Der ein­ar­mi­ge Ban­di­ti

»Ich sah dich fah­ren, Jo­seph Roth.
Im Zug, im car, in gro­ßer Not.
Von Frank­reich ging es über Prag
An Or­te, die man nicht nen­nen mag.
Du warst ein Träu­mer, Jo­seph Roth.
Du warst ein Mensch, nun bist du tot.
Ein Dich­ter, Trin­ker und Sol­dat.
Du nahmst ge­las­sen, was uns naht –
«

»Was uns naht«, wie­der­hol­te der Ver­le­ger mit rat­lo­sem Blick auf das Smart­phone, das Ban­di­ti ihm in die Hand ge­drückt hat­te. »Was soll das hei­ßen? Was ist das?«
»Mein er­stes Ge­dicht«, sag­te Ban­di­ti. »Für den neu­en Ge­dicht­band.«
»Ah, ver­ste­he.« Der Ver­le­ger reich­te Ban­di­ti sein Te­le­fon zu­rück, und die­ser glotz­te ver­liebt auf das Dis­play, ließ per Dau­men den Text auf und ab wan­dern.
»Du, es gibt noch ei­ne Hoff­nung«, fing der Ver­le­ger an.
Ban­di­ti sah auf. »Ist gut, gell?«
»Was?«
»Na, das Ge­dicht!«
»Das ist, ja – das ist sehr gut. Aber pass auf, ich hab hier ei­ne An­fra­ge be­kom­men …« Der Ver­le­ger ra­schel­te mit ei­nem hand­ge­schrie­be­nen Brief, der die gan­ze Zeit vor ihm auf dem Schreib­tisch ge­le­gen hat­te. »Der Suhr­kamp Ver­lag hat mir ein Schrei­ben wei­ter­ge­lei­tet. Pe­ter Hand­ke will dich über­set­zen.«
Ban­di­ti sah auf. »What the fuck!«, rief er. »Was soll das hei­ßen, mich über­set­zen? In wel­che Spra­che?«
Ban­di­ti konn­te die Ant­wort zu­nächst nicht ver­ste­hen, weil der Ver­le­ger so nu­schel­te.
»Was sagst du?«
Der Ver­le­ger wie­der­hol­te: »Ins Deut­sche!«
Da war Ban­di­ti baff! »Er will mich INS DEUTSCHE über­set­zen? Ist die­ser Mensch denn to­tal gei­stes­krank? Das ist doch so ein Schrift­stel­ler, oder?«
»Er ist ei­ner der be­sten Schrift­stel­ler der Welt.«
»Das bin ich auch.«
»Aber er ist auch ei­ner der er­folg­reich­sten«, sag­te der Ver­le­ger, und dar­auf fiel Ban­di­ti nun wahr­lich kei­ne Re­plik ein. Er wand­te sich lie­ber wie­der sei­nem Jo­seph-Roth-Po­em zu.

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Ein Win­ter­spa­zier­gang

Wenn ich al­lei­ne bin, be­gin­nen die Din­ge zu spre­chen. Nur, wenn ich al­lei­ne bin und nicht nur sie. Es ist im­mer mei­ne Stim­me mit der sie spre­chen, die sie sich lei­hen und doch ist in ihr im­mer et­was An­de­res, Frem­des, das mir manch­mal über­deut­lich und manch­mal na­he­zu un­kennt­lich ent­ge­gen tritt, selbst im Be­kann­ten, im All­täg­li­chen noch. Ja, ge­ra­de in ihm.

Ich sprach die Sät­ze nach, laut­los, um sie mir zu mer­ken, die plötz­lich un­ge­be­ten und oh­ne je­des Wol­len da­ge­we­sen wa­ren, ob­wohl ich mein No­tiz­heft und ei­nen Blei­stift ein­ge­steckt hat­te; ih­ret­we­gen war ich so­gar noch ein­mal zu­rück­ge­gan­gen, aber jetzt hat­te ich sie ver­ges­sen, weg­ge­scho­ben, wohl we­gen der Käl­te, denn es hat­te zum er­sten Mal in die­sem Jahr ei­ni­ge Grad un­ter Null: Ein ei­si­ger Wind, der mei­ne Fin­ger rasch klamm hät­te wer­den las­sen, trieb den Schnee in Bö­en die Stra­ße ent­lang durch die dür­ren Bü­sche an ih­rem En­de, die ra­schel­ten und schwirr­ten und dann in die Licht­ke­gel der Stra­ßen­la­ter­nen hin­ein, als gel­te es ei­nen ver­säum­ten Tanz nach­zu­ho­len.

