kel und Kom­men­ta­re, wur­de Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber über­re­gio­na­ler un­ga­ri­scher Zei­tun­gen und Ma­ga­zi­ne, schrieb aber auch Ge­dich­te, Ro­ma­ne und Thea­ter­stücke. Die un­ga­ri­schen Ras­se­ge­set­ze des Hor­ty-Re­gimes, ei­nem Ver­bün­de­ten Hit­lers, be­en­de­ten 1938 die Mög­lich­keit der Pu­bli­ka­ti­on. Er zog in die Re­gi­on Bač­ka (Voj­vo­di­na), die al­ler­dings 1941 von Un­garn an­nek­tiert wur­de. De­brec­ze­ni und sei­ne Fa­mi­lie wur­den in das Ar­beits­la­ger Bač­ka To­pola de­por­tiert. Am 1. April 1944 stieg er ei­nen Wag­gon. Ge­rüch­te spra­chen von Ausch­witz als Ziel.

Mit die­sem Trans­port be­ginnt Kal­tes Kre­ma­to­ri­um. Es en­det ir­gend­wann An­fang Mai 1945. Józ­sef De­brec­ze­ni hat über­lebt. Er ist frei. Sein »Be­richt aus dem Land na­mens Ausch­witz« (so der deut­sche Un­ter­ti­tel) er­schien 1950 in Ju­go­sla­wi­en. Von da an dau­er­te es nur et­was mehr als sie­ben Jahr­zehn­te bis es in Eng­li­sche und nun von Ti­mea Tan­kó ins Deut­sche über­setzt wur­de.

Über die Grün­de der Miss­ach­tung des Bu­ches kann nur spe­ku­liert wer­den. Viel­leicht weil es in Un­ga­risch ge­schrie­ben war? Ahn­te De­brec­ze­ni die Re­ser­viert­heit, ja Ab­leh­nung, sich mit die­sen Men­schen­ver­bre­chen zu be­schäf­ti­gen? Dem Be­richt ist ein Ge­dicht vor­an­ge­stellt, dass ei­ner ge­wis­se Ah­nung Aus­druck ver­leiht. Da heißt es un­ter an­de­rem:

»Wo­zu die Jah­res­zei­ten,
Wenn die Fa­schi­sten blei­ben,
Le­ben wie Ma­den im Speck?

Ob mei­ner Mut­ter Mör­der
Noch lebt als bra­ver Bür­ger,
Nach sei­ner Sün­den Beich­te?«

Es en­det fa­ta­li­stisch:

»Ein be­kann­ter Wind weht,
Neue Uni­form trägt
Der Mör­der mei­ner Mut­ter.«

Lei­der gibt es kei­ne edi­to­ri­schen An­ga­ben, so dass un­klar ist, ob die­ses Ge­dicht be­reits im Buch von 1950 ab­ge­druckt ist. Das wä­re da­mals von den kom­mu­ni­sti­schen Macht­ha­bern in Un­garn und Ju­go­sla­wi­en si­cher­lich als Af­front ge­wer­tet wor­den.

Und wer war da­mals, in den 1950er Jah­ren, in Deutsch­land ernst­haft an fremd­spra­chi­ger Li­te­ra­tur über die Sho­ah in­ter­es­siert? Die in der Bun­des­re­pu­blik eta­blier­te Schrift­stel­ler­ver­ei­ni­gung »Grup­pe 47« be­stand zu Be­ginn mehr­heit­lich aus ehe­ma­li­gen Wehr­macht­sol­da­ten. Man ver­zich­te­te de­zi­diert auf rück­keh­ren­de Exi­lan­ten. Und Paul Ce­lan, der 1952 ein­ge­la­den wur­de, ir­ri­tier­te das Gros der Au­toren und Kri­ti­ker.

