Nun ist man allerdings der Original-Fälschungen Kujaus habhaft geworden, hat sie transkribiert und setzt zum erneuten Scoop an. Fast zeitgleich veröffentlichen der NDR (angekündigt in der Sendung Reschke-Fernsehen) und der März-Verlag Kujaus Fälschungen. Der NDR bietet zusätzlich eine Volltextsuche der (digitalisierten) »Tagebücher« an. Kommentiert werden die Eintragungen in beiden Medien von Hajo Funke. Sowohl die Erläuterungen des Herausgebers des Buches John Goetz als auch die historischen Einordnungen von Heike B. Görtemaker finden sich im Buch wie auch auf der NDR-Seite. Interessant ist, dass auf der NDR-Seite kein einziger Hinweis auf das Buch im März-Verlag zu finden ist.
Die zahlreichen Publikationen wie beispielsweise die Kulturgeschichte der Hände (2021), die Monografie »Gott, Geld und Medien« (2004), ein Essay über das »Wissen der Literatur« (2007), Martin Luther (2020), Richard Wagners Theorietheater (2015) oder der »Wut des Verstehens« (1988/2011) machen Jochen Hörisch (Jahrgang 1951) zu einer gerne befragten Persönlichkeit. Er erscheint dabei wie eine Art kulturwissenschaftlicher ...
Die norwegische Polit-Serie »Occupied« (deutsche Ergänzung: »Die Besatzung«) von 2015 spielt, wie es zu Beginn heißt, in einer nicht fernen Zukunft. Der wichtigste Punkt dieser hochgelobten Serie wird gleich am Anfang in einem Halbsatz abgehandelt: Die USA ist nicht mehr in der NATO. Das Bündnis spielt daher im weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Der norwegische Ministerpräsident Berg will sein Wahlversprechen einlösen, gegen den globalen Klimawandel vorangehen und stoppt alle Gas- und Öllieferungen an die EU. Als Alternative wird die sogenannte »Thorium«-Technik vorgestellt; eine Art grüner Atomstrom (pikanterweise ist hier Bergs Frau involviert). Der Widerstand gegen diese unabgestimmte ad-hoc-Maßnahme ist in Europa verständlicherweise sehr groß. Auch Russland hat kein Interesse an ein sofortiges Ende der fossilen Energie. In einer Allianz zwischen der EU und Russland wird Druck auf Norwegen aufgebaut (nur zur Erinnerung: Norwegen ist nicht Mitglied der EU und ist es auch in der Serie nicht).
Aber Russland geht weiter. Man besetzt norwegische Förderanlagen und Bohrplattformen, um die Weiterversorgung zu betreiben. Es scheint so, als sei dies mit der EU abgestimmt. Berg wird zu Beginn kurz entführt und auf eine Änderung seiner Thorium-Politik eingeschworen. Das lehnt er zunächst ab, beugt sich dann jedoch und fährt die fossilen Ausbeutungen wieder hoch. Russland findet immer neue Details, um ein festes Abzugsdatum hinauszuzögern. Als sich ein Widerstand formiert, tritt man als Schutzmacht auf – für Norwegen und die Energieversorgung der EU. Berg wird fast schlagartig zum Realpolitiker, spielt die russische Intervention offiziell herunter. Minister treten zurück und man legt auch Berg den Rücktritt nahe, aber da die Partei in der Nachfolgefrage zerstritten ist, bleibt er. Zum Gegenpart der Regierung wird die russische Botschafterin Sidorova – andere russische Politiker weigern sich mit Berg zu reden (nur einmal kommt der Außenminister kurz ins Spiel).
Eine weitere Hauptfigur ist der Sicherheitsmann Hans Martin Djupvik, der zu Beginn der russischen Botschafterin das Leben rettet und nun sukzessive innerhalb des norwegischen Inlandsgeheimdienstes PST aufsteigt. Mehr als einmal wird er als Vermittler zwischen Russland und Norwegen eingesetzt – was allerdings mit der Zeit ermüdet. Schließlich wird er von Berg als Doppelagent eingesetzt; diese Szenen überzeugen nicht. Auch der Investigativjournalist Thomas Eriksen wirkt mit seiner ewigen Umhängetasche ein bisschen klischeebeladen.
