Treffpunkt: eine Art Unort. Ein Café, eingerichtet eher wie ein Wirtshaus, an einem samstags ungeheuer belebten Markt an der städtischen Peripherie von Wien. Im halbdunklen Raum des Cafés während der zwei Stunden kaum Gäste: andere Welt, in der sich gut reden – und schreiben läßt, denn Xaver Bayers Bücher entstehen handschriftlich an Orten wie diesem. Wohnen tut er im Zentrum, in einer von der Großmutter übernommenen Wohnung mit einem Mietzins, der so niedrig ist, daß ihn die Besitzer hassen, weil er immer noch nicht ausgezogen ist. Mit diesem Gedanken spielt er, weil er die hyperkommerzialisierte Innenstadt zunehmend unerträglich findet. Aber der Mietzins ist heute auch an der Peripherie zu hoch. Eine luxuriöse und zugleich bescheidene Existenz führt der Dichter, nicht asketisch, aber am Minimum entlang. Das Wort »Luxus« gebraucht Bayer öfters, immer mit entschuldigender Geste. Und als Dichter erscheint er mir, seit ich ihn kenne, obwohl er in erster Linie ein Erzähler ist. Morgens nach dem Aufstehen, erzählt er, liest er eine ganze Weile Gedichte. So beginnt in der Regel sein Tag.
Gelegentlich hilft es ja, sich dem Medienstream auszusetzen. So wurde ich auf eine Diskussion aufmerksam, in der es wieder einmal um die Ukraine, Russland und den Westen ging. Der Zuschnitt der Sendung war auf Krawall gebürstet, der auch schon früh eintrat. Der bisher nicht durch politische Analysen besonders hervorgetretene Börsenhändler Dirk Müller wurde als »Putinversteher« angekündigt und auch flugs von Eric Frey vom österreichischen »Standard« als solcher deklariert. Dieses Etikett ist nicht neu; es dient allen Denkfaulen dazu, lästige Ansichten mit einem Federstrich zu diskreditieren. Die Geschwindigkeit, mit der dieses Attribut aus dem rhetorischen Waffenarsenal gezogen wird, ist enorm. Es erinnert von Ferne an die Einwände der Rechtskonservativen und Vertriebenen in den 1970er Jahren, die mit ähnlichen Parolen die Politik des Ausgleichs der sozialliberalen Regierung mit den Ländern Osteuropas diffamierten. »Vaterlandsverräter« war noch das mildeste Attribut. Lediglich auf die Formulierung »Breschnew-Versteher« ist damals niemals gekommen, was gewisse Rückschlüsse auf das heutige Erregungsprekariat der sozialen Medien zulässt.
In der o. e. Diskussion spielte ein Buch eine Rolle, dessen Kenntnis offensichtlich allen Teilnehmern nicht gleichermaßen geläufig war. Es heißt im deutschen Titel »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft« und ist von Zbigniew Brzezinski verfasst, dem Sicherheitsberater einiger (demokratisch dominierter) US-Regierungen (ob offiziell oder inoffiziell). Das Buch ist von 1997 und gilt offenbar als Geheimtipp. Bei Amazon ist das günstigste Angebot aktuell bei rund 190 Euro; für ein Taschenbuch ein stolzer Preis. Die Links auf die kostenlose Zurverfügungstellung setze ich jetzt nicht um mich nicht strafbar zu machen – aber mit ein bisschen Suchen kann sich jeder eine wenn auch schlecht formatierte Version als pdf herunterladen (ein findiger Kopf verkaufte für kurze Zeit den pdf-Ausdruck bei Amazon für 30 Euro).
Um es vorweg zu sagen: Diese Lektüre lohnt trotz des Zeitabstands. Man muss Zbigniew Brzezinskis Thesen in diesem Buch nicht teilen. Für Brzezinski ist Politik ein Schachspiel (der englische Titel ist entsprechend: »The Grand Chessboard«), in dem es vor allem darum geht, strategische Vorteile für die USA zu erringen um Machtansprüche zu erhalten oder auszubauen. Ins Zentrum seiner Betrachtungen steht »Eurasien« – der Raum von Lissabon bis Wladiwostok.
