Pass­wort (3)

Teil 2 / Teil 1

3

Ei­ne Wo­che spä­ter sag­te sie mir, sie ha­be end­lich ei­ne Spur ge­fun­den.

Ei­ne Spur?

Ja, und sie ha­be die­se Spur gleich ver­folgt. Ta­ge­lang hat­te sie ver­geb­lich ver­sucht, irgend­einen An­halts­punkt zu fin­den, und jetzt, end­lich. Ihr Sohn hat­te fast nichts hin­ter­las­sen, nur die Bäl­le und Ke­gel, Qua­der und Tü­cher, ein paar Zau­be­ru­ten­si­li­en. Und na­tür­lich das Smart­phone – oh­ne Kopf­hö­rer, der war ver­schwun­den – und den Com­pu­ter. Die­se bei­den Ge­rä­te wür­den ver­mut­lich al­les ent­hal­ten (sie be­ton­te das Wort ALLES), aber sie ken­ne das Pass­wort nicht, ihr Mann schon gar nicht, nie­mand ken­ne das Pass­wort au­ßer ih­rem Sohn, und ihn kön­ne man nicht mehr fra­gen. Stun­den­lang ha­be sie al­le mög­li­chen Ein­ga­ben ver­sucht, Ge­burts­ta­ge, Lieb­lings­man­ga­fi­gu­ren, Na­men von Familienange­hörigen, Pop­bands, Sek­kai, An­fang, En­de, Sek­kaio­wa­ri, Sek­kai­no, Owa­ri­sek­kai, al­les mög­li­che, Zu­falls­kom­bi­na­tio­nen, Zah­len und Buch­sta­ben, ab­wech­selnd, die Zei­chen auf der Ta­sta­tur in Ver­bin­dun­gen, die wie­der an­de­re Zei­chen er­ga­ben, Kreu­ze, Zacken, um­sonst. Se­sam öff­ne­te sich nicht. Und die Wahr­schein­lich­keit, daß er es noch tun wür­de, war gleich null.

Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung ver­liert, ruft man doch auch den Schlüs­sel­dienst.

»Ich ha­be doch te­le­pho­niert«, sag­te sie, fast schon ein we­nig ent­rü­stet. »Die ma­chen das nur auf An­wei­sung der Po­li­zei. Ich müss­te die Po­li­zei ein­schal­ten. Aber was soll ich de­nen sa­gen? Daß ich nach Adres­sen su­che?«

»Und Hacker? Ich mei­ne, es gibt Leu­te, die ma­chen sich dar­aus ein Spiel, Com­pu­ter knacken.«

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Pass­wort (2)

Teil 1

2

Viel­leicht auch des­halb, weil sie Kon­flik­te – ech­te Dis­kus­sio­nen – ver­mei­den woll­te, oder weil sie nie­man­den hat­te, um über per­sön­li­che Din­ge zu spre­chen, und ich ihr Jahrgangs­vertrauen nun ein­mal ge­weckt hat­te, ging sie beim näch­sten Be­such im Star­bucks da­zu über, mir dies und je­nes aus ih­rem Le­ben zu er­zäh­len, wo­bei häu­fig ihr Sohn ei­ne be­son­de­re Rol­le spiel­te, der im Zen­trum ih­res der­zei­ti­gen Le­bens zu ste­hen schien. Ihr Mann ar­bei­te­te in ei­ner an­de­ren Stadt und kam ein­mal pro Mo­nat am Wo­chen­en­de nach Hau­se. Der Sohn, vor kur­zem drei­ßig ge­wor­den, war krank, aber sie nann­te die Krank­heit nicht beim Na­men. Auch von ei­ner me­di­zi­ni­schen Be­hand­lung, von Arzt- oder Kran­ken­haus­be­su­chen war nicht die Re­de.

Es dau­er­te ei­ne ge­rau­me Wei­le, bis zur vier­ten oder fünf­ten Star­bucks-Sit­zung (wie ich sie ins­ge­heim nann­te), bis mir klar wur­de, daß der Sohn – sie nann­te ihn nie beim Na­men – nie oder fast nie das Haus ver­liess. War er bett­lä­ge­rig? Oder ge­lähmt? Kör­per­lich oder gei­stig be­hin­dert? Nein, in Frau S.’ Er­zäh­lun­gen deu­te­te nichts dar­auf hin. Der Sohn hat­te stu­diert, sein Stu­di­um or­dent­lich ab­ge­schlos­sen und da­nach ei­ni­ge Jah­re in ei­ner Fir­ma ge­ar­bei­tet. Er war Hob­bys nach­ge­gan­gen, hat­te Freun­de ge­trof­fen. Zau­bern, Jon­glie­ren, Din­ge zum Ver­schwin­den brin­gen, das er­freu­te sein Herz.