Interessant ist die Serie, an der unter anderem auch der Beststellerautor Jo Nesbø mitgeschrieben hatte, im Aufzeigen der politischen Eskalationsspirale. Die zunächst eher marginalisierte Unabhängigkeitsbewegung »Fritt Norge« (»Freies Norwegen«), die heimlich von der unheilbar kranken PST-Chefin Arnesen unterstützt wird, erhält immer mehr Zulauf. Gelungen ist die Darstellung des zunächst auf Ausgleich mit Russland bedachten Regierungschefs, der glaubt mit Entgegenkommen die Russen schnell zum Abzug bewegen zu können. Durch gezielten Terror, der auch vor der Ermordung eigener Landsleute nicht zurückschreckt, sabotieren die Russen jedoch jeglichen Ausgleich. Später wird Berg bekennen, dass man seine sozialdemokratische Sicht auf Politik missbraucht hat.
»Mein abenteuerliches Herz I« – schon im Titel findet man diese Mischung aus Anspruch und Anmaßung. Es wird beim Aufschlagen noch deutlicher: Der Autor Heimo Schwilk mit Ernst Jünger 1988 im Gespräch. So muss ein Jünger-Biograph seine Tagebuchaufzeichnungen nennen und beginnen, denkt man. Die römische Ziffer lässt zudem einen zweiten Band erwarten. Der erste umfasst Eintragungen vom 3. Februar 1983 bis zum 1. Januar 2000. Diese werden ohne jede Gliederung chronologisch aufgeführt – mit Ortszeile und Datum. So fliegen die Jahre dahin, wenn man nicht immer genau auf das Datum schaut. Es zeigt sich, dass die Einträge meist etwas später entstanden sind und Ereignisse einiger Tage zuvor zusammenfassen.
Zu Beginn ist Schwilk 31 Jahre alt und versucht, in Kontakt mit Ernst Jünger zu kommen. Anderthalb Jahre später – im Buch sind es noch nicht einmal 30 Seiten – ist es soweit. Er sitzt in Wilflingen mit Ernst und Liselotte Jünger zusammen. Eine Biographie kann es nicht mehr werden (daran arbeitete bereits der NZZ-Mann Martin Meyer). Mit Klett-Cotta hatte man sich aber auf eine Bildbiographie verständigt. Mehrere Sitzungen und Sichtungen in Wilflingen. Parallel plante Schwilk eine Dissertation über die Jünger-Tagebücher und überlegt, inwiefern diese Stilisierungen enthalten.
Die Frage stellt sich natürlich auch für die vorliegenden 634 Seiten. Damit keine Zweifel aufkommen, verortet sich Schwilk schon im (glücklicherweise knappen) Vorwort bei den »reflexiven Diaristen« wie Jünger und Gide. Nichts werde beschönigt, so das Versprechen. Tapferkeit gegen den Mainstream wird angekündigt. Mit dem Untertitel »Aus den Tagebüchern…« legt man allerdings den Schluss nahe, dass es durchaus Streichungen gibt. Und nach der Lektüre hätte man sich sicherlich viele (weitere?) Auslassungen gewünscht. Etwa all die privaten Probleme und Problemchen, die Ehekonflikte, seine Episoden über die Kinder – kurz: all das, was privat und intim bleiben sollte, denn ein Journalist ist nicht wie ein Schriftsteller eine öffentliche Figur (wobei man auch hier streiten kann, ob beispielsweise die Idiosynkrasien eines Thomas Mann immer relevant für sein Werk sind). Weniger wäre mehr gewesen, vor allem im Hinblick auf die Gegenwart. Diskretion ist keine Kernkompetenz von Heimo Schwilk.
»Der Winter der Literatur« lautet der Untertitel von Uwe Wittstocks »Februar 33«. Es ist die Zeit vom 28. Januar 1933 bis zum 15. März 1933, die er Revue passieren lässt, 47 Tage in 35 chronologisch geordneten Kapiteln. Sie erzählen vom Beginn eines gewaltigen Epochenbruchs, einer furchtbaren Zeit, an dessen Ende Millionen von Toten zu beklagen sind. Das Buch beginnt harmlos mit dem Presseball, dem letzten großen Fest in Berlin, auf dem sich auch Schriftsteller und Künstler zeigen. Kurz darauf folgt der »Regierungsantritt« Hitlers, durch Hindenburgs Ernennung. Das, was vor ein paar Tagen noch unmöglich schien, trat ein. Viele glaubten, dass die neue Regierung wie so viele andere zuvor nicht lange bestehen würde. Dann muss man an die Einleitung denken: man wusste damals schlichtweg noch nicht, was das bedeutete – mit dem heutigen Wissen ist es leicht, einige Protagonisten ob ihrer vermeintlichen Naivität zu zeihen.