Si­cher, es gab Pri­mo Le­vis Er­in­ne­run­gen. Und Jean Amé­ry. Aber bei­den er­schei­nen eher ei­ne Aus­nah­me zu sein. Die von Ca­ro­lin Emcke im Nach­wort er­wähn­ten Wer­ke von Char­lot­te Del­bo und Ruth Klü­ger ka­men erst An­fang der 1990er Jah­re in die deutsch­spra­chi­ge Öf­fent­lich­keit. Wie auch Im­re Ker­té­sz’ Ro­man ei­nes Schick­sal­lo­sen, der seit sei­ner Pu­bli­ka­ti­on 1975 in ei­nem klei­nen Ver­lag in Un­garn na­he­zu un­be­ach­tet blieb. Ei­nem gro­ßen Pu­bli­kum wur­den li­te­ra­ri­sche Zeug­nis­se von Ho­lo­caust-Über­le­ben­den erst mit jahr­zehn­te­lan­ger Ver­spä­tung an­ge­bo­ten. Auch weil vie­le Au­toren aus fal­scher Scham lan­ge schwie­gen. Es war dann aus­ge­rech­net das Fern­se­hen, dass 1979 mit der Aus­strah­lung der US-ame­ri­ka­ni­schen Mi­ni­se­rie Ho­lo­caust, in der das furcht­ba­re Schick­sal der fik­ti­ven Fa­mi­lie Weiss mit al­ler Deut­lich­keit ge­zeigt wur­de, den Bann bra­chen. Wie groß die Ab­leh­nung der Ge­sell­schaft, sich mit den in deut­schem Na­men ver­üb­ten Ver­bre­chen aus­ein­an­der­zu­set­zen, war, zeig­te sich un­ter an­de­rem dar­an, dass die vier Fol­gen zu­nächst nicht in der ARD, son­dern nur in ei­ni­gen Drit­ten Pro­gram­men aus­ge­strahlt wur­de.

Und nun al­so Józ­sef De­brec­ze­ni. Die Par­al­le­le zu Pri­mo Le­vi bie­tet sich nicht nur auf­grund der frü­hen Ver­öf­fent­li­chung an, denn auch De­brec­ze­ni ver­fass­te ei­ne Art Be­richt. Die­ser ist aus der Er­in­ne­rung des Au­tors nach­träg­lich ent­stan­den. Der Ich-Er­zäh­ler kann mit Józ­sef De­brec­ze­ni gleich­ge­setzt wer­den. In­dem häu­fig im Prä­sens er­zählt wird, wird beim Le­ser ei­ne be­son­ders be­klem­men­de In­ten­si­tät er­zeugt. Die Wie­der­ga­be der Er­eig­nis­se ist chro­no­lo­gisch. Nur sel­ten fin­den sich Vor­grif­fe oder nach­träg­lich ein­ge­streu­tes Wis­sen. Ei­ne Aus­nah­me macht er bei der Schil­de­rung des Schick­sals von Já­nos Váz­sonyi, »Sohn des ehe­ma­li­gen jü­di­schen Ju­stiz­mi­ni­sters«, mit dem such De­brec­ze­ni be­son­ders ver­bun­den fühl­te und der die Tor­tur sei­ner Pei­ni­ger zwar über­lebt hat­te, aber im Au­gust 1945 in Han­no­ver starb.

De­brec­ze­nis Be­richt ist von be­mer­kens­wer­ter Nüch­tern­heit. Ob es die Be­schrei­bun­gen der grau­en­vol­len Zu­stän­de wäh­rend der Trans­por­te der Häft­lin­ge oder die aus­führ­li­chen Dar­le­gun­gen der mit Fä­ka­li­en über­sä­ten Zelt- und La­ger­un­ter­künf­te sind – al­les wird de­tail­liert, un­ver­blümt, den­noch bei­na­he ge­las­sen be­schrie­ben. Er nennt die Men­schen­quä­ler zwar Skla­ven­trei­ber, aber spricht nie von Ra­che (ob­wohl er Ra­che­ak­tio­nen von Häft­lin­gen un­ter­ein­an­der mit­be­kommt). Ge­ra­de die­se Di­stanz trotz der (durch das Schrei­ben evo­zier­ten) Un­mit­tel­bar­keit und Be­trof­fen­heit ver­schafft dem Ge­schrie­be­nen ei­ne be­son­de­re Kraft und Nach­druck.