Ge­nau so drück­te sich sei­ne Mut­ter aus: »Es er­freu­te sein Herz.« Und war täg­li­che Ge­wohn­heit. Sein Zim­mer war na­he­zu leer, die Man­gas hat­te er in Schach­teln ge­räumt und zu ei­nem Spott­preis ei­nem Händ­ler ver­kauft, weil sie ihn, wie er sag­te, vom Trai­ning ab­lenk­ten. In letz­ter Zeit hat­te er aber nach­ge­las­sen, gan­ze Ta­ge ver­gin­gen, oh­ne daß Frau S. die Ge­räu­sche von zu Bo­den fal­len­den Ke­geln oder Bäl­len hör­te (die frü­her manch­mal die Pro­te­ste ei­ner Nach­ba­rin her­vor­ge­ru­fen hat­ten). Die Tür zu sei­nem Zim­mer ver­schloss er nicht, hat­te sie nie ver­schlos­sen, es gab nicht ein­mal ei­nen Schlüs­sel, aber der Jun­ge zeig­te sich nicht mehr, wenn sie vor­sich­tig das Zim­mer be­trat, sie sah ihn nicht, ver­mu­te­te ihn zu­erst un­ter der Bett­decke, hin­ter der Tür, un­term Bett – nichts. Aus­ge­gan­gen? Mög­lich. Auf Ze­hen­spit­zen, Ze­hen­bal­len an der Kü­che vor­bei­ge­schli­chen. »Wie ei­ne Kat­ze«, sag­te Frau S. Sie zwang sich, sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen, schliess­lich war er alt ge­nug, kann­te die Um­ge­bung, die Stadt, zu­min­dest den Haupt­bahn­hof, die Uni­ver­si­tät. Dann wie­der fand sie ihn auf dem Bett lie­gend, kraft­los, mit weit ge­öff­ne­ten, star­ren Au­gen. Er aß we­nig, im­mer we­ni­ger. Sie brach­te ihm sei­ne Lieb­lings­spei­sen ins Zim­mer. Er lä­chel­te, aß fast nichts, setz­te den Kopf­hö­rer wie­der auf. Hör­te Mu­sik, die er vor sie­ben, acht Jah­ren ge­hört hat­te. Als er Stu­dent war. Sek­kai no Owa­ri. Welt­ende, ei­ne fröh­li­che Mu­sik. Schau­te aufs Smart­phone, wisch­te Man­gas vor­bei. »Man braucht kei­ne Bü­cher mehr«, sag­te er ein­mal. »Ist al­les hier drin.«

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Ar­no Dah­mer: Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du.

Arno Dahmer: Manchmal eine Stunde, da bist Du.
Ar­no Dah­mer:
Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du.

Wenn es tat­säch­lich ei­ne Art un­ge­schrie­be­nes Ge­setz sein soll Bü­cher von Ver­la­gen bei de­nen man sel­ber pu­bli­ziert nicht be­spre­chen, re­zen­sie­ren oder emp­fehlen zu dür­fen, dann wä­ren un­zäh­li­ge Tex­te nie ge­schrie­ben und vie­le Dis­kus­sio­nen nie ge­führt wor­den. So man­che Run­de im Li­te­ra­ri­schen Quar­tett oder Li­te­ra­tur­club wä­re aus­ge­fal­len und vie­le Rezen­sionen hät­ten nur mit ei­ner vor­weg­ge­nom­me­nen oder nach­träg­li­chen »Klar­stel­lung« er­schei­nen kön­nen. Denn ir­gend­wie ist ir­gend­wann je­der Schrei­ber von Kri­ti­ken mit dem ein oder an­de­ren Ver­lag ver- oder auch, sel­te­ner, ent­bun­den. Da­bei sind sol­che für je­der­mann sicht­ba­ren Zei­chen ei­gent­lich harm­los; der obi­ge Im­pe­ra­tiv er­scheint im Lich­te all des­sen, was man an Klün­ge­lei­en (der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te) nach­träg­lich er­fah­ren hat, ge­ra­de­zu lä­cher­lich. Der wirk­li­che Filz bleibt auch heu­te zu­ver­läs­sig im Dun­keln, die wah­ren Seil­schaf­ten zei­gen sich nicht auf Face­book.