Den Herausforderungen die »der Islam« in Form unterschiedlicher Gruppierungen und Richtungen für die europäischen Gesellschaften darstellt, wird u.a. mit speziellen Gesetzen (Verschleierungsverbote, Novellierung des österreichischen Islamgesetzes) zu begegnen versucht. Zeitgleich treten durch die Terrororganisation, die sich islamischer Staat nennt, verschüttete oder unzureichend beantwortete Fragen wieder deutlich hervor: Jene nach der Trennung von Islam und Islamismus, dem Verhältnis zur und der Rechtfertigung von Gewalt oder die Politisierung von Religion: Das Verhältnis der muslimischen Gemeinschaften zu den europäischen Gesellschaften scheint unter Zeitdruck formuliert werden zu müssen, obwohl die entsprechenden Diskussionen mindestens 15 Jahre alt sind. Den bisherigen Bemühungen beider Seiten steht die Flucht zahlreicher junger Menschen in die Arme dieser Terrororganisation, gegenüber: Die europäischen Gesellschaften scheinen über wenig Bindungskraft zu verfügen und das Leben in Europa für einen Teil der Muslime wenig erfüllend zu sein.
Dieser Essay ist auch eine Replik auf zwei Texte von Niko Alm1; er spürt dem Verhältnis von Staat und Religion nach und versucht eine argumentativ-pragmatische Antwort, ohne zuerst ein bestehendes Konzept heranzuziehen: So soll versucht werden, der gegenwärtigen Situation, mit möglichst wenig Voreingenommenheit, Rechnung zu tragen. Dies soll in den Kontext der bisherigen Praxis in Österreich gestellt und das Islamgesetz, dessen Begutachtungsfrist soeben endete, in prinzipieller Hinsicht diskutiert werden. — Davor wird der Begriff Religion, sein Verhältnis zur Politik, den Menschen im Allgemeinen und den westlichen Gesellschaften im Besonderen umrissen. — Wenn von »dem Islam« oder »dem Christentum« (und anderen Religionen) gesprochen wird, dann ist damit keine homogene Tradition gemeint, sondern zahlreiche, die die eine oder andere Charakteristik teilen. — Die folgenden Betrachtungen sind an etlichen Stellen auf die großen monotheistischen Religionen hin verengt.
Sabine M. Gruber. ChorprobeIn ihrem Roman »Beziehungsreise« aus dem Jahr 2012 erzählte Sabine M. Gruber von Sophia und dem Verhältnis zu ihrem Geliebten Marcus. Sophia, glücklich verheiratet, aber »mehrliebig« orientiert, arrangierte ihr Dreiecksverhältnis akribisch und versuchte mit Marcus mit allen nur erdenklichen Mitteln inklusive sorgsam geplanten Reisen (die sie auch noch fast immer alleine bezahlte) zu betören. Aber nach der kurzen Eroberungsphase zu Beginn strafte Marcus Sophias Initiativen immer mehr mit Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit und machte dabei noch ihre Versuche, sich als Schriftstellerin zu etablieren, nieder, obwohl er selber als Rezensent (er blätterte nur die Bücher durch) nicht zu reüssieren vermochte. Gruber entwarf gekonnt diesen virtuellen Demütigungsraum, in dem sich Sophia trotzig eingerichtet hatte. Trotz dieser perfiden und hochmütigen Gleichgültigkeit, mit der Marcus diese Beziehung betrieb, glaubte Sophia bis zum Schluß an die Möglichkeit des Glücks in dieser offenen Menage-à-trois glücklich leben zu können. Erst als es zur Grenzüberschreitung kam und Marcus physischen Gewalt anwandte, beendete sie das Verhältnis.
Eine Glückssuche wie Sophia verfolgt auch Cindy in Grubers neuem Roman »Chorprobe«, wenn auch auf einem anderen Feld – dem der Kunst.
