Eine Reisegeschichte
Von Hiroshima über Taipei nach Wien zu fliegen, lag eigentlich nahe; ich weiß nicht, warum ich nicht früher auf diese Idee gekommen war. Vielleicht wegen der Animositäten gegen China – nur die China Airlines bieten diese Flugverbindung an –, die in der japanischen Bevölkerung immer noch verwurzelt sind, so auch bei meiner Frau, und die von entsprechenden Animositäten auf der chinesischen Seite genährt werden (und umgekehrt). Gespräche mit einer aus Taiwan stammenden Studentin, die meinen Unterricht an der Universität Hiroshima besuchte, weckten mein bis dahin allenfalls latentes Interesse an dem Land.

Wir fuhren also, meine elfjährige Tochter und ich, eines Morgens zum Flughafen, mit dem Taxi, da schwere Unwetter und Erdrutsche die Bahngeleise weggeschwemmt hatten, und stiegen ins Flugzeug der China Airlines, wobei ich vor der Tür noch einmal zwei Schritte zurück machte, um mir eine der auf dem Serviertischchen liegende englischsprachige Zeitung zu nehmen: die Taipei Times. Das Flugzeug war spärlich besetzt, die Flugzeit betrug zweieinhalb Stunden, ich hatte alle Ruhe und Zeit der Welt, um das nicht sonderlich umfangreiche Druckwerk durchzulesen. Auf Seite 3, taiwanesische Innenpolitik, stieß ich auf einen Artikel mit der Überschrift ‘Ocean’ Bravo the Bear mascot draws criticism. Innenpolitik?, dachte ich. Das Foto daneben zeigte einen weißbärtigen kahlhäuptigen Mann, der neben zwei anderen Personen mehr oder weniger fortgeschrittenen Alters an einem langen Tisch mit weißem Tischtuch saß und in ein rotes Mikrophon hineinsprach. Auf dem Tisch, am linken Fotorand, waren vier bläulich-schwarze Plüschbären aufgehäuft, sie trugen einen gelben Knopf an einem weißen Streifen, Halsband oder Fell, das war nicht auszumachen. Ich begann zu lesen, und es stellte sich heraus, daß es ein höchst ernsthafter Artikel war. Das Problem, von dem er handelte (Zeitungsartikel handeln naturgemäß von Problemen), bestand darin, daß die Kulturabteilung der Stadtregierung von Taipei beschlossen hatte, das Design des Maskottchens »Bravo the Bear« zu ändern. Dieses Maskottchen – das vom Foto, der Knopf an seinem Bauch stellte eine Goldmedaille dar – war bei der Bevölkerung von Taipei sehr beliebt, wie Shih Ying, der Präsident der Humanistic Education Foundation, betonte. Stiftung für humanistische Erziehung, dachte ich, was für ein ehrwürdiger Name! Solche Änderungen, sagte Shih Ying der Zeitung zufolge, würden nicht hingenommen werden, würde man sie an der Mona Lisa vornehmen. Er meinte die echte Mona Lisa, die im Pariser Louvre ausgestellt ist. Derselbe Name, Mona Lisa, wurde vom taiwanesischen Volksmund Bravo the Bear verliehen, weil er ein so schönes Lächeln zeige; Mona Lisa war gewissermaßen zum Spitznamen – oder Künstlernamen – des Bären geworden. Aber warum hatte die Stadtregierung das Aussehen der Mona Lisa von Taipei verändert? Der Präsident der Humanistischen Gesellschaft sprach von Verblendung und Arroganz der Mächtigen. Eine weitere Erklärung, sozusagen der Hintergrund der Geschichte, den die Artikelschreiber beisteuerten, lag darin, daß es Probleme mit den Markenrechten gab, die die Kulturabteilung durch kleine Änderungen – ein ozeanblaues Näschen anstelle des schwarzen – elegant zu umgehen versuchte. Einen solchen Angriff auf ihr geistig-künstlerisches Eigentum, dachte ich den Gedanken Shihs fortspinnend, einen solchen Angriff würde sich die echte Mona Lisa niemals gefallen lassen. Die Gesellschaft zur Rettung der Universiade-Version von Bravo the Bear hatte eine Petition verfaßt, die nicht nur von zahllosen Bürgern der Stadt, sondern auch von bekannten taiwanesischen Spitzensportlern unterschrieben worden war (von Künstlern war in diesem Zusammenhang leider nicht die Rede). Das Maskottchen war ursprünglich für die Sommeruniversiade entworfen worden, die 2017 in Taipei stattgefunden hatte.