Da­her se­he ich es nicht als Pro­blem mich über Ar­no Dah­mers Er­zähl­band »Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du«, der im Mi­ra­bi­lis Ver­lag er­schie­nen ist, zu äu­ßern. Wenn es mich da­zu drängt so ist das (wie es ei­gent­lich im­mer sein soll­te) ein Be­dürf­nis. Und na­tür­lich gibt es ei­ni­ges Kri­ti­sches zu den Er­zäh­lun­gen zu sa­gen. Denn ne­ben der aus­führ­lich zu lo­ben­den Kunst Dah­mers gibt es durch­aus Är­ger­li­ches.

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Pass­wort (1)

1

Schon öf­ters hat­te ich fest­ge­stellt, daß Men­schen des­sel­ben Jahr­gangs et­was ver­bin­det. Das be­trifft nicht nur An­ge­hö­ri­ge ei­ner be­stimm­ten Grup­pe, die ge­mein­sa­me Er­fah­run­gen ge­macht ha­ben und sich spä­ter al­le paar Jah­re tref­fen, um Er­in­ne­run­gen aus­zu­tau­schen. Nein, ich ha­be die­se Be­ob­ach­tung an Men­schen ge­macht, die ich frü­her nicht ge­kannt hat­te, die in an­de­ren Städ­ten, so­gar Län­dern auf­ge­wach­sen wa­ren. Uns 1957 Ge­bo­re­ne ver­bin­det et­was. Ich könn­te nicht sa­gen, was es ist. Viel­leicht das be­son­de­re Stau­nen des Zwölf­jäh­ri­gen an­ge­sichts der Bil­der vom Mond­spa­zier­gang der drei Astro­nau­ten, de­ren Na­men wir nie ver­ges­sen ha­ben. Oder die Trau­er des sechs­jäh­ri­gen Kin­des beim Tod John F. Ken­ne­dys, den es nicht ver­ste­hen, aber mit­füh­len konn­te. Un­be­küm­mert um die Mög­lich­keit ei­nes Kriegs in den Tag hin­ein zu le­ben, ob­wohl wir mit Ba­racken­kin­dern zwi­schen Rui­nen spiel­ten und vor Blind­gän­gern auf dem Nie­mands­ge­län­de ge­warnt wur­den, die am Stadt­rand auf un­vor­sich­ti­ge Kin­der war­te­ten. Oder die Mu­sik­bo­xen und Flip­per­au­to­ma­ten, die Tanz­kel­ler, die Stur­heit der Er­wach­se­nen, mit de­nen man nicht ernst­haft re­den konn­te, schon gar nicht über ih­re Ver­gan­gen­heit. Oder die Fil­me, zum Bei­spiel aus dem Jahr 1977, als wir schon zwan­zig wa­ren und ge­bil­det ge­nug, um den wir­ren Bild­re­fle­xio­nen ei­nes Jean-Luc Go­dard zu fol­gen, und noch of­fen ge­nug, um uns von ein­zel­nen Sze­nen, Ge­sten, Ge­sich­tern in Nah­auf­nah­me tief und viel­leicht für im­mer, bis ins Jahr 2017, be­ein­drucken und be­ein­flus­sen zu las­sen.

