Pass­wort (1)

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Schon öf­ters hat­te ich fest­ge­stellt, daß Men­schen des­sel­ben Jahr­gangs et­was ver­bin­det. Das be­trifft nicht nur An­ge­hö­ri­ge ei­ner be­stimm­ten Grup­pe, die ge­mein­sa­me Er­fah­run­gen ge­macht ha­ben und sich spä­ter al­le paar Jah­re tref­fen, um Er­in­ne­run­gen aus­zu­tau­schen. Nein, ich ha­be die­se Be­ob­ach­tung an Men­schen ge­macht, die ich frü­her nicht ge­kannt hat­te, die in an­de­ren Städ­ten, so­gar Län­dern auf­ge­wach­sen wa­ren. Uns 1957 Ge­bo­re­ne ver­bin­det et­was. Ich könn­te nicht sa­gen, was es ist. Viel­leicht das be­son­de­re Stau­nen des Zwölf­jäh­ri­gen an­ge­sichts der Bil­der vom Mond­spa­zier­gang der drei Astro­nau­ten, de­ren Na­men wir nie ver­ges­sen ha­ben. Oder die Trau­er des sechs­jäh­ri­gen Kin­des beim Tod John F. Ken­ne­dys, den es nicht ver­ste­hen, aber mit­füh­len konn­te. Un­be­küm­mert um die Mög­lich­keit ei­nes Kriegs in den Tag hin­ein zu le­ben, ob­wohl wir mit Ba­racken­kin­dern zwi­schen Rui­nen spiel­ten und vor Blind­gän­gern auf dem Nie­mands­ge­län­de ge­warnt wur­den, die am Stadt­rand auf un­vor­sich­ti­ge Kin­der war­te­ten. Oder die Mu­sik­bo­xen und Flip­per­au­to­ma­ten, die Tanz­kel­ler, die Stur­heit der Er­wach­se­nen, mit de­nen man nicht ernst­haft re­den konn­te, schon gar nicht über ih­re Ver­gan­gen­heit. Oder die Fil­me, zum Bei­spiel aus dem Jahr 1977, als wir schon zwan­zig wa­ren und ge­bil­det ge­nug, um den wir­ren Bild­re­fle­xio­nen ei­nes Jean-Luc Go­dard zu fol­gen, und noch of­fen ge­nug, um uns von ein­zel­nen Sze­nen, Ge­sten, Ge­sich­tern in Nah­auf­nah­me tief und viel­leicht für im­mer, bis ins Jahr 2017, be­ein­drucken und be­ein­flus­sen zu las­sen.

Na­tür­lich geht es da­bei nicht um Jah­res­zah­len, schon gar nicht um Mo­na­te, Wo­chen, Ta­ge. Mit den 1956 oder 58 Ge­bo­re­nen ver­bin­det mich das­sel­be: die­sel­be un­de­fi­nier­ba­re, aber rea­le At­mo­sphä­re, das­sel­be Le­bens­ge­fühl. Wei­ter als ein Jahr nach vor­ne, eins nach hin­ten lässt sich das Zeit­feld aber nicht aus­deh­nen. 1955 oder 59, da be­ginnt ei­ne an­de­re Zo­ne. Wer 1968 noch nicht zehn war, ver­steht nicht, wie ich die Welt se­hen ge­lernt ha­be. Die Beat­les, die Rol­ling Stones. Pat­ti Smith und Sex Pi­stols. Ja, das auch, aber was ich mei­ne, und was wir tei­len, rührt viel tie­fer, geht in die De­tails, die Po­ren der Jah­re. Wie die – ver­gleichs­wei­se we­ni­gen – Au­tos rat­ter­ten, die Mo­peds heul­ten. Die Ver­samm­lun­gen vor dem Fern­se­her beim Gast­wirt, das Mit­fie­bern bei Sport­er­eig­nis­sen. Die aufgeschüt­tete, gras­über­wach­se­ne Er­de hin­ter dem Haus, zum Spiel­platz ge­macht. Die Far­ben und For­men und Stof­fe, Oran­ge, Run­dun­gen, Knautsch­lack. Be­stimm­te Aus­drücke, egal in wel­cher Spra­che (ei­ne be­stimm­te Art von Aus­drücken). Blicke. Ab­pral­len­de Blicke. Ver­sin­ken­de Blicke. Din­ge, die man nicht be­nen­nen kann. Mit Men­schen, die 1957 ge­bo­ren sind, ver­ste­he ich mich, auch wenn uns sonst al­les trennt.