Es sind be­son­ders zwei Er­eig­nis­se, die ei­nem den Atem stocken las­sen. Zum ei­nen die An­kunft in Ausch­witz. Er schil­dert die Se­lek­ti­on: »Der Mann mit dem Pa­pier sieht je­den von uns an und deu­tet nach rechts oder nach links. […] Nach rechts oder links. In die Skla­ve­rei oder den Tod durch Gas. Wer es über­leb­te, wuss­te bald, was es be­deu­tet hat­te, nach links zu ge­hen. Doch da­mals wuss­ten wir es noch nicht. Der ent­schei­den­de Au­gen­blick ver­flog un­er­kannt zwi­schen den an­de­ren.« Aber das war noch nicht das En­de. Die be­son­de­re Nie­der­tracht zeigt sich in ei­ner schein­bar groß­zü­gi­gen Ge­ste. Denn plötz­lich ver­kün­det ein Deut­scher an die Män­ner auf der rech­ten Sei­te, dass es bis zum La­ger zehn Ki­lo­me­ter zu Fuß sei­en. »Wer von de­nen auf der rech­ten Sei­te sich nicht stark ge­nug für den Marsch fühlt, kann zur an­de­ren wech­seln.« Sie wür­den dann mit de­nen auf der lin­ken Sei­te mit dem LKW zum La­ger ge­fah­ren. Man sieht sich an. »Vie­le wech­seln die Rei­he. Auch ich ma­che ei­ne un­will­kür­li­che Be­we­gung in die Rich­tung, doch er­blicke ich in dem Mo­ment ei­nen der Lei­chen­kar­ren. Er pol­tert vor den Säu­len in ei­ner Ent­fer­nung von ei­ni­gen Me­tern an uns vor­bei. Der Häft­ling, der ihn zieht, sieht uns nicht an, sagt nur mit ge­dämpf­ter Stim­me: ›Hier­blei­ben! Nur zu Fuß! Nur zu Fuß!‹«

Für De­brec­ze­ni be­ginnt ei­ne Odys­see durch meh­re­re La­ger (ei­ne Kar­te zu Be­ginn zeich­net den Lei­dens­weg nach). Je­des Mal po­ten­ziert sich noch ein­mal die Ent­mensch­li­chung. Die Zwangs­ar­beit ist furcht­bar; teil­wei­se muss er 14 Stun­den schuf­ten, dann gibt es noch Ap­pel­le, bei de­nen man die Häft­lin­ge auch schon mal drei Stun­den im Re­gen ste­hen lässt. Die Ver­sor­gung ist ka­ta­stro­phal. Den lo­gi­sti­sche Auf­wand, den die Na­zis be­trie­ben, um halb­to­te Ge­fan­ge­ne Schwerst­ar­bei­ten auf­zu­bür­den und sie von ei­nem La­ger ins an­de­re zu trans­por­tie­ren, ist nur mit ih­rem un­end­li­chen Ju­den­hass zu er­klä­ren. Dies zeigt sich an ei­ner be­son­ders grau­sa­men Stel­le, als ein Kom­man­dant nach dem be­sten Mann fragt. Die­ser tritt vor und wird von dem SS-Mann vor al­ler Au­gen er­schos­sen. Der Mör­der »lä­chelt still«. »›Das war ei­ne klei­ne De­mon­stra­ti­on‹, sagt er, ›um zu ver­an­schau­li­chen, dass selbst der be­ste Ju­de kre­pie­ren muss.‹«

Auch in­ner­halb der Häft­lin­ge gibt es we­nig Zu­sam­men­halt. Man stiehlt sich ge­gen­sei­tig das Brot, Klei­dung oder Ta­bak. Schon ei­ne ro­sti­ge Do­se weckt Be­gehr­lich­kei­ten. Wer nicht ei­nen un­be­ding­ten und bis­wei­len ge­gen­über an­de­ren rück­sichts­lo­sen Über­le­bens­wil­len hat, geht rasch un­ter. Mit schnei­den­der Prä­zi­si­on er­läu­tert De­brec­ze­ni die La­ger­hier­ar­chien, die von den SS-Leu­ten vor Ort in per­fi­der Art und Wei­se kul­ti­viert wer­den. Er fin­det ein sehr aus­ge­klü­gel­tes Sy­stem von Ka­pos vor, al­so Häft­lin­gen, die als Stuben‑, Block- oder La­ge­räl­te­ste (nebst Ver­tre­tern und Ver­tre­tern der Ver­tre­ter) ge­gen Ent­loh­nun­gen wie bes­se­re Nah­rung oder den stets be­gehr­ten Zi­ga­ret­ten ganz oder zeit­wei­se in die Rol­le der SS-Scher­gen schlüp­fen. Skla­ven, die Skla­ven ver­prü­gel­ten, er­nied­rig­ten, de­nun­zier­ten. Die­se Ka­pos sind zu­wei­len noch bru­ta­ler und rück­sichts­lo­ser als die SS, die da­durch im Lau­fe der Zeit im­mer we­ni­ger in Er­schei­nung tre­ten.