Na­tür­lich geht es da­bei nicht um Jah­res­zah­len, schon gar nicht um Mo­na­te, Wo­chen, Ta­ge. Mit den 1956 oder 58 Ge­bo­re­nen ver­bin­det mich das­sel­be: die­sel­be un­de­fi­nier­ba­re, aber rea­le At­mo­sphä­re, das­sel­be Le­bens­ge­fühl. Wei­ter als ein Jahr nach vor­ne, eins nach hin­ten lässt sich das Zeit­feld aber nicht aus­deh­nen. 1955 oder 59, da be­ginnt ei­ne an­de­re Zo­ne. Wer 1968 noch nicht zehn war, ver­steht nicht, wie ich die Welt se­hen ge­lernt ha­be. Die Beat­les, die Rol­ling Stones. Pat­ti Smith und Sex Pi­stols. Ja, das auch, aber was ich mei­ne, und was wir tei­len, rührt viel tie­fer, geht in die De­tails, die Po­ren der Jah­re. Wie die – ver­gleichs­wei­se we­ni­gen – Au­tos rat­ter­ten, die Mo­peds heul­ten. Die Ver­samm­lun­gen vor dem Fern­se­her beim Gast­wirt, das Mit­fie­bern bei Sport­er­eig­nis­sen. Die aufgeschüt­tete, gras­über­wach­se­ne Er­de hin­ter dem Haus, zum Spiel­platz ge­macht. Die Far­ben und For­men und Stof­fe, Oran­ge, Run­dun­gen, Knautsch­lack. Be­stimm­te Aus­drücke, egal in wel­cher Spra­che (ei­ne be­stimm­te Art von Aus­drücken). Blicke. Ab­pral­len­de Blicke. Ver­sin­ken­de Blicke. Din­ge, die man nicht be­nen­nen kann. Mit Men­schen, die 1957 ge­bo­ren sind, ver­ste­he ich mich, auch wenn uns sonst al­les trennt.

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Nach­ruf für ei­nen ehe­ma­li­gen Abon­nen­ten

Aus dem Jour­nal vom 14. Ju­li 2017

Ich will auf die Bank ge­hen, end­lich den Er­lag­schein für Lett­re In­ter­na­tio­nal ein­zah­len. Als ich aber noch ein­mal auf den Zet­tel blicke und ex­tra aus­ge­wie­sen »Por­to 5,80« se­he, är­gert mich das. Viel­leicht auch ha­be ich auf so ein Är­ger­nis ge­war­tet. Statt auf die Post zu ge­hen, grei­fe ich zum Te­le­fon, wäh­le Ber­lin und mel­de den Abon­nen­ten als ver­stor­ben.

Selt­sam, ein be­rüh­ren­der Mo­ment. Da­mit ha­be ich nicht ge­rech­net. Na­tür­lich stimmt es, dass ich kaum noch da­zu­kom­me, die Zeit­schrift – al­le Ar­ti­kel zu­sam­men er­ge­ben ei­nen Text im Aus­maß meh­re­rer Bü­cher – zu le­sen, aber sie ver­band mich mit dem Be­ginn mei­nes Schrift­stel­ler­le­bens, war ei­ne Art An­ker, der da im Sand der Ver­gan­gen­heit ver­hakt war. Nun ist der An­ker ge­ho­ben, oder die Ket­te ein­fach nach­ge­wor­fen, die Ver­bin­dung je­den­falls ge­löst, und ich füh­le mich nicht er­leich­tert. Ich den­ke an mei­nen er­sten (und letz­ten) Be­such der Frank­fur­ter Buch­mes­se, wo mir der da­ma­li­ge Chef­re­dak­teur der Zeit­schrift be­geg­ne­te, sich an Tex­ten von mir in­ter­es­siert zeig­te. Ich sand­te ihm et­was über Afri­ka – ir­gend­et­was mit Rin­der­wahn im Ti­tel, da­mals ge­ra­de ein The­ma – und der Chef­re­dak­teur fand das span­nend und druck­te es. Das Bei­spiel fand kei­ne Wie­der­ho­lung, aber Lett­re In­ter­na­tio­nal kam wei­ter vier Mal im Jahr und sta­pel­te sich in mei­nem Fe­ri­en­haus, wo ich es ab­leg­te, in der Hoff­nung, dort Zeit und Mu­ße zu fin­den, um dar­in zu le­sen. Ge­le­gent­lich ma­che ich es auch, aber wenn schon Zeit und Mu­ße, dann ver­wen­de ich sie bes­ser zum Schrei­ben, schließ­lich ent­ste­hen wei­ter Bü­cher. Und so ist heu­te, ei­nen Tag nach Liu Xia­o­bo, der Abon­nent 23055 ge­stor­ben. »Der Abon­nent hieß?« – der jun­ge Mann las aus sei­ner Li­ste mei­nen Na­men – »Ja«, be­stä­tig­te ich. »Muß ich sonst noch et­was tun?« – »Nein, ist er­le­digt. Gu­ten Tag.«

Den Weg zum Post­amt ein­ge­spart, ge­he ich in die na­hen Wein­gär­ten zu den Brombeer­hecken. Ich pflücke zu­erst im Wein­gar­ten über den letz­ten Haus, wo je­mand al­ter, kran­ker, im Gar­ten un­ter den Brom­bee­ren sich in den Mor­gen hu­stet. Hat auch nicht mehr lan­ge zu le­ben, den­ke ich, und pflücke wei­ter Bee­ren für die Ewig­keit. Mit ei­nem und ei­nem hal­ben Ki­lo kom­me ich nach­hau­se.