Die Form des Buches erinnert zunächst an das kollektive Tagebuch »Echolot« von Walter Kempowski. Hier wurden Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen, Zeitungsartikel oder Notizen von prominenten und weniger prominenten Persönlichkeiten im Original und weitgehend unbearbeitet chronologisch auf tausenden von Seiten nebeneinander publiziert. Von Kempowski stammte lediglich das kurze Vorwort. Vor allem ist hier das »Echolot« zu nennen, welches in vier Bänden den Zeitraum von 1. Januar 1943 bis 28. Februar 1943 umfasst. Ein beeindruckendes Werk, in dem der Anfang vom Ende – Stalingrad fällt – der Höhepunkt darstellt (vielen ist auch damals die Dimension nicht deutlich). Wittstock macht es jedoch anders: Er erzählt aufgrund der ihm vorliegenden Dokumente (die am Ende genannt werden) in einer Art Doku-Drama-Stil (ohne Fuß- oder Endnoten). Um eine größere Unmittelbarkeit zu erzeugen, schreibt er im Präsens. Kurz kommt einem Florian Illies’ »1913« in den Sinn, aber Wittstock verfällt glücklicherweise nicht den phantasmagorischen Zampano-Stil von Illies.
Nicht immer erscheinen Erfindungen des Autors und die »Tatsachenberichte« sauber getrennt. Manchmal gibt es wertende (überflüssige) Einschübe, etwa wenn einmal von den »besten Zeitungen« die Rede ist, bei denen jemand gearbeitet hat oder eine Reportage »sensationell« war. Das sind vermutlich die »Interpretationsfreiheiten«, von denen Wittstock zu Beginn schreibt. Hinzu kommt, dass mitunter auch die Original-Quellen nicht immer historisch zuverlässig sind, etwa wenn sie mit großen zeitlichen Abstand verfasst wurden. Im Nachwort gibt Wittstock an, dass er, wenn möglich, Dokumente präferiert hat, die »parallel zu den Ereignissen entstanden« seien.
»Dreizehn alltägliche Phantasiestücke« werden in Karl Heinz Bohrers neuesten, posthum erschienenen Buch »Was alles so vorkommt« versprochen. Es beginnt auch sogleich mit einer für Bohrer zum Alltäglichen gehörenden Situation: einer Bahnfahrt von Köln über Brüssel bis nach London. Nur, dass die in einem Hitzesommer stattfindet und, wie sich nach Stunden herausstellt, die Gleise derart von der Sonneneinstrahlung mitgenommen sind, dass man große Umwege und ungewisse Verspätungen zu ertragen hat. »Das bisher als sicherstes geltende System, das so lange Vertrauen erweckende Gefährt, war außer Kontrolle geraten, ohne dass jemand es erklären konnte«, so die wahrhaft existentialistische Erfahrung, die, wie er fast pathetisch schreibt, auch seine Erfahrungen aus der Kriegszeit noch übertreffe.
Zwischendurch fahren Bohrer und (so nimmt man an) seine Frau an Mönchengladbach vorbei, passieren im Schritttempo Geilenkirchen. Er kommt ins Schwärmen, wie er in der Jugend diese Landschaft für sich erobert hatte und räsoniert über die leider stark gesunkene Qualität der Reibekuchen vor dem Kölner Hauptbahnhof. Langsam versagen die Klimaanlagen; in der ersten Klasse zuletzt. Schließlich erreichen sie einen Bahnhof in Belgien, von dem er über die Dörfer nach Brüssel geht. Auch hier kein Luftaustausch möglich; brütende Hitze im Stehen. Statt am frühen Nachmittag geht es um 23 Uhr ab Brüssel nach London. Gegen drei Uhr morgens sind die Bohrers zu Hause.
