Ar­no Dah­mer: Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du.

Arno Dahmer: Manchmal eine Stunde, da bist Du.

Ar­no Dah­mer:
Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du.

Wenn es tat­säch­lich ei­ne Art un­ge­schrie­be­nes Ge­setz sein soll Bü­cher von Ver­la­gen bei de­nen man sel­ber pu­bli­ziert nicht be­spre­chen, re­zen­sie­ren oder emp­fehlen zu dür­fen, dann wä­ren un­zäh­li­ge Tex­te nie ge­schrie­ben und vie­le Dis­kus­sio­nen nie ge­führt wor­den. So man­che Run­de im Li­te­ra­ri­schen Quar­tett oder Li­te­ra­tur­club wä­re aus­ge­fal­len und vie­le Rezen­sionen hät­ten nur mit ei­ner vor­weg­ge­nom­me­nen oder nach­träg­li­chen »Klar­stel­lung« er­schei­nen kön­nen. Denn ir­gend­wie ist ir­gend­wann je­der Schrei­ber von Kri­ti­ken mit dem ein oder an­de­ren Ver­lag ver- oder auch, sel­te­ner, ent­bun­den. Da­bei sind sol­che für je­der­mann sicht­ba­ren Zei­chen ei­gent­lich harm­los; der obi­ge Im­pe­ra­tiv er­scheint im Lich­te all des­sen, was man an Klün­ge­lei­en (der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te) nach­träg­lich er­fah­ren hat, ge­ra­de­zu lä­cher­lich. Der wirk­li­che Filz bleibt auch heu­te zu­ver­läs­sig im Dun­keln, die wah­ren Seil­schaf­ten zei­gen sich nicht auf Face­book.

Da­her se­he ich es nicht als Pro­blem mich über Ar­no Dah­mers Er­zähl­band »Manch­mal ei­ne Stun­de, da bist Du«, der im Mi­ra­bi­lis Ver­lag er­schie­nen ist, zu äu­ßern. Wenn es mich da­zu drängt so ist das (wie es ei­gent­lich im­mer sein soll­te) ein Be­dürf­nis. Und na­tür­lich gibt es ei­ni­ges Kri­ti­sches zu den Er­zäh­lun­gen zu sa­gen. Denn ne­ben der aus­führ­lich zu lo­ben­den Kunst Dah­mers gibt es durch­aus Är­ger­li­ches.

Da­bei be­ginnt es zu­nächst ver­hei­ßungs­voll mit Mar­tha, ei­ner Wit­we, End­sech­zi­ge­rin, die ir­gend­wo in der (nord­deut­schen?) Pro­vinz lebt (»Man kann ja im Her­zen«). Sie wohnt zu­sam­men ih­rem ar­beits­lo­sen 40jährigen Sohn, des­sen ein­zi­ge Tä­tig­keit dar­in be­steht, Wag­ner­mu­sik in ex­trem­ster Laut­stär­ke zu kon­su­mie­ren und da­bei gleich­zei­tig die Welt zu ver­flu­chen. Zu ih­ren bei­den an­de­ren Kin­dern hat Mar­tha den Kon­takt mehr oder we­ni­ger ver­lo­ren. Ihr Le­ben düm­pelt da­hin und als Ein­zel­gän­ge­rin hat sie es im Dorf schwer. Als rei­che es nicht die­se Ge­schich­te zu er­zäh­len gibt es ein qua­si über­sinn­li­ches Phä­no­men, das es so­gar ein­mal in die (fik­ti­ve) Ta­ges­zei­tung ge­schafft hat: Suk­zes­si­ve ver­schwin­den Ge­höf­te aus der Land­schaft und Mar­tha be­merkt so­gar das Ver­schwin­den des Wasser­werks (frei­lich oh­ne Fol­gen für die Trink­was­ser­qua­li­tät). Dah­mer rückt die­se Er­eig­nis­se im wei­te­ren Ver­lauf der Ge­schich­te im­mer stär­ker in den Fo­kus.

Da­bei schwin­den die sehr schön zu Be­ginn evo­zier­ten Stim­mun­gen der Prot­ago­ni­stin im­mer mehr in den Hin­ter­grund. Mar­tha wird klar, dass sie nicht mehr in der La­ge ist, ih­rem rest­li­chen Le­ben ei­nen neu­en Sinn ein­zu­hau­chen. Fast tra­gisch da­bei, dass ihr gleich­zei­tig auch die Flucht in die Ver­gan­gen­heit nicht mehr mög­lich ist, weil sie auf­grund ih­rer Le­bens­er­fah­rung er­kennt, dass der Keim für das ak­tu­ell hoff­nungs- wie zu­kunfts­lo­se Le­ben in ih­rem Han­deln in der Ver­gan­gen­heit ge­legt wur­de. So kann es zu kei­ner trö­sten­den Ver­klä­rung des Ge­we­se­nen kom­men. Da­bei ist die Re­fle­xi­ons­lei­stung der Prot­ago­ni­stin enorm, was ir­gend­wie schwie­rig mit ei­ner wo­mög­lich be­gin­nen­den psy­chi­schen Er­kran­kung in Über­ein­stim­mung zu brin­gen ist. Oder han­delt es sich bei dem Emp­fin­den des Ver­schwin­dens der Ge­bäu­de um ei­ne Des­ori­en­tie­rung im Sin­ne ei­ner be­gin­nen­den De­menz? Aber wo­zu, so fragt sich der Le­ser, ge­nügt es nicht ein­fach die Ein­sam­keit und Trüb­nis der Frau zu er­zäh­len? Und dann noch die­ser Knall­ef­fekt am Schluss (der nicht ver­ra­ten wer­den soll), der wie ein auf­ge­setz­ter Af­fekt wirkt und mich, den Le­ser, aus der Ge­schich­te end­gül­tig ver­treibt.