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Obst­dieb

Denk ich in Deutsch­land an die Nacht, hör ich ein He­cheln, lau­ter ra­sche Schrit­te, und bin —er­staunt, was da ge­sche­hen— um mehr als nur den Schlaf ge­bracht. Für ein Tisch­ge­spräch am Abend, das mit dun­kel wird, fand sich nie­mand.— Im­mer­hin, die Quit­te, von ih­ren Flau­sen un­ter­wegs be­freit, erst bei ra­schem, dann be­dach­tem Ge­hen. Mir Ge­sell­schaft ...

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Tem­pel­hüp­fen

Mit dem her­ein­bre­chen­den Früh­jahr be­gann ich wie­der aus dem Fen­ster mei­ner Woh­nung, die im zwei­ten Stock ei­nes klei­nen Hau­ses in Fa­vo­ri­ten, dem 10. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk, lag, in den lang­ge­zo­ge­nen In­nen­hof hin­un­ter zu schau­en. Im Win­ter blieb der Hof ei­gen­ar­tig still und ich hielt mein Fen­ster ge­schlos­sen, da die kal­te Luft durch die Spal­te zwi­schen Fen­ster­rah­men und Flü­gel zog, die ich mit Tü­chern und Decken ab­zu­dich­ten such­te: Ich ver­fluch­te bei­na­he täg­lich die Haus­ver­wal­tung, die stets vor­gab, die of­fen­sicht­lich­sten Schä­den re­pa­rie­ren zu las­sen, die den Tisch­ler vor­bei­schick­te, um ei­nen Ko­sten­vor­anschlag vor­zu­neh­men, aber dann nichts mehr von sich hö­ren ließ. Ich hüll­te mich in dicke Decken, denn ich saß ger­ne ne­ben dem Fen­ster und las, trotz­dem der un­ter dem Fen­ster­brett hän­gen­de Heiz­kör­per den Luft­strom kaum zu er­wär­men ver­moch­te.

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Sprich, Be­ton!

Sprich, Be­ton! Von San­der Ort Ei­nen Gruß an den mu­ti­gen Tell, so­zu­sa­gen von Turm zu Turm — mei­ner hier in der Ban­lieue aus El­fen­bein­asche, sprich Be­ton. Ei­nen Wink, ei­nen rat­lo­sen Wink zum schil­lern­den Grün­bein, an dem ich das Knie-Beu­­gen sah, um das es im Dra­ma ging. (Was sa­ge ich?— g e h t).

Kind­ver­lust­ge­schich­te

1

ge­setzt, ich wür­de
ge­setzt, ich hät­te
al­so: ich hat­te
mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les und mich
mei­nen ein­zi­gen Schatz, der ich sonst nichts be­sit­ze
                                                                                     be­sit­zen will
mein Ta­lent ver
                              ge­ssen
                        ver
                              schleu­dert
                        ver
                              dör­ren las­sen