Der Grundton dieser kleinen Capriccios – alle zwischen 12 und 16 Seiten – ist heiter, aber nicht unernst, leicht und trotzdem gehaltvoll. Dabei sind es häufig Reminiszenzen, Erfahrungen, die Bohrer kühn zwischen Oeuvres von Filmemachern, Literaten oder Künstlern hin- und herspringen lässt und zu überraschenden Kreuz- und Quer-Verknüpfungen und ‑Ableitungen führt. Ob er über Filme, Kinderbücher, Freundschaften, Schlaflosigkeit, das Ressentiment, das Alleinsein oder Fußball nachdenkt – vom allgemeinen geht es immer auch ins Persönliche. Und um Lebensbilanzen, die etwas endgültiges bekommen.
[...] Bossong reist zu Prozessen von (potentiellen) Kriegsverbrechern, befindet sich bei Freunden in Italien oder dem Iran, besucht Gedenkfeierlichkeiten in Ruanda, spürt den Gelbwestenprotesten in Paris nach, befragt Nonnen in drei Frauenklostern, um Residuen des Abendlands festzuhalten und möchte erfahren, was die Menschen im Braunkohlegebiet der Lausitz denken. Und ja, einige wenige Aufsätze in diesem ...
Philipp Sarasin: 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Vor einigen Jahren erschien ein Buch mit dem Titel »1976 – Die DDR in der Krise«. Der Autor Karsten Krampitz erinnerte an Ereignisse, die insgesamt (und rückwirkend) betrachtet eine interessante Tendenz einläuteten. Neben der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Arrest des Regimekritikers Robert Havemann, die auch im Westen Deutschland ausgiebig rezipiert wurden, waren es auch andere Entwicklungen, wie die Selbstverbrennung des Pastors Oskar Brüsewitz oder die sich in Frankreich, Spanien und insbesondere Italien immer stärkere Rolle der sich parlamentarisch organisierten sogenannten »eurokommunistischen« Parteien, die mit dem Vorrang der sowjetischen KPdSU brachen und damit die SED vor Problemen stellten. Beantwortet wurde dies, in dem Erich Honecker auch noch Staatsratsvorsitzender wurde und nun, wie einst Ulbricht, beide Machtpositionen bekleidete. Krampitz verleitet den Leser mit den Vorgängen des Jahres 1976 inne zu halten und sie in einen historischen Kontext zu stellen. Die Absicht war zwar, die DDR nicht vom Ende her zu denken, aber es ist unweigerlich – und auch der Tenor des Buches – dass sich 1976 erstmals einer breiten Öffentlichkeit zeigte, dass dieser Staat krisenhafte Symptome ausbildete.
Die Versuchung, historische Wendepunkte mit festen Daten zu verknüpfen und damit eine Folgerichtigkeit zu entwickeln, ist verführerisch. So erschien im letzten Jahr von dem Historiker Frank Bösch »Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann«, in dem weltpolitische Ereignisse des Jahres 1979 als epochen- und zukunftsbildend aufgelistet wurden. Es ist tatsächlich leicht, in diesem Jahr fündig zu werden: Die iranische Revolution, Margaret Thatcher wird britische Premierministerin, der Papst besucht sein Heimatland Polen, die Sowjetunion marschiert in Afghanistan ein, die kommunistischen Sandinisten übernehmen die Macht in Nicaragua, das Camp-David-Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten wurde von der Knesset gebilligt, die Verabschiedung des NATO-Doppelbeschlusses und ein gewisser Deng Xiaoping begann mit der Planung für die ökonomischen Öffnung Chinas.
Mit einer ähnlichen Häufung nachträglich als historisch eingeschätzter Geschehnisse vermag das kürzlich erschienene Buch von Philipp Sarasin, »1977- Eine kurze Geschichte der Gegenwart«, nicht aufzuwarten. Sarasin, der Böschs Buch erwähnt, versucht, die »tiefen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Verschiebungen und Brüche in Westeuropa und den USA, die sich…auf eine erstaunliche Weise im Jahr 1977 bündeln lassen« zu illustrieren. Bereits im Vorwort lässt er sich und dem Leser ein bisschen Leine, in dem er das gesamte Jahrzehnt der 1970er Jahre als »Schwellenjahrzehnt« ausmacht. Wie es im weiteren Verlauf des Buches Usus sein wird, lässt er allen möglichen Befunden freien Lauf, so dass auch Tony Judts – freundlich ausgedrückt – merkwürdiges Urteil zitiert wird, die Siebziger seien das »deprimierendste Jahrzehnt« des 20. Jahrhunderts gewesen.