Pass­wort (3)

Teil 2 / Teil 1

3

Ei­ne Wo­che spä­ter sag­te sie mir, sie ha­be end­lich ei­ne Spur ge­fun­den.

Ei­ne Spur?

Ja, und sie ha­be die­se Spur gleich ver­folgt. Ta­ge­lang hat­te sie ver­geb­lich ver­sucht, irgend­einen An­halts­punkt zu fin­den, und jetzt, end­lich. Ihr Sohn hat­te fast nichts hin­ter­las­sen, nur die Bäl­le und Ke­gel, Qua­der und Tü­cher, ein paar Zau­be­ru­ten­si­li­en. Und na­tür­lich das Smart­phone – oh­ne Kopf­hö­rer, der war ver­schwun­den – und den Com­pu­ter. Die­se bei­den Ge­rä­te wür­den ver­mut­lich al­les ent­hal­ten (sie be­ton­te das Wort ALLES), aber sie ken­ne das Pass­wort nicht, ihr Mann schon gar nicht, nie­mand ken­ne das Pass­wort au­ßer ih­rem Sohn, und ihn kön­ne man nicht mehr fra­gen. Stun­den­lang ha­be sie al­le mög­li­chen Ein­ga­ben ver­sucht, Ge­burts­ta­ge, Lieb­lings­man­ga­fi­gu­ren, Na­men von Familienange­hörigen, Pop­bands, Sek­kai, An­fang, En­de, Sek­kaio­wa­ri, Sek­kai­no, Owa­ri­sek­kai, al­les mög­li­che, Zu­falls­kom­bi­na­tio­nen, Zah­len und Buch­sta­ben, ab­wech­selnd, die Zei­chen auf der Ta­sta­tur in Ver­bin­dun­gen, die wie­der an­de­re Zei­chen er­ga­ben, Kreu­ze, Zacken, um­sonst. Se­sam öff­ne­te sich nicht. Und die Wahr­schein­lich­keit, daß er es noch tun wür­de, war gleich null.

Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung ver­liert, ruft man doch auch den Schlüs­sel­dienst.

»Ich ha­be doch te­le­pho­niert«, sag­te sie, fast schon ein we­nig ent­rü­stet. »Die ma­chen das nur auf An­wei­sung der Po­li­zei. Ich müss­te die Po­li­zei ein­schal­ten. Aber was soll ich de­nen sa­gen? Daß ich nach Adres­sen su­che?«

»Und Hacker? Ich mei­ne, es gibt Leu­te, die ma­chen sich dar­aus ein Spiel, Com­pu­ter knacken.«

»Wenn Sie mir wel­che emp­feh­len könn­ten... Nein, nicht nö­tig, zum Glück ha­be ich ge­stern die Ein­la­dungs­kar­te ge­fun­den, im Man­tel, der in der Wä­sche­rei war nach un­se­rem Spa­zier­gang. Da ist er ein­mal hin­ge­fal­len, ge­gen Mit­tag, der Schnee war schon weich, fast am Schmel­zen. Ei­ne Kar­te von ei­nem Paar, das bald hei­ra­ten wird, Freun­de von ihm, ich ha­be ih­nen gleich ei­ne E‑Mail ge­schickt (ei­ne Te­le­phon­num­mer war nicht an­ge­ge­ben).

Die bei­den hat­ten im Kreis der Zau­ber­künst­ler, dem auch ihr Sohn an­ge­hört hat­te, zu­ein­an­der­ge­fun­den. Stu­den­ten der­sel­ben Uni­ver­si­tät, in­zwi­schen im Be­rufs­le­ben ste­hend, so­gar in der­sel­ben Fir­ma tä­tig. Nach­dem Frau S. sie kon­tak­tiert hat­te, hat­ten sie so­gleich an­de­re Freun­de ver­stän­digt. Die klei­ne Grup­pe, sie­ben Per­so­nen ins­ge­samt, hat­te den Wunsch ge­äu­ßert, sich von dem Ver­stor­be­nen zu ver­ab­schie­den, und Frau S. hat­te ih­nen vor­ge­schla­gen, zu ei­ner ein­fa­chen Ze­re­mo­nie in ih­rer Woh­nung zusammen­zukommen. Sie be­wahr­te sei­ne Asche zu Hau­se auf, da sie und ihr Mann noch nicht ent­schie­den hat­ten, wo sie sie bei­set­zen wür­den.