Im­mer­hin: Man ahnt das Kön­nen und wird mit der zwei­ten Er­zäh­lung, die den Ti­tel des Bu­ches ab­gibt, be­stä­tigt. Dah­mer skiz­ziert hier in leicht ex­pres­si­ven, aber den­noch luf­tig da­her­kom­men­den Stri­chen Kind­heits­er­in­ne­run­gen, die bei al­ler In­ten­si­tät we­der schwär­me­risch noch ver­klä­rend da­her­kom­men. Da wie­der­ent­deckt der Er­zäh­ler, der ei­ne ima­gi­nä­re Per­son mit »Du« an­re­det (al­so könn­te da­mit auch der Le­ser ge­meint sein) das »Va­ku­um« der »Stun­de zwi­schen zwei und drei« an Som­mer­ta­gen, die »Wol­ken war­mer Luft, durch­tränkt mit dem Ge­ruch der Lin­den­blü­ten« und fin­det sich nach ei­ner um­fang­rei­chen Ex­kur­si­on durch die Um­ge­bung – kurz­eck­ge­mäß – in (ir­gend­ei­ner) »Tal­stra­sse« wie­der. Er durch­lebt noch ein­mal die Me­ta­mor­pho­se vom Kind zum Jüng­ling, vom er­kun­den­den Ein­zel­gän­ger, der je­de Fahr­rad­tour zum sinn­li­chen Aben­teu­er evo­ziert hin zum so­zia­len We­sen, der mit Fa­bi­an, Mar­tin und Bernd wei­te­re Tou­ren un­ter­nimmt mit dem herr­li­chen Ziel, die Ku­chen­ta­fel von Mar­tins Groß­mutter zu er­rei­chen (nein, das ist kein Bie­der­mei­er). Die Er­zäh­lung kann man zwei- oder drei­mal le­sen – ih­ren Zau­ber ent­fal­tet sie im­mer wie­der und im­mer ein biss­chen an­ders und das ganz oh­ne ma­gi­schen Rea­lis­mus.

Aber dann folgt die Er­zäh­lung »Der Fi­scher«. Nicht nur die Haupt­fi­gur heißt Han­nes Fi­scher, es gibt auch kon­tra­stie­rend zur dies­sei­ti­gen Schil­de­rung des Ar­beit­neh­mer­da­seins von Han­nes kur­siv ge­setz­te Zi­ta­te aus dem Mär­chen vom Fi­scher und sei­ner Frau. Han­nes Fi­scher hat es ge­schafft vom Call­cen­ter-An­ge­stell­ten zum Mak­ler­be­treu­er und Außen­dienstkoordinator ei­ner Ver­si­che­rung. Aber fast ka­ri­ka­tu­ren­haft wird die an ihm prak­ti­zier­te Aus­beu­tung ze­le­briert. Vom An­le­gen der ent­spre­chen­den Gar­de­ro­be (Sak­ko, Hemd, Ho­se) nebst Kaf­fee­voll­au­to­mat bis hin zum gar­sti­gen, aus­beu­te­ri­schen Chef, der Bü­ro­zei­ten bis 23.30 Uhr für nor­mal hält (wa­ge er­in­nert man sich bei der Be­schrei­bung die­ses Vor­ge­setz­ten an Ja­mes Ste­warts Schick­sal aus »Ist das Le­ben nicht schön?«). Als die an­ti­ka­pi­ta­li­sti­sche Sym­bo­lik der Er­zäh­lung schon mit Hän­den zu grei­fen ist, be­geg­net Han­nes auf der Stra­ße ei­nem jun­gen Mann mit ei­nem Fly­er, der das An­ge­stell­ten­da­sein als Geld­ma­schi­nen­exi­stenz de­fi­niert. Die Deu­tungs­ma­schi­ne rat­tert mun­ter drauf los (war­um noch mal die Ein­schü­be des Mär­chens?) und es ge­schieht dann auch noch et­was voll­kom­men Un­er­war­te­tes: Fi­scher ver­gisst sich ei­nes Ta­ges und würgt sei­nen Pei­ni­ger. Bei­de über­ste­hen den An­griff und es gibt so­gar ei­ne Ab­schieds­fei­er und in der näch­sten Sze­ne sitzt Han­nes dann wie­der im Call­cen­ter und ver­sucht te­le­fo­nisch Lot­te­rie­lo­se zu ver­kau­fen. (Dass der Au­tor den An­ge­stell­ten­all­tag jen­seits der hier aus­ge­brei­te­ten Kli­schees her­auf­be­schwö­ren und er­leb­bar ma­chen kann, zeigt er ein paar Sei­ten spä­ter in der sehr dich­ten Er­zäh­lung »Mü­ßig«.)

