Ein Salzburger Traum
Um 1910 waren in den österreichischen Städten viele Pferde unterwegs, sie zogen Wagen und Kutschen verschiedenster Art. In Wien fuhr im Juni 1903 die letzte Pferdestraßenbahn, doch schwere Güter wurden weiterhin in erster Linie von Pferden befördert. Die Phobie des kleinen Hans, die Freud anhand der Aufzeichnungen des Vaters des Knaben 1909 beschrieb und analysierte, die Angst des Knaben vor Lastpferden, besonders dann, wenn sie mit den Beinen »Krawall machen«, muß zunächst einmal ganz realistisch gewesen sein, zumal die Familie in der Unteren Viaduktgasse gegenüber von einem Lagerhaus wohnte, wo ein reger Verkehr von Fuhrwerken herrschte. Freud tritt dem Vorwurf, bei der Behandlung der Phobie würden dem Knaben Dinge vor allem sexueller Natur lediglich suggeriert, offensiv entgegen. Seinen wohlabgewogenen Argumenten zum Trotz kann man sich bei der Lektüre auch mehr als hundert Jahre später des Eindrucks nicht erwehren, daß Freud und sein Analysegehilfe (Hansens Vater) das familiäre Geschehen nicht nur sexualisieren, sondern mit Symbolwerten – die dann alle in ein und dieselbe Richtung zeigen – regelrecht überladen. Riesige Fuhrwerke in ununterbrochener Folge gleich vor der Haustür, sollten sie einen vierjährigen Jungen etwa nicht erschrecken? Das ist doch so, wie wenn eine Familie heute an einer Ortsdurchfahrtstraße wohnt, auf der in einem fort motorisierte Lastwagen zu gewaltigen Lagerhauskomplexen – etwa der Firmen Hofer oder Lutz – vorbeibrausen. Vor aller Sorge um die sexuelle Entwicklung des Kindes werden sich seine Eltern vor allem Gedanken machen, wie sie sicherstellen können, daß es niemals von ein im Ernstfall wohl fatalen Verkehrsunfall betroffen sein wird.
Der Ostdeutsche, in Böhmen aufgewachsene, in Kalksburg bei Wien zur Schule gegangene Schriftsteller Franz Fühmann träumte im Mai 1977 während eines kurzen Besuchs in der Stadt Salzburg von einem Pferd, das ihn zum reißenden Fluß wälzte und hineinwarf. In seinem großen Trakl-Essay Vor Feuerschlünden berichtet er kurz davon: »Rosse stiegen aus einem Brunnen und wälzten mich durch den Stein der Stadt und stürzten mich in die rotschäumende Salzach, die ihr Steinbett über mir schloß.« 1977 gab es in Salzburg nur noch wenige Pferde, die Touristen in Fiakern beförderten. Ich selbst wohnte damals in der Maxglaner Vorstadt unweit vom Almkanal und hörte abends manchmal Hufgetrappel, das mich fast märchenhaft anrührte, bis ich eines Tages den Kanal entlang spazierte und auf die Scheune stieß, in der Fiakerpferde die Nacht zubrachten. Jeder, der Trakls Dichtung kennt, wird sich bei der Kenntnisnahme von Fühmanns Traum an ein Gedicht erinnern, in dem Rösser vorkommen, und zwar mit derselben Wortwahl und gleichfalls im Plural. Das 1910 verfaßte Gedicht Die schöne Stadt nimmt ein den Salzburgern vertrautes Bild aus der Wirklichkeit auf, nämlich den Brunnen auf dem Residenzplatz, wo steinerne Pferde aus dem Wasser tauchen oder – bei Fühmann – steigen. Zu Lebzeiten Trakls war die Stadt aber noch von lebendigen Pferden bevölkert, so daß der trochäisch-vierhebige, expressionstisch-protokollhafte Satz »Rösser tauchen aus dem Brunnen« sich ebenso auf die wenige Gehminuten vom Residenzbrunnen entfernte Pferdeschwemme beziehen könnte, wo in noch nicht motorisierten Zeiten erhitzte und verschmutzte Pferde gekühlt und gewaschen wurden. Weiterlesen