al­so ich, hilfs­be­dürf­tig und ver­schwie­gen, hat­te sie, da sie noch klein war, bei Ver­wand­ten ge­las­sen, wuß­te aber lei­der nicht mehr, bei wel­chen, so daß ich nun mei­ne ei­ge­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te ab­gra­sen müß­te, um zu mei­nem Ein und Al­les zu­rück­zu­fin­den. Das will ich jetzt ver­su­chen, was bleibt mir üb­rig (nichts!), denn ich hat­te doch – mei­ne Recht­fer­ti­gung! – ei­nen Auf­trag zu er­fül­len (ge­habt) im Na­men mei­ner Schwe­ster Ma­ria oder mei­ner Freun­din Adel­heid, die ihn selbst nicht er­le­di­gen konn­te. Ich hat­te mich mit ih­rem Hünd­chen in der Ein­kaufs­ta­sche, ei­nem win­zi­gen wu­se­li­gen grau­en Hünd­chen, das er­krankt war und fast er­schlafft jetzt, auf den Weg zum Klein­tier­arzt ge­macht, wie hät­te ich mei­ner Freun­din oder Schwe­ster die Bit­te ab­schla­gen sol­len un­ter sol­chen Um­stän­den, da sie ver­hin­dert war. Und wo an­ders hät­te ich mich hin­be­ge­ben sol­len als in die Klein­tierarztpraxis un­se­rer ge­mein­sa­men Freun­din Bri­git­te. Als ich dort an­kam, war das War­te­zim­mer men­schen­leer und über­sät von mehr oder we­ni­ger ka­put­tem Kinderspiel­zeug und Pa­pier­schnip­seln und be­druck­ten, aus Kin­der­bü­chern ge­ris­se­nen Sei­ten: ei­ne ge­stran­de­te und ver­las­se­ne Ar­che No­ah, al­le Tie­re und Kin­der längst aus­ge­schifft. Die Gu­ten hat­ten sich mit ein we­nig Glück ei­ne neue Welt zu­recht­ge­macht, aber oh­ne sie, oh­ne mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les, mein Ta­lent: trau­ri­ge Welt! Nein, hier konn­te ich das Hünd­chen nicht hei­len las­sen, und in die­sem Au­gen­blick war mei­ne Toch­ter viel­leicht zum er­sten Mal, oh­ne daß ich es merk­te, ver­schwun­den, da­bei hat­te ich nicht ein­mal mei­nen Auf­trag er­fül­len kön­nen

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Pass­wort (3)

Teil 2 / Teil 1

3

Ei­ne Wo­che spä­ter sag­te sie mir, sie ha­be end­lich ei­ne Spur ge­fun­den.

Ei­ne Spur?

Ja, und sie ha­be die­se Spur gleich ver­folgt. Ta­ge­lang hat­te sie ver­geb­lich ver­sucht, irgend­einen An­halts­punkt zu fin­den, und jetzt, end­lich. Ihr Sohn hat­te fast nichts hin­ter­las­sen, nur die Bäl­le und Ke­gel, Qua­der und Tü­cher, ein paar Zau­be­ru­ten­si­li­en. Und na­tür­lich das Smart­phone – oh­ne Kopf­hö­rer, der war ver­schwun­den – und den Com­pu­ter. Die­se bei­den Ge­rä­te wür­den ver­mut­lich al­les ent­hal­ten (sie be­ton­te das Wort ALLES), aber sie ken­ne das Pass­wort nicht, ihr Mann schon gar nicht, nie­mand ken­ne das Pass­wort au­ßer ih­rem Sohn, und ihn kön­ne man nicht mehr fra­gen. Stun­den­lang ha­be sie al­le mög­li­chen Ein­ga­ben ver­sucht, Ge­burts­ta­ge, Lieb­lings­man­ga­fi­gu­ren, Na­men von Familienange­hörigen, Pop­bands, Sek­kai, An­fang, En­de, Sek­kaio­wa­ri, Sek­kai­no, Owa­ri­sek­kai, al­les mög­li­che, Zu­falls­kom­bi­na­tio­nen, Zah­len und Buch­sta­ben, ab­wech­selnd, die Zei­chen auf der Ta­sta­tur in Ver­bin­dun­gen, die wie­der an­de­re Zei­chen er­ga­ben, Kreu­ze, Zacken, um­sonst. Se­sam öff­ne­te sich nicht. Und die Wahr­schein­lich­keit, daß er es noch tun wür­de, war gleich null.

Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung ver­liert, ruft man doch auch den Schlüs­sel­dienst.

»Ich ha­be doch te­le­pho­niert«, sag­te sie, fast schon ein we­nig ent­rü­stet. »Die ma­chen das nur auf An­wei­sung der Po­li­zei. Ich müss­te die Po­li­zei ein­schal­ten. Aber was soll ich de­nen sa­gen? Daß ich nach Adres­sen su­che?«

»Und Hacker? Ich mei­ne, es gibt Leu­te, die ma­chen sich dar­aus ein Spiel, Com­pu­ter knacken.«

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Pass­wort (2)