9. November, Mittwoch, New York City – Um halb 2h bei Ronald1 im Büro. Er führt uns durch die Räume (auf dem selben Stockwerk: Estée Lauder Corporation) die voll sind mit moderner Kunst – Rainer, Brus, Beuys, Penck, etc., unglaubliche fin-de-siècle-Möbel, aber alles in Neonlicht getaucht. Seltsame Szene danach: eingepfercht in seinen unglaublich vollen Terminkalender nimmt er uns ins innerste Büro, serviert Pastrami-Sandwich, dazu Salzgurke und Cream Soda – und hält uns beiden eine 10-Minuten-Ansprache über unser Leben, ganz rabbinisch, unglaublich herzlich, wenn auch naiv -. Wir seien jetzt viel stärker aufeinander angewiesen, seitdem wir beschlossen hätten, zusammenzuziehen, aber Paris sei seiner Meinung nach nur ein »cop-out»2, nur eine Zwischenlösung, die eigentliche Stadt für uns sei natürlich New York, hier sollten wir uns niederlassen. Sage ihm, daß diese Variante am trivialen Geld-Problem scheitern würde – seine Überlegung, vollkommen richtig, dass ich eigentlich auf Englisch schreiben sollte. Daß meine Aufgabe im Grunde die wäre, eine Art Brücke zu bauen zwischen den Amerikanern und den deutschsprachigen Ländern Europas. Daß mein Werk der Versöhnung zwischen Juden und Deutschen dienen könnte, dienen sollte. L.3 und ich etwas erstaunt, aber durchaus positiv überrascht ad diesem väterlich-rabbinischen Ton – fühlen uns in Freundschaft geborgen. (...) Abends der große Lauder-Event im 92.Street Y, ein jüdisches Auditorium, gepackt voll, Leute vom Jüdischen Weltkongress, und Simon Wiesenthal, Elie Wiesel, Arthur Cohn, Bürgermeister Edward Koch, etc., alle versammelt. Recht gute Ansprachen – alle drücken Ronald ihre Hochachtung aus. Vorführung des Films4 ad Reichskristallnacht, der heute gleichzeitig via PBS im ganzen Land gezeigt wird.
Ronald Lauder, geboren 1944, Sohn der Kosmetik-Unternehmerin Estée Lauder (1906 – 2004); Unternehmer, Präsident des Museum of Modern Art, New York. Große Teile seiner Kunstsammlung sind seit 2001 in der von ihm gegründeten Neuen Galerie in New York untergebracht. Seit 2007 Präsident des Jüdischen Weltkongresses. Siehe hier↩
Schmidtden Zigarettenrauch ausblasend und nach der Tasse Kaffee tastend
Raddatz: Seht meine violetten Socken. Passend zum Einstecktuch.
Grass: Was?
Raddatztänzelt leicht an Grass vorbei
Grass: Soll ich uns eigentlich was kochen?
Enzensberger: Nein, bitte nicht.
Raddatz: Ich suche den Champagner aus.
Grass: Dachte an Nierchen mit Kohlgemüse.
Enzensbergergeht mit einem Korb reihum So, hier bitte Eure Handys abgeben. Ich nehme die Akkus selber raus und vernichte beides dann. Alle werfen nacheinander ihre Mobiltelefone in den Korb.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen über das sogenannte Journalisten-Bashing nichts zu schreiben. Da gibt es kluge Artikel wie den von Stefan Niggemeier, der den Gründen innerhalb der Zunft nachspürt und irgendetwas wie einen dritten Weg zwischen Verschwörungstheorie und branchenüblichen Durchhalteparolen nebst partieller Jubelarien versucht.
Aber dann gibt es den Artikel von Bernhard Pörksen auf ZEIT-Online, der eine Ehrenrettung des Journalismus versucht. Weniger die Tatsache an sich ist bemerkenswert, als die Art und Weise in der dies geschieht.