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Nach­ruf für ei­nen ehe­ma­li­gen Abon­nen­ten

Aus dem Jour­nal vom 14. Ju­li 2017

Ich will auf die Bank ge­hen, end­lich den Er­lag­schein für Lett­re In­ter­na­tio­nal ein­zah­len. Als ich aber noch ein­mal auf den Zet­tel blicke und ex­tra aus­ge­wie­sen »Por­to 5,80« se­he, är­gert mich das. Viel­leicht auch ha­be ich auf so ein Är­ger­nis ge­war­tet. Statt auf die Post zu ge­hen, grei­fe ich zum Te­le­fon, wäh­le Ber­lin und mel­de den Abon­nen­ten als ver­stor­ben.

Selt­sam, ein be­rüh­ren­der Mo­ment. Da­mit ha­be ich nicht ge­rech­net. Na­tür­lich stimmt es, dass ich kaum noch da­zu­kom­me, die Zeit­schrift – al­le Ar­ti­kel zu­sam­men er­ge­ben ei­nen Text im Aus­maß meh­re­rer Bü­cher – zu le­sen, aber sie ver­band mich mit dem Be­ginn mei­nes Schrift­stel­ler­le­bens, war ei­ne Art An­ker, der da im Sand der Ver­gan­gen­heit ver­hakt war. Nun ist der An­ker ge­ho­ben, oder die Ket­te ein­fach nach­ge­wor­fen, die Ver­bin­dung je­den­falls ge­löst, und ich füh­le mich nicht er­leich­tert. Ich den­ke an mei­nen er­sten (und letz­ten) Be­such der Frank­fur­ter Buch­mes­se, wo mir der da­ma­li­ge Chef­re­dak­teur der Zeit­schrift be­geg­ne­te, sich an Tex­ten von mir in­ter­es­siert zeig­te. Ich sand­te ihm et­was über Afri­ka – ir­gend­et­was mit Rin­der­wahn im Ti­tel, da­mals ge­ra­de ein The­ma – und der Chef­re­dak­teur fand das span­nend und druck­te es. Das Bei­spiel fand kei­ne Wie­der­ho­lung, aber Lett­re In­ter­na­tio­nal kam wei­ter vier Mal im Jahr und sta­pel­te sich in mei­nem Fe­ri­en­haus, wo ich es ab­leg­te, in der Hoff­nung, dort Zeit und Mu­ße zu fin­den, um dar­in zu le­sen. Ge­le­gent­lich ma­che ich es auch, aber wenn schon Zeit und Mu­ße, dann ver­wen­de ich sie bes­ser zum Schrei­ben, schließ­lich ent­ste­hen wei­ter Bü­cher. Und so ist heu­te, ei­nen Tag nach Liu Xia­o­bo, der Abon­nent 23055 ge­stor­ben. »Der Abon­nent hieß?« – der jun­ge Mann las aus sei­ner Li­ste mei­nen Na­men – »Ja«, be­stä­tig­te ich. »Muß ich sonst noch et­was tun?« – »Nein, ist er­le­digt. Gu­ten Tag.«

Den Weg zum Post­amt ein­ge­spart, ge­he ich in die na­hen Wein­gär­ten zu den Brombeer­hecken. Ich pflücke zu­erst im Wein­gar­ten über den letz­ten Haus, wo je­mand al­ter, kran­ker, im Gar­ten un­ter den Brom­bee­ren sich in den Mor­gen hu­stet. Hat auch nicht mehr lan­ge zu le­ben, den­ke ich, und pflücke wei­ter Bee­ren für die Ewig­keit. Mit ei­nem und ei­nem hal­ben Ki­lo kom­me ich nach­hau­se.

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Spa­zie­ren und se­hen

Als ob die Welt sich selbst, auf ei­ne an­de­re hin, über­schrit­ten hät­te: Das fah­le, gelb-oran­ge Licht des her­ein­bre­chen­den Abends hat­te sich der­ge­stalt über die Din­ge ge­legt, dass sie mir als ein An­de­res, als ein Nä­he­res er­schie­nen, als sie es sonst ta­ten; die Ge­gen­stän­de mei­nes Wohn­zim­mers üb­ten ein sanf­te An­zie­hung aus, der ich nur sel­ten ge­wahr wur­de, ei­ne An­zie­hung, die sie her­vor­tre­ten ließ, deut­lich, aber nicht über­mäch­tig, so dass man ih­nen hät­te ver­fal­len müs­sen: Dies war kei­nes­wegs auf ei­ni­ge der Ein­rich­tungs­stücke be­schränkt, es lag nicht in de­ren Ge­schicht­lich­keit oder de­ren Be­son­der­hei­ten be­grün­det, es wa­ren un­ter­schieds­los und glei­cher­ma­ßen al­le Din­ge von den Ver­än­de­run­gen be­trof­fen, man könn­te auch sa­gen, dass die Ge­wich­tung, die im Nor­mal­fall in mei­nem In­ne­ren lag, nach au­ßen hin ver­scho­ben wor­den war, nicht das Sub­jekt, al­so ich, sah in die Welt hin­aus, son­dern die Welt blick­te, auch wenn es aber­wit­zig klin­gen mag, zu mir her­ein, auf ei­ne Wei­se, die ei­ne Aus­ge­gli­chen­heit er­zeug­te und kei­ne Wün­sche of­fen ließ, au­ßer eben je­nem, hin­aus­zu­ge­hen, mit­ten un­ter die Din­ge und in die Na­tur hin­ein.