Ob ihr Sohn noch an­de­re Freun­de oder Be­kann­te ge­habt hat­te, wuss­te sie nicht.

»Mög­li­cher­wei­se nicht«, sag­te sie. Die Zau­be­rer kann­ten au­ßer­halb ih­res Krei­ses nie­man­den, mit dem er Kon­takt ge­habt ha­ben könn­te.

»Gä­be es die­sen Se­cu­ri­ty-Wahn nicht«, sag­te ich (eher zu mir selbst), lie­ße sich al­les leicht her­aus­fin­den.

»Wir könn­ten al­les wis­sen, und wis­sen doch nichts.«

Ich nick­te, und Frau S. sah mich er­war­tungs­voll an. Mir selbst macht die­ses an­schwellende Be­dürf­nis, das ei­nem zu­gleich als For­de­rung ent­ge­gen­ge­bracht wird, je­de Klei­nig­keit zu ver­ber­gen und je­den Schritt ab­zu­si­chern, schon seit ge­rau­mer Zeit Schwie­rig­kei­ten. Es hängt na­tür­lich da­mit zu­sam­men, daß Ir­gend­wer – der Gro­ße An­ony­mus – ALLES weiss. Mein ei­ge­nes Ge­dächt­nis wird aber nicht bes­ser, ich kann mir all die Zah­len und Buch­sta­ben für Ban­ko­mat- und Kre­dit­kar­ten, Kon­to­zu­gang und Email­ac­count, Code­na­men für On­line­fir­men und Strea­ming­dien­ste, Universitäts­computer, Han­dy, Sky­pe, Fo­ren und weiss Gott was al­les, Zahlenbuchstabenzeichen­kombinationen, die ich auch noch in ei­nem fort än­dern soll, ein­fach nicht mer­ken. Ich muss sie mir auf ei­nen Zet­tel oder in den No­tiz­ka­len­der schrei­ben. Und wenn ich die ver­lie­re, was dann? Oder wenn sie ge­klaut wer­den... Oder ich er­lau­be mei­nem Personal­computer, das al­les zu spei­chern und au­to­ma­tisch ab­zu­ru­fen, was die Un­si­cher­heit wie­der­um schlag­ar­tig er­höht. Es ist ein Teu­fels­kreis, die ver­lang­ten Sicherheitsvorkeh­rungen hö­ren nicht auf, sie wer­den mehr und mehr. Die Si­cher­heit wird durch all die Si­cher­heits­vor­keh­run­gen nicht er­höht, son­dern ver­min­dert. Ge­nau wie in je­nem Land, wo je­der Bür­ger »zu sei­ner Si­cher­heit« be­waff­net ist: Mord und Tot­schlag stei­gen mit der Zahl der Waf­fen.

Wenn ich mir mei­ne Pass­wör­ter no­tie­re, soll­te ich das ver­schlüs­selt tun. Sagt mei­ne Freun­din. Neu­es Pro­blem, oder das al­te ver­scho­ben: Ich kann mir die­se kom­pli­zier­ten Schlüs­sel nicht mer­ken. Ich müss­te sie mir auf ei­nem an­de­ren Pa­pier no­tie­ren.

Egal... Ich bin noch nie ge­hackt wor­den, und Vi­ren ken­ne ich nur aus der An­fangs­zeit der Per­so­nal­com­pu­ter. Man sieht, ich traue­re ein­fa­che­ren Zei­ten nach. (Ob sie so ein­fach wa­ren?) Für Frau S. war es klar, daß sie nicht zur Po­li­zei ge­hen wür­de, um die Sicher­heitshürden zu über­win­den. Sie be­gnüg­te sich – neh­me ich an, denn ich ha­be sie nach dem Se­me­ster­en­de nicht mehr ge­se­hen – mit der klei­nen Fei­er im Kreis der Zauber­künstler in ih­rer Woh­nung im zwan­zig­sten oder drei­ssig­sten Stock ei­nes der Wohn­tür­me hier in der Ge­gend (ich schrei­be im Star­bucks, abends, wäh­rend wie­der ein­mal oder im­mer noch die Schnee­flocken tan­zen).

