Eine Woche später sagte sie mir, sie habe endlich eine Spur gefunden.
Eine Spur?
Ja, und sie habe diese Spur gleich verfolgt. Tagelang hatte sie vergeblich versucht, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, und jetzt, endlich. Ihr Sohn hatte fast nichts hinterlassen, nur die Bälle und Kegel, Quader und Tücher, ein paar Zauberutensilien. Und natürlich das Smartphone – ohne Kopfhörer, der war verschwunden – und den Computer. Diese beiden Geräte würden vermutlich alles enthalten (sie betonte das Wort ALLES), aber sie kenne das Passwort nicht, ihr Mann schon gar nicht, niemand kenne das Passwort außer ihrem Sohn, und ihn könne man nicht mehr fragen. Stundenlang habe sie alle möglichen Eingaben versucht, Geburtstage, Lieblingsmangafiguren, Namen von Familienangehörigen, Popbands, Sekkai, Anfang, Ende, Sekkaiowari, Sekkaino, Owarisekkai, alles mögliche, Zufallskombinationen, Zahlen und Buchstaben, abwechselnd, die Zeichen auf der Tastatur in Verbindungen, die wieder andere Zeichen ergaben, Kreuze, Zacken, umsonst. Sesam öffnete sich nicht. Und die Wahrscheinlichkeit, daß er es noch tun würde, war gleich null.
Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüssel zu seiner Wohnung verliert, ruft man doch auch den Schlüsseldienst.
»Ich habe doch telephoniert«, sagte sie, fast schon ein wenig entrüstet. »Die machen das nur auf Anweisung der Polizei. Ich müsste die Polizei einschalten. Aber was soll ich denen sagen? Daß ich nach Adressen suche?«
»Und Hacker? Ich meine, es gibt Leute, die machen sich daraus ein Spiel, Computer knacken.«
»Wenn Sie mir welche empfehlen könnten... Nein, nicht nötig, zum Glück habe ich gestern die Einladungskarte gefunden, im Mantel, der in der Wäscherei war nach unserem Spaziergang. Da ist er einmal hingefallen, gegen Mittag, der Schnee war schon weich, fast am Schmelzen. Eine Karte von einem Paar, das bald heiraten wird, Freunde von ihm, ich habe ihnen gleich eine E‑Mail geschickt (eine Telephonnummer war nicht angegeben).
Die beiden hatten im Kreis der Zauberkünstler, dem auch ihr Sohn angehört hatte, zueinandergefunden. Studenten derselben Universität, inzwischen im Berufsleben stehend, sogar in derselben Firma tätig. Nachdem Frau S. sie kontaktiert hatte, hatten sie sogleich andere Freunde verständigt. Die kleine Gruppe, sieben Personen insgesamt, hatte den Wunsch geäußert, sich von dem Verstorbenen zu verabschieden, und Frau S. hatte ihnen vorgeschlagen, zu einer einfachen Zeremonie in ihrer Wohnung zusammenzukommen. Sie bewahrte seine Asche zu Hause auf, da sie und ihr Mann noch nicht entschieden hatten, wo sie sie beisetzen würden.
Ob ihr Sohn noch andere Freunde oder Bekannte gehabt hatte, wusste sie nicht.
»Möglicherweise nicht«, sagte sie. Die Zauberer kannten außerhalb ihres Kreises niemanden, mit dem er Kontakt gehabt haben könnte.
»Gäbe es diesen Security-Wahn nicht«, sagte ich (eher zu mir selbst), ließe sich alles leicht herausfinden.
»Wir könnten alles wissen, und wissen doch nichts.«
Ich nickte, und Frau S. sah mich erwartungsvoll an. Mir selbst macht dieses anschwellende Bedürfnis, das einem zugleich als Forderung entgegengebracht wird, jede Kleinigkeit zu verbergen und jeden Schritt abzusichern, schon seit geraumer Zeit Schwierigkeiten. Es hängt natürlich damit zusammen, daß Irgendwer – der Große Anonymus – ALLES weiss. Mein eigenes Gedächtnis wird aber nicht besser, ich kann mir all die Zahlen und Buchstaben für Bankomat- und Kreditkarten, Kontozugang und Emailaccount, Codenamen für Onlinefirmen und Streamingdienste, Universitätscomputer, Handy, Skype, Foren und weiss Gott was alles, Zahlenbuchstabenzeichenkombinationen, die ich auch noch in einem fort ändern soll, einfach nicht merken. Ich muss sie mir auf einen Zettel oder in den Notizkalender schreiben. Und wenn ich die verliere, was dann? Oder wenn sie geklaut werden... Oder ich erlaube meinem Personalcomputer, das alles zu speichern und automatisch abzurufen, was die Unsicherheit wiederum schlagartig erhöht. Es ist ein Teufelskreis, die verlangten Sicherheitsvorkehrungen hören nicht auf, sie werden mehr und mehr. Die Sicherheit wird durch all die Sicherheitsvorkehrungen nicht erhöht, sondern vermindert. Genau wie in jenem Land, wo jeder Bürger »zu seiner Sicherheit« bewaffnet ist: Mord und Totschlag steigen mit der Zahl der Waffen.