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Wir bom­bar­die­ren.

Herr Prä­si­dent, Herr Ge­ne­ral­se­kre­tär, ver­ehr­te De­le­gier­te, mei­ne Da­men und Her­ren,

ich möch­te zu Be­ginn an ei­ne der schwer­sten Stun­den der Ver­ei­nig­ten Staa­ten in de­ren jüng­ster Ge­schich­te er­in­nern, an un­se­re ei­ge­ne Ver­letz­lich­keit und die Wich­tig­keit der in­ter­na­tio­na­len Zu­sam­men­ar­beit: Als am 25. Mai 1995 die MiG- und So­ko-Ver­bän­de New York er­reich­ten und die er­sten ser­bi­schen Bom­ben fie­len, er­füll­ten un­se­re Ver­bün­de­ten ih­re Pflicht: Es war der er­ste Bünd­nis­fall der NATO und wir dan­ken un­se­ren west­li­chen Part­nern noch heu­te für de­ren Un­ter­stüt­zung zur Ab­wehr der ser­bi­schen Ag­gres­si­on. Wir ha­ben, als Na­ti­on, da­durch zwei­er­lei mit den Au­gen der un­mit­tel­bar Be­trof­fe­nen zu se­hen ge­lernt: Den Re­spekt vor der Sou­ve­rä­ni­tät an­de­rer Staa­ten und die Wich­tig­keit des Ge­walt­ver­bots der Ver­ein­ten Na­tio­nen.

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Wie­der­spruch

»In­ani­ma­te I know I am and I will re­main« Lloyd Co­le: Pe­ri­od Pie­ce Die Fra­ge ist wie im­mer, wer spricht. Der Sän­ger, ja, aber er spricht im Na­men der Mau­er, von der nichts üb­rig ist als mi­ne­ra­li­sche, al­so un­be­leb­te, er­fun­de­ne, mit Zucker ver­zier­te Sou­ve­nirs. Wie einst die bit­te­ren, an­geb­lich heil­sa­men, je­den­falls not­wen­di­gen Pil­len, die man ...

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Die Schach­tel

Seit zehn Jah­ren steht sie un­ter der Ab­wasch, hört das Was­ser über sich und dem Topf und der Pfan­ne rö­cheln und schwap­pen. Ent­schlos­sen um­funk­tio­niert, da­mals, von ei­ner Frau, die sich als Ord­ne­rin bei Um­zü­gen ein Zu­brot zur schma­len Ren­te ver­dien­te. Ob sie noch lebt? Si­cher! Die Schach­tel dient wei­ter, sie schafft und ge­stal­tet Raum und ...

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Neu­jahrs­lied

Die Son­ne ist auf­ge­gan­gen, der Mond steht ir­gend­wo. Die Vö­gel hocken auf den Schnü­ren. Asphalt ver­eist, be­vor die La­ster kom­men. Viel wei­ßer Rauh­reif ziert die Fel­der mit star­ren Sta­lak­ti­ten, die in den Him­mel rei­chen, auf­flie­gen wer­den, den­ken sie. Ab­wei­send glänzt der Him­mel mit sei­nen Hie­ro­gly­phen, dem Kom­men­den ein Schild. Dem Kom­men­den ein Schild. © Leo­pold ...

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Klin­gel­beu­te

Der Klin­gel­beu­tel war ein läng­li­cher Beu­tel aus ro­tem Samt, mit ei­nem gol­de­nen Glöck­chen an sei­nem un­te­ren En­de, das sich wie ei­ne Wurst zu­sam­men­zog. Er hing vom En­de ei­ner lan­gen höl­zer­nen Stan­ge und schau­kel­te ein we­nig, wenn er sich durch die Kirchen­bankreihen bis zur in der Mit­te sit­zen­den, dort zu­sam­me­ge­kau­er­ten Per­son (das war ich) vor­an­ta­ste­te, wo­bei ...

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