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Kol­lek­tiv­ge­spenst ge­gen In­di­vi­du­al­ge­spenst

Wie­der­le­se­ver­such über Ni­co­las Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«.

Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte
Ni­co­las Born: Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te

Nach der Be­schäf­ti­gung mit Ni­co­las Borns letz­tem Ro­man »Die Fäl­schung« und der hier­in deut­lich ge­äu­ßer­ten Jour­na­lis­mus- und Sprach­kri­tik (die, wie ich ana­ly­sie­re, als ein Vor­läu­fer der Kri­tik Pe­ter Hand­kes an der Be­richt­erstat­tung zu den Ju­go­sla­wi­en-Krie­gen der 1990er Jah­re gel­ten kann) be­sorg­te ich mir an­ti­qua­risch den be­kann­te­sten Ro­man Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«, der drei Jah­re vor der »Fäl­schung« er­schie­nen war und für den Ly­ri­ker Born so et­was wie den Durch­bruch be­deu­te­te.

Mein Ex­em­plar war die 6.–8. Tau­send-Auf­la­ge 1976. Die Klap­pen­tex­te be­stan­den vor al­lem aus Aus­schnit­ten aus Re­zen­sio­nen, na­tur­ge­mäß al­le lo­bend. Wie nicht an­ders zu er­war­ten stand an er­ster Stel­le ein Satz von Mar­cel Reich-Ra­nicki, dann et­was von Wolf­ram Schüt­te. Auf der hin­te­ren Klap­pe ist dann noch ei­ne Pas­sa­ge aus Pe­ter Hand­kes Be­gleit­schrei­ben zum Buch aus der »Zeit« ab­ge­druckt.

Ich er­in­ne­re mich das Buch vor vie­len Jah­ren aus der Bi­blio­thek ent­lie­hen und nach we­ni­gen Sei­ten weg­ge­legt und schließ­lich vor der Ab­ga­be­frist zu­rück­ge­ge­ben zu ha­ben. Zu ex­zes­siv schien mir die Kla­ge des Ich-Er­zäh­lers über sich, sei­ne Freun­din Ma­ria und über­haupt die Welt.

Nach der Lek­tü­re des schö­nen Tex­tes von Hil­mar Klu­te zum 80. Ge­burts­tag des 1979 ge­stor­be­nen Ni­co­las Born griff ich nun zum Buch. Es war eben auch das sanf­te Plä­doy­er Klu­tes für die »neue Sub­jek­ti­vi­tät«, die die deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur lan­ge Zeit präg­te und – wenn man ge­nau hin­schaut – längst wie­der­ge­kehrt ist, frei­lich an­ders als da­mals in den 1970er Jah­ren (hier­auf wird noch ein­zu­ge­hen sein), die mich nun wie­der neu­gie­rig mach­te.

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John Wil­liams: Nichts als die Nacht