Teil 1

2

Viel­leicht auch des­halb, weil sie Kon­flik­te – ech­te Dis­kus­sio­nen – ver­mei­den woll­te, oder weil sie nie­man­den hat­te, um über per­sön­li­che Din­ge zu spre­chen, und ich ihr Jahrgangs­vertrauen nun ein­mal ge­weckt hat­te, ging sie beim näch­sten Be­such im Star­bucks da­zu über, mir dies und je­nes aus ih­rem Le­ben zu er­zäh­len, wo­bei häu­fig ihr Sohn ei­ne be­son­de­re Rol­le spiel­te, der im Zen­trum ih­res der­zei­ti­gen Le­bens zu ste­hen schien. Ihr Mann ar­bei­te­te in ei­ner an­de­ren Stadt und kam ein­mal pro Mo­nat am Wo­chen­en­de nach Hau­se. Der Sohn, vor kur­zem drei­ßig ge­wor­den, war krank, aber sie nann­te die Krank­heit nicht beim Na­men. Auch von ei­ner me­di­zi­ni­schen Be­hand­lung, von Arzt- oder Kran­ken­haus­be­su­chen war nicht die Re­de.

Es dau­er­te ei­ne ge­rau­me Wei­le, bis zur vier­ten oder fünf­ten Star­bucks-Sit­zung (wie ich sie ins­ge­heim nann­te), bis mir klar wur­de, daß der Sohn – sie nann­te ihn nie beim Na­men – nie oder fast nie das Haus ver­liess. War er bett­lä­ge­rig? Oder ge­lähmt? Kör­per­lich oder gei­stig be­hin­dert? Nein, in Frau S.’ Er­zäh­lun­gen deu­te­te nichts dar­auf hin. Der Sohn hat­te stu­diert, sein Stu­di­um or­dent­lich ab­ge­schlos­sen und da­nach ei­ni­ge Jah­re in ei­ner Fir­ma ge­ar­bei­tet. Er war Hob­bys nach­ge­gan­gen, hat­te Freun­de ge­trof­fen. Zau­bern, Jon­glie­ren, Din­ge zum Ver­schwin­den brin­gen, das er­freu­te sein Herz.

Ge­nau so drück­te sich sei­ne Mut­ter aus: »Es er­freu­te sein Herz.« Und war täg­li­che Ge­wohn­heit. Sein Zim­mer war na­he­zu leer, die Man­gas hat­te er in Schach­teln ge­räumt und zu ei­nem Spott­preis ei­nem Händ­ler ver­kauft, weil sie ihn, wie er sag­te, vom Trai­ning ab­lenk­ten. In letz­ter Zeit hat­te er aber nach­ge­las­sen, gan­ze Ta­ge ver­gin­gen, oh­ne daß Frau S. die Ge­räu­sche von zu Bo­den fal­len­den Ke­geln oder Bäl­len hör­te (die frü­her manch­mal die Pro­te­ste ei­ner Nach­ba­rin her­vor­ge­ru­fen hat­ten). Die Tür zu sei­nem Zim­mer ver­schloss er nicht, hat­te sie nie ver­schlos­sen, es gab nicht ein­mal ei­nen Schlüs­sel, aber der Jun­ge zeig­te sich nicht mehr, wenn sie vor­sich­tig das Zim­mer be­trat, sie sah ihn nicht, ver­mu­te­te ihn zu­erst un­ter der Bett­decke, hin­ter der Tür, un­term Bett – nichts. Aus­ge­gan­gen? Mög­lich. Auf Ze­hen­spit­zen, Ze­hen­bal­len an der Kü­che vor­bei­ge­schli­chen. »Wie ei­ne Kat­ze«, sag­te Frau S. Sie zwang sich, sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen, schliess­lich war er alt ge­nug, kann­te die Um­ge­bung, die Stadt, zu­min­dest den Haupt­bahn­hof, die Uni­ver­si­tät. Dann wie­der fand sie ihn auf dem Bett lie­gend, kraft­los, mit weit ge­öff­ne­ten, star­ren Au­gen. Er aß we­nig, im­mer we­ni­ger. Sie brach­te ihm sei­ne Lieb­lings­spei­sen ins Zim­mer. Er lä­chel­te, aß fast nichts, setz­te den Kopf­hö­rer wie­der auf. Hör­te Mu­sik, die er vor sie­ben, acht Jah­ren ge­hört hat­te. Als er Stu­dent war. Sek­kai no Owa­ri. Welt­ende, ei­ne fröh­li­che Mu­sik. Schau­te aufs Smart­phone, wisch­te Man­gas vor­bei. »Man braucht kei­ne Bü­cher mehr«, sag­te er ein­mal. »Ist al­les hier drin.«

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