Aber dann »Die an­de­re Wirk­lich­keit«, die läng­ste Er­zäh­lung, die, wie die be­sten »Tex­te« die­ses Ban­des eben auch noch No­vel­len sind (»noch«?). Der fünf­zig­jäh­ri­ge Klet­te­rer Lo­renz lernt die drei­ßig Jah­re jün­ge­re Ar­chi­tek­tur­stu­den­tin Mo­ni­ca auf ei­nem Kletter­camp ken­nen. Sie ist No­vi­zin, be­sitzt haupt­säch­lich nur theo­re­ti­sches Wis­sen aus ei­nem Buch, ist aber mit ge­sun­dem Ehr­geiz aus­ge­stat­tet. Lo­renz ahnt, nein: weiß, dass sei­ne be­ste Zeit als Klet­te­rer in spä­te­stens ein, zwei Jah­ren vor­bei ist – und hat kei­ne Idee, wie da­nach sein Le­ben wei­ter­ge­hen soll. Einst ei­ne Iko­ne in der Sze­ne, grin­sen heu­te die jun­gen hin­ter sei­nem Rücken. Er war und bleibt ein Ein­zel­gän­ger, der sei­nen Sport ernst­haft und aus Nei­gung be­treibt und al­les Kom­mer­zi­el­le ab­lehnt. Er zieht das Le­ben als Hilfs­ar­bei­ter in Spa­ni­en ei­nem lu­kra­ti­ven Wer­be­ver­trag vor; ein Idea­list, Ri­go­rist und Per­fek­tio­nist. Ei­gen­schaf­ten, die nicht (mehr?) ge­fragt sind, weil Klet­tern vor al­lem als Spaß in lu­stig-bun­ten Kla­mot­ten ge­se­hen wird. Dah­mer er­zählt das Mit­ein­an­der der bei­den schein­bar so un­ter­schied­li­chen Per­sön­lich­kei­ten in ei­ner Mi­schung aus La­ko­nie und Lei­den­schaft; ei­ne Lei­den­schaft für die Sa­che des Klet­terns. Lo­renz er­kennt sich in ihr sel­ber wie­der, ih­re Ernst­haf­tig­keit et­wa oder wenn er ih­re Eu­pho­rie be­ob­ach­tet und sieht, wie sie schein­bar un­rett­bar am Fels hängt und es nicht mehr wei­ter zu ge­hen scheint. Als sich am En­de das Camp auf­löst macht Mo­ni­ca Lo­renz ein An­ge­bot; der Schluss ge­lingt Dah­mer dann noch ein­mal jen­seits des Er­war­te­ten.

Da­nach fol­gen auf et­was mehr als 40 Sei­ten noch neun Kurz- und Kür­zest­ge­schich­ten. Es sind zu­meist Kipp­bil­der, die ei­nen fast blitz­ar­tig her­vor­ge­ru­fe­nen Über­gang von ei­ner (Lebens-)Phase in ei­ne an­de­re wie in ei­nem Stand­bild fest­hal­ten, unapho­ri­sti­sche Kon­den­sa­te von le­bens­ver­än­dern­den Au­gen­blicken, oh­ne li­te­ra­ri­sches Po­sie­ren und wohl­tu­end un­iro­nisch. Der Le­ser be­kommt den ent­schei­den­den, al­les ver­än­dern­den Mo­ment aufge­zeigt. So er­lebt ein pu­ber­tie­ren­der Jun­ge ur­plötz­lich sein Er­wach­sen­wer­den und »al­les ist neu« (»In­te­ri­eur ei­nes Fünf­zehn­jäh­ri­gen«). Ei­nem al­ten Men­schen ge­hen Glau­be und Lie­be ver­lo­ren; ihm bleibt nur noch die Hoff­nung (»Stil­le Nacht«). Die Ge­schich­ten dar­um her­um muss, kann(?), darf(?) der Le­ser sel­ber hin­zu phan­ta­sie­ren, was zu­wei­len ei­ne Freu­de sein kann, aber auch min­de­stens ein­mal Pein, wenn man an »Sie hat­te das Haus an die­sem Ta­ge früh ver­las­sen« ge­le­sen hat – hier gibt es (aus­nahmsweise) ei­ne Poin­te. Ei­ne, die ei­nem Le­ber­ha­ken gleich­kommt (und hier­für braucht Dah­mer nur ei­ne Sei­te).

Ne­ben der ele­gi­schen Klet­ter­ge­schich­te sind es vor al­lem die­se kur­zen, un­er­hör­ten Be­ge­ben­hei­ten die mich ein­ge­nom­men und im ein oder an­de­ren Fall so­gar (fast) über­wäl­tigt ha­ben. Was will man mehr?