John Williams: Nichts als die Nacht
John Wil­liams: Nichts als die Nacht

Vor vier Jah­ren ge­lang mit der Neu­über­set­zung von John Wil­liams’ 1965 erst­mals pu­bli­zier­tem Ro­man »Stoner« im deut­schen Feuil­le­ton et­was sehr Sel­te­nes: Von der Hoch­kri­tik bis in den Bou­le­vard hin­ein gab es nur Lo­bes­hym­nen. »Stoner« bot auf al­len Ebe­nen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al, ins­be­son­de­re für den Intel­lektuellen, der Zeit sei­nes Le­bens in der Uni­ver­si­tät (oder eben in Re­dak­ti­ons­stu­ben) sei­ner in­tel­lek­tu­el­len In­te­gri­tät treu ge­blie­ben war. Das Le­ben des Uni­ver­si­täts­do­zen­ten Stoner war ge­prägt aus der Dis­kre­panz der Lei­den­schaft des In­tel­lek­tu­el­len für sei­ne Ar­beit und dem rea­len Le­ben. Im Ge­gen­satz zum deut­schen Faust blieb sich Stoner treu. Sein Schei­tern (Ver­lust der Freun­de, un­glück­li­che Ehe, al­ko­hol­kran­ke Toch­ter, aus­blei­ben­der aka­de­mi­scher Ruhm nebst Uni­ver­si­täts­in­tri­ge) wur­de als Le­bens­tra­gik emp­fun­den, die tap­fer aus­ge­hal­ten wur­de. Die spä­te Flucht in die Lie­be ei­ner Stu­den­tin ist nicht der schlüpf­ri­ge drit­te Früh­ling ei­nes al­tern­den Man­nes, son­dern Aus­druck ei­ner Sehn­sucht. Der Er­folg die­ses Bu­ches, das 2006 in den USA nach mehr als 40 Jah­ren wie­der­ent­deckt wur­de und dann in der deut­schen Über­set­zung von Bern­hard Rob­ben auch hier re­üs­sier­te, liegt in der be­hut­sa­men wie un­pa­the­ti­schen Spra­che, die es dem Le­ser er­mög­lich­te, nicht un­ter sei­nem Ni­veau Mit­leid und Em­pa­thie zu emp­fin­den. Die Ster­be­sze­ne des auf­rech­ten Exi­sten­tia­li­sten Stoner ist ei­ne der rüh­rend­sten der Li­te­ra­tur, wo­bei es Wil­liams’ Ver­dienst es, ge­ra­de hier kei­nen süß­li­chen, me­lo­dra­ma­ti­schen Kitsch zu ver­brei­ten.

Der Ver­lag legt nun mit »Nichts als die Nacht«, John Wil­liams er­ster Er­zäh­lung aus dem Jahr 1948, nach. Der Au­tor war 26 als die­ses Buch ver­öf­fent­licht wur­de und soll es vier Jah­re zu­vor schon ge­schrie­ben ha­ben. Die deut­sche Gat­tungs­be­zeich­nung ist »No­vel­le«, was dis­ku­ta­bel wä­re, aber ei­gent­lich un­wich­tig ist. Si­mon Strauß kommt in sei­nem Nach­wort auf die hin­läng­lich be­kann­te Ge­schich­te über Wil­liams’ Ab­schuss im Indo­chinakrieg zu spre­chen, den die­ser nur mit Glück über­leb­te. Es wä­re ein leich­tes die­se au­to­bio­gra­phi­schen Er­leb­nis­se auf den Text an­zu­wen­den, aber es ist eben auch je­ne Kü­chen­psy­cho­lo­gie, vor der man sich hü­ten soll­te.

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Der klei­ne Franz und der spin­ner­te Schor­schl