Wenn ich mir meine Passwörter notiere, sollte ich das verschlüsselt tun. Sagt meine Freundin. Neues Problem, oder das alte verschoben: Ich kann mir diese komplizierten Schlüssel nicht merken. Ich müsste sie mir auf einem anderen Papier notieren.
Egal... Ich bin noch nie gehackt worden, und Viren kenne ich nur aus der Anfangszeit der Personalcomputer. Man sieht, ich trauere einfacheren Zeiten nach. (Ob sie so einfach waren?) Für Frau S. war es klar, daß sie nicht zur Polizei gehen würde, um die Sicherheitshürden zu überwinden. Sie begnügte sich – nehme ich an, denn ich habe sie nach dem Semesterende nicht mehr gesehen – mit der kleinen Feier im Kreis der Zauberkünstler in ihrer Wohnung im zwanzigsten oder dreissigsten Stock eines der Wohntürme hier in der Gegend (ich schreibe im Starbucks, abends, während wieder einmal oder immer noch die Schneeflocken tanzen).
Ich sehe den Sohn von Frau S., wie er langsam, unendlich langsam seine Fußspur in den jungfräulichen Schnee zieht. Die Nadelbäume sind weiß, und die laublosen Bäume tragen helle Streifen auf ihren Armen, von denen manchmal ein Stück herunterfällt. Der junge Mann trägt einen dunkelblauen Mantel, der ihm bis zu den Knien reicht. Ein wenig Schnee auf dem schwarzen Scheitel. Krähenkrächzen durchschneidet die Stille. Ein Fenster in der Front eines Wohnblocks reflektiert Sonnenstrahlen. Auf einer Bank ein einzelner Zuschauer im freien Lichtspieltheater: alter Mann mit Hut!
Wie bist du gestorben, Sohn? Ich werde deine Mutter nicht danach fragen. Falls ich sie überhaupt wiedersehe. Ich weiss es ja. Ich weiss, wie du gestorben bist. Es ist nicht schwer zu erraten. Jenand, der krank ist, d. h. an einer definierbaren Krankheit leidet, würde sein Ableben vorbereiten, kommentieren, beklagen; sich zumindest ein wenig um die Nachwelt kümmern, selbst wenn er, wie ich, kaum Leute hat, die man als »Angehörige« zu bezeichnen pflegt. Er würde versuchen, irgend etwas zu hinterlassen, zumindest einen guten Eindruck. Aus diesem Grund gibt es den Brauch, ein Testament abzufassen. Du aber, Sohn, hast die Spuren verwischt, hast nichts hinterlassen, am Ende nicht einmal dich selbst. Wie ein Zauberer, der die Leere vorzeigt. Ohne Stolz. Warum sollte man auf die Leere stolz sein? Du hast nicht einmal Hand an dich gelegt, sondern hast bis zur letzten Konsequenz getrieben, was du immer schon oder, wenn ich deiner Mutter glaube, in den letzten Jahren getan hast: Du hast dich entzogen. An jenem Tag hat sie deinen Körper gefunden, der leblos auf dem gemachten Bett lag. Sie war nicht einmal überrascht. Sie hat dein Handgelenk ergriffen und ihre Wange vor deinen Mund gehalten. Dann hat sie auf ihrem Handy den Notruf gewählt. Was jenseits von deinem Passwort ist, kann niemand wissen. Außer, vielleicht, dem Großen Anonymus.
© Leopold Federmair
Danke für diese anregende Miniatur!
Der dezente Kulturpessimismu, den Sie durch dem Erzähler zeichnen, lud sehr zur Identifikation ein – auch wenn ich Berry Lindon nicht schätze – Sie treffen, finde ich, gerade das fragile Gleichgewicht zwischen Distanzierung und in der Welt sein. Ach, habe auch nach mehreren Anläufen es nicht richtig ausdrücken können. Vielleicht ex negativo: In Feuilleton oder FAZ begegnet mir mitunter ein Kulturpessimismus, den ich als tot, fetischisiert, bloß behauptet empfinde, weil er die »Kultur« platterdings gegen unsere digitale Weltwirklichkeit ausspielen will, gerade so als gäbe es da zwischen dem Papier eine Haptik, die algorithmisch unantastbar bliebe. Bei Ihnen jedoch war das Verhältnis lebendig, plastisch.
Thematisch erinnerte es mich ein wenig an »Rituale« von Nooteboom – kennen Sie dies?
Wie viele Bücher es noch zu lesen gibt! Von Nooteboom kenne ich bisher gar nichts, werde aber demnächst Ihrem Hinweis nachgehen.