Im No­vem­ber 1944 kommt De­brec­ze­ni halb­tot, 35 kg wie­gend, nackt, nach Dörn­hau, ei­nem Au­ßen­la­ger des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Groß-Ro­sen. Die Furcht, nach Bir­ken­au ver­bracht zu wer­den, war groß. Dörn­hau nennt er denn fast zy­nisch »kal­tes Kre­ma­to­ri­um«. Rasch wird er in ei­ne Art Kran­ken- oder Ver­sehr­ten­un­ter­kunft ver­bracht. Ir­gend­wann steht der »Jau­che­bach zwi­schen den Pritschen…in Knie­hö­he«. Er be­kommt noch Fleck­fie­ber, aber es gibt ei­nen Arzt, der sich sei­ner und ei­ni­ger an­de­rer er­barmt.

Al­le be­rei­ten sich auf die Be­frei­ung vor; die Nach­rich­ten, die durch­sickern, sind po­si­tiv, die Na­zi-Ar­mee steht über­all vor dem Kol­laps. Man sehnt den Au­gen­blick her­bei, hat gleich­zei­tig Furcht da­vor, was die SS ma­chen wird, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht. Und dann ist es so­weit: Ei­nes Mor­gens, als man die Ver­pfle­gun­gen ho­len will, sind die SS-Leu­te und vie­le ih­rer Ka­pos ge­flo­hen. Die sehn­suchts­voll er­war­te­ten so­wje­ti­schen Be­frei­er las­sen al­ler­dings auf sich war­ten. Und dann ent­steht der zwei­te dro­hen­de Kipp­punkt in die­sen schau­er­li­chen 14 Mo­na­ten: Die An­ar­chie bricht aus, es gibt Plün­de­run­gen: »Die Kü­chen­leu­te ver­wei­gern – aus ih­rer Sicht ver­ständ­li­cher­wei­se – die Ar­beit, ob­wohl es in den auf­ge­bro­che­nen La­gern, mit Aus­nah­me von Brot, Le­bens­mit­tel für meh­re­re Ta­ge gibt. Die mei­sten der ge­sun­den Häft­lin­ge und de­rer, die zu­min­dest nicht bett­lä­ge­rig sind, al­so die, die ein we­nig ge­putzt, die Lei­chen weg­ge­bracht, sich um die Ei­mer ge­küm­mert und das Es­sen ver­teilt ha­ben, sind ge­gan­gen. Die Hier­ge­blie­be­nen zie­hen mit Hand­gra­na­ten und Ma­schi­nen­ge­weh­ren um­her.« Die Fleck­fie­ber­epi­de­mie ist noch nicht vor­bei. Wer kann, bricht auf, ver­sucht, nach Hau­se zu kom­men, wie auch im­mer. De­brec­ze­ni ist das ver­wehrt, er kann nicht mehr ge­hen, ist voll­kom­men macht­los und fühlt sich noch mehr aus­ge­lie­fert. Die Ret­tung kommt dann nach ei­ni­gen Ta­gen durch so­wje­ti­sche Sa­ni­tä­ter.

Auch wenn der Le­ser im­mer weiß, dass es Józ­sef De­brec­ze­ni ge­schafft hat – die Lek­tü­re hin­ter­lässt Wir­kung, auch wenn man vie­les glaubt ge­le­sen, ge­se­hen oder ge­hört zu ha­ben. Es ist ein be­son­de­rer Ton, der hier an­ge­schla­gen wird, fin­det und sich nicht scheut, bis­wei­len sar­ka­stisch zu wer­den. Ei­ne Ver­frem­dung oder Li­te­r­a­ri­sie­rung fin­det nicht statt. Der Au­tor bleibt bei der Sa­che.

De­brec­ze­ni starb 1978. Im zwei­ten Nach­wort be­rich­tet Alex­an­der Bru­ner, ein En­kel, dass Józ­sef De­brec­ze­nis El­tern und sei­ne Frau Len­ka von den Na­zis er­mor­det wur­den. Und dass der On­kel, da­mals im di­plo­ma­ti­schen Dienst für Ju­go­sla­wi­en, ver­geb­lich ver­sucht hat­te, ame­ri­ka­ni­sche Ver­le­ger für Über­set­zung und Ver­öf­fent­li­chung sei­nes Bu­ches zu ge­win­nen. Auch dort al­so.

Kal­tes Kre­ma­to­ri­um wür­de sich ka­pi­tel­wei­se her­vor­ra­gend als Schul­lek­tü­re eig­nen. Zu­sam­men mit Vic­tor Klem­pe­rers Ta­ge­bü­chern von 1933–45 aus Dres­den (Ich will Zeug­nis ab­le­gen bis zum letz­ten) er­ge­ben sie ein um­fas­sen­des Bild der Na­zi-Dik­ta­tur und ih­rer Tä­ter.

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