Ich se­he den Sohn von Frau S., wie er lang­sam, un­end­lich lang­sam sei­ne Fuß­spur in den jung­fräu­li­chen Schnee zieht. Die Na­del­bäu­me sind weiß, und die laub­lo­sen Bäu­me tra­gen hel­le Strei­fen auf ih­ren Ar­men, von de­nen manch­mal ein Stück her­un­ter­fällt. Der jun­ge Mann trägt ei­nen dun­kel­blau­en Man­tel, der ihm bis zu den Knien reicht. Ein we­nig Schnee auf dem schwar­zen Schei­tel. Krä­hen­kräch­zen durch­schnei­det die Stil­le. Ein Fen­ster in der Front ei­nes Wohn­blocks re­flek­tiert Son­nen­strah­len. Auf ei­ner Bank ein ein­zel­ner Zu­schau­er im frei­en Licht­spiel­thea­ter: al­ter Mann mit Hut!

Wie bist du ge­stor­ben, Sohn? Ich wer­de dei­ne Mut­ter nicht da­nach fra­gen. Falls ich sie über­haupt wie­der­se­he. Ich weiss es ja. Ich weiss, wie du ge­stor­ben bist. Es ist nicht schwer zu er­ra­ten. Je­na­nd, der krank ist, d. h. an ei­ner de­fi­nier­ba­ren Krank­heit lei­det, wür­de sein Ab­le­ben vor­be­rei­ten, kom­men­tie­ren, be­kla­gen; sich zu­min­dest ein we­nig um die Nach­welt küm­mern, selbst wenn er, wie ich, kaum Leu­te hat, die man als »An­ge­hö­ri­ge« zu be­zeichnen pflegt. Er wür­de ver­su­chen, ir­gend et­was zu hin­ter­las­sen, zu­min­dest ei­nen gu­ten Ein­druck. Aus die­sem Grund gibt es den Brauch, ein Te­sta­ment ab­zu­fas­sen. Du aber, Sohn, hast die Spu­ren ver­wischt, hast nichts hin­ter­las­sen, am En­de nicht ein­mal dich selbst. Wie ein Zau­be­rer, der die Lee­re vor­zeigt. Oh­ne Stolz. War­um soll­te man auf die Lee­re stolz sein? Du hast nicht ein­mal Hand an dich ge­legt, son­dern hast bis zur letz­ten Kon­se­quenz ge­trie­ben, was du im­mer schon oder, wenn ich dei­ner Mut­ter glau­be, in den letz­ten Jah­ren ge­tan hast: Du hast dich ent­zo­gen. An je­nem Tag hat sie dei­nen Kör­per ge­fun­den, der leb­los auf dem ge­mach­ten Bett lag. Sie war nicht ein­mal über­rascht. Sie hat dein Hand­ge­lenk er­grif­fen und ih­re Wan­ge vor dei­nen Mund ge­hal­ten. Dann hat sie auf ih­rem Han­dy den Not­ruf ge­wählt. Was jen­seits von dei­nem Pass­wort ist, kann nie­mand wis­sen. Au­ßer, viel­leicht, dem Gro­ßen An­ony­mus.

© Leo­pold Fe­der­mair

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Dan­ke für die­se an­re­gen­de Mi­nia­tur!

    Der de­zen­te Kul­tur­pes­si­mis­mu, den Sie durch dem Er­zäh­ler zeich­nen, lud sehr zur Iden­ti­fi­ka­ti­on ein – auch wenn ich Ber­ry Lin­don nicht schät­ze – Sie tref­fen, fin­de ich, ge­ra­de das fra­gi­le Gleich­ge­wicht zwi­schen Di­stan­zie­rung und in der Welt sein. Ach, ha­be auch nach meh­re­ren An­läu­fen es nicht rich­tig aus­drücken kön­nen. Viel­leicht ex ne­ga­tivo: In Feuil­le­ton oder FAZ be­geg­net mir mit­un­ter ein Kul­tur­pes­si­mis­mus, den ich als tot, fe­ti­schi­siert, bloß be­haup­tet emp­fin­de, weil er die »Kul­tur« plat­ter­dings ge­gen un­se­re di­gi­ta­le Welt­wirk­lich­keit aus­spie­len will, ge­ra­de so als gä­be es da zwi­schen dem Pa­pier ei­ne Hap­tik, die al­go­rith­misch un­an­tast­bar blie­be. Bei Ih­nen je­doch war das Ver­hält­nis le­ben­dig, pla­stisch.

    The­ma­tisch er­in­ner­te es mich ein we­nig an »Ri­tua­le« von Noote­boom – ken­nen Sie dies?

  2. Wie vie­le Bü­cher es noch zu le­sen gibt! Von Noote­boom ken­ne ich bis­her gar nichts, wer­de aber dem­nächst Ih­rem Hin­weis nach­ge­hen.