Ein Salz­bur­ger Traum

Um 1910 wa­ren in den öster­rei­chi­schen Städ­ten vie­le Pfer­de un­ter­wegs, sie zo­gen Wa­gen und Kut­schen ver­schie­den­ster Art. In Wien fuhr im Ju­ni 1903 die letz­te Pferdestraßen­bahn, doch schwe­re Gü­ter wur­den wei­ter­hin in er­ster Li­nie von Pfer­den be­för­dert. Die Pho­bie des klei­nen Hans, die Freud an­hand der Auf­zeich­nun­gen des Va­ters des Kna­ben 1909 be­schrieb und ana­ly­sier­te, die Angst des Kna­ben vor Last­pfer­den, be­son­ders dann, wenn sie mit den Bei­nen »Kra­wall ma­chen«, muß zu­nächst ein­mal ganz rea­li­stisch ge­we­sen sein, zu­mal die Fa­mi­lie in der Un­te­ren Via­dukt­gas­se ge­gen­über von ei­nem La­ger­haus wohn­te, wo ein re­ger Ver­kehr von Fuhr­wer­ken herrsch­te. Freud tritt dem Vor­wurf, bei der Be­hand­lung der Pho­bie wür­den dem Kna­ben Din­ge vor al­lem se­xu­el­ler Na­tur le­dig­lich sug­ge­riert, of­fen­siv ent­ge­gen. Sei­nen wohl­ab­ge­wo­ge­nen Ar­gu­men­ten zum Trotz kann man sich bei der Lek­tü­re auch mehr als hun­dert Jah­re spä­ter des Ein­drucks nicht er­weh­ren, daß Freud und sein Ana­ly­se­ge­hil­fe (Han­sens Va­ter) das fa­mi­liä­re Ge­sche­hen nicht nur se­xua­li­sie­ren, son­dern mit Sym­bol­wer­ten – die dann al­le in ein und die­sel­be Rich­tung zei­gen – re­gel­recht über­la­den. Rie­si­ge Fuhr­wer­ke in un­un­ter­bro­che­ner Fol­ge gleich vor der Haus­tür, soll­ten sie ei­nen vier­jäh­ri­gen Jun­gen et­wa nicht erschre­cken? Das ist doch so, wie wenn ei­ne Fa­mi­lie heu­te an ei­ner Ortsdurchfahrt­straße wohnt, auf der in ei­nem fort mo­to­ri­sier­te Last­wa­gen zu ge­wal­ti­gen La­ger­haus­kom­ple­xen – et­wa der Fir­men Ho­fer oder Lutz – vor­beib­rau­sen. Vor al­ler Sor­ge um die se­xu­el­le Ent­wick­lung des Kin­des wer­den sich sei­ne El­tern vor al­lem Ge­dan­ken ma­chen, wie sie si­cher­stel­len kön­nen, daß es nie­mals von ein im Ernst­fall wohl fa­ta­len Ver­kehrs­un­fall be­trof­fen sein wird.

Der Ost­deut­sche, in Böh­men auf­ge­wach­se­ne, in Kalks­burg bei Wien zur Schu­le ge­gan­ge­ne Schrift­stel­ler Franz Füh­mann träum­te im Mai 1977 wäh­rend ei­nes kur­zen Be­suchs in der Stadt Salz­burg von ei­nem Pferd, das ihn zum rei­ßen­den Fluß wälz­te und hin­ein­warf. In sei­nem gro­ßen Tra­kl-Es­say Vor Feu­er­schlün­den be­rich­tet er kurz da­von: »Ros­se stie­gen aus ei­nem Brun­nen und wälz­ten mich durch den Stein der Stadt und stürz­ten mich in die rot­schäu­men­de Salz­ach, die ihr Stein­bett über mir schloß.« 1977 gab es in Salz­burg nur noch we­ni­ge Pfer­de, die Tou­ri­sten in Fia­kern be­för­der­ten. Ich selbst wohn­te da­mals in der Max­gla­ner Vor­stadt un­weit vom Alm­ka­nal und hör­te abends manch­mal Huf­ge­trap­pel, das mich fast mär­chen­haft an­rühr­te, bis ich ei­nes Ta­ges den Ka­nal ent­lang spa­zier­te und auf die Scheu­ne stieß, in der Fia­ker­pfer­de die Nacht zu­brach­ten. Je­der, der Tra­kls Dich­tung kennt, wird sich bei der Kennt­nis­nah­me von Füh­manns Traum an ein Ge­dicht er­in­nern, in dem Rös­ser vor­kom­men, und zwar mit der­sel­ben Wort­wahl und gleich­falls im Plu­ral. Das 1910 ver­faß­te Ge­dicht Die schö­ne Stadt nimmt ein den Salz­bur­gern ver­trau­tes Bild aus der Wirk­lich­keit auf, näm­lich den Brun­nen auf dem Re­si­denz­platz, wo stei­ner­ne Pfer­de aus dem Was­ser tau­chen oder – bei Füh­mann – stei­gen. Zu Leb­zei­ten Tra­kls war die Stadt aber noch von le­ben­di­gen Pfer­den be­völ­kert, so daß der tro­chä­isch-vier­he­bi­ge, ex­pres­si­on­stisch-pro­to­koll­haf­te Satz »Rös­ser tau­chen aus dem Brun­nen« sich eben­so auf die we­ni­ge Geh­mi­nu­ten vom Re­si­denz­brun­nen ent­fern­te Pfer­de­schwem­me be­zie­hen könn­te, wo in noch nicht mo­to­ri­sier­ten Zei­ten er­hitz­te und ver­schmutz­te Pfer­de ge­kühlt und ge­wa­schen wur­den.

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