Zu Beginn räumt Pörksen Verfehlungen des Journalismus ein. Dennoch hält er – so der Schluss aus seinen Ausführungen – die Reaktionen darauf für überzogen. Wut und Skepsis habe sich in Hass verwandelt. Dokumente dieser Medienverdrossenheit findet er in einer Studie aus dem Jahr 2010. Immerhin konstatiert er, dass es nicht den einen Grund gebe, sondern eine Vielzahl von Aspekten, die zu dieser negativen Sicht auf den Journalismus führe.
Pörksen zählt zwar die einzelnen Aspekte auf (Einfluss von Lobby- und PR-Agenturen auf Journalismus; die überbordende Skandalisierungsrhetorik, usw.), unterlässt es jedoch, auf sie etwas genauer einzugehen. Stattdessen widmet er sich den Kritikern und findet verwirrte Reichsdeutsche […] wie Friedensbewegte darunter. Zunächst soll damit die Spannbreite der Unzufriedenheit jenseits politischer und weltanschaulicher Grenzen dokumentiert werden. Auf den zweiten Blick dient diese Formulierung aber auch dazu die am Journalismus unserer Tage Zweifelnden zu denunzieren. Bei der Zuweisung als »Reichsdeutsche« leuchtet das sofort ein, aber auch »Friedensbewegte« wird hier pejorativ eingesetzt. Zwischen den Zeilen wird erstmals die moralische Frage an den Leser gestellt: ‘Willst Du in dieser Reihe stehen?’
Sogenannte Postings, also meist pseudonym formulierte Kommentare von Informationskonsumenten im Internet, haben keine Bedeutung, auch wenn sich die sogenannten Poster, wenn sie mit ihren Meinungen und Gefühlen in die Öffentlichkeit gehen, wichtig vorkommen mögen. Aus diesem Grund ist es mir ziemlich egal, wenn eines meiner Postings zensuriert wird. Die Zensur, die man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für überholt hielt, ein historisches Phänomen, ist im 21. Jahrhundert wiedergekehrt. In der Regel wird sie automatisch vorgenommen, also von Maschinen, die den Inhalt der Texte nicht wirklich verstehen können, sondern auf Reizwörter und deren Kombinationen reagieren.
Meine Kommentare werden öfters am öffentlichen Erscheinen gehindert, und in der Regel vergesse ich den Vorfall gleich wieder. Neulich aber setzte sich die erlittene Zensur in meinem Kopf fest, weil sie mir vielsagend schien. Es ging im sogenannten Forum, das den altehrwürdigen römischen, auf die griechische Demokratie zurückverweisenden Namen nicht verdient, um Pädophilie, ein Thema, das im Internet kaum je mit Vernunftgründen besprochen wird. Den Wortlaut meines Postings habe ich nicht in Erinnerung, aber ich erwähnte unter Klarnamen – die Ano- und Pseudonymität lehne ich für mich persönlich ab – meine Erfahrung, daß sich meine kleine Tochter für meinen Penis interessiert. Ich bin überzeugt, daß ähnliche Erfahrungen die meisten Väter machen, ausgenommen die besonders verschämten, die sich ihren Kindern niemals nackt zeigen. Nur diese eine Tatsache habe ich im Posting kurz, ohne Emotionalisierung und ohne »schmutzige Wörter«, erwähnt. Nicht geschrieben habe ich, daß ich gegebenenfalls Berührungen meines Geschlechtsteils durch meine Tochter zulasse und daß meine Empfindung dabei ambivalent ist: zunächst gar nicht unangenehm, in einer zweiten, vermutlich moralgeleiteten Reaktion dann aber doch. Mein Körper reagiert dabei nicht so, wie er bei der Berührung durch meine Frau reagiert. Das erleichtert mich grundsätzlich und bestätigt: Ich bin nicht pädophil und habe keine Neigung zum Inzest. Ich bin aber auch froh, daß ich das in Erfahrung bringen konnte – empirisch überprüfen, würde ein Wissenschaftler sagen. Alles, was mich umgibt, macht mich neugierig; neugierig wie meine Tochter, von der ich immer wieder einiges lernen kann.