Va­le­rie Frit­sch: Herz­klap­pen von John­son & John­son

»Al­ma war ein un­ge­dul­di­ges Kind, das nicht ver­lie­ren konn­te, bei Brett­spie­len be­trog, lie­ber schrie, als schwieg, die Hän­de oft zu Fäu­sten ball­te, die auch im Schlaf sel­ten auf­gin­gen.« Das ist der er­ste Satz von Va­le­rie Frit­schs Ro­man mit dem selt­sam an­mu­ten­den Ti­tel »Herz­klap­pen von John­son und John­son« (und ei­nem noch selt­sa­me­ren, ehr­lich ge­sagt: häss­li­chen Co­ver). ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑2/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Ich könn­te die »Neu­erschei­nun­gen« und die Na­men ih­rer Ver­fas­ser er­wäh­nen, die ich in den letz­ten Jah­ren ge­le­sen ha­be, weil sie mir mehr oder min­der zu­fäl­lig zwi­schen die Hän­de ge­kom­men sind, und die ich wi­der­wil­lig zu En­de ge­le­sen oder vor­zei­tig weg­ge­legt ha­be, aber ich wer­de es nicht tun. Vie­len die­ser Au­toren kann man die Ver­öf­fent­li­chung nach­se­hen, viel­leicht al­len, auch mir selbst. So ein­ge­spannt in den Be­trieb und/oder in das ei­ge­ne Werk (wenn man sich ein­span­nen läßt), pro­du­ziert man zu viel. Oder aus an­de­ren Grün­den, so­gar aus in­ne­rer Not­wen­dig­keit, den­noch zu viel. Ich wer­de kei­nen die­ser Na­men nen­nen, au­ßer viel­leicht den ei­ner Au­torin, de­ren Bü­cher ich schät­ze und die fern von wo lebt, von Deutsch­land Bay­ern Öster­reich (wo ich nicht le­be) und die­se No­ti­zen nicht le­sen wird (aber ihr Lek­tor, ihr Ver­le­ger?), Hi­ro­mi Ka­wa­ka­mi, ihr letz­tes Buch in der Über­set­zung der von mir eben­falls sehr ge­schätz­ten Ur­su­la Grä­fe hat­te ich nach mei­nem neu­en Frei­heits­prin­zip in ei­ner klei­nen Buch­hand­lung in Frank­furt am Main ge­kauft und noch vor der Hälf­te des Gan­zen weg­ge­legt, ir­gend­wo im öf­fent­li­chen Raum zu­rück­ge­las­sen, viel­leicht kann wer an­de­rer was da­mit an­fan­gen, ich nicht; viel­mehr war ich ge­nervt von die­ser Art von Leich­tig­keit, Li­te­ra­tur light, Ge­heim­nis­tue­rei, Be­lang­lo­sig­keit, aber egal, ich darf mir das jetzt er­lau­ben, mei­ne Ge­nervt­heit und sie aus­zu­drücken, ich un­ter­lie­ge kei­nen Zwän­gen (mehr), auch Fehl­käu­fe darf ich mir er­lau­ben, die ge­sche­hen bei je­der Art von Pro­duk­ten; al­so kei­ne Na­men, sag­te ich, denn ich will und muß kei­ne Feind­schaf­ten auf mich zie­hen, je­den­falls nicht mut­wil­lig, nicht oh­ne Not­wen­dig­keit. Es gibt Au­toren, die ich als – sei es pri­va­te, sei es öf­fent­li­che – Per­so­nen schät­ze oder schlicht und ein­fach mag, oder die ich re­spek­tie­re, mit de­ren künst­le­ri­schen Er­zeug­nis­sen ich aber nichts an­fan­gen kann. Wie da­mit um­ge­hen? Ei­ne schwie­ri­ge und in­ter­es­san­te Fra­ge, die man, wenn über­haupt, nur von Fall zu Fall wird be­ant­wor­ten kön­nen, und die ei­nen un­wei­ger­lich in Wi­der­sprüch­lich­kei­ten ver­strickt. Auch das Um­ge­kehr­te kommt üb­ri­gens vor, un­an­ge­neh­mer Au­tor, un­gu­te Per­son, groß­ar­ti­ges Werk.

Ich le­se über Do­ra – von Do­ra, möch­te ich sa­gen, wie man von je­man­dem hört und nicht über ihn (»hast du et­was von ihm/ihr ge­hört?«) – in ei­nem Ca­fé na­mens Cas­ca­de (Kas­ka­de, Was­ser­fall), das ich vor fünf­zehn Jah­ren oft be­such­te, als ich hier im Han­kyu-Bahn­hof von Um­eda bald aus‑, bald um­stieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jah­ren, viel­leicht bes­ser als da­mals, was mich an dem Ort an­zog, ab­ge­se­hen da­von, daß die Mehl­spei­sen viel­fäl­tig und schmack­haft, nicht zu süß und nicht zu teu­er wa­ren (ei­ne so­ge­nann­te Bak­ery, das Ca­fé ge­hört zu ei­ner Bäcke­rei): die zwei gro­ßen, da­bei de­zen­ten, im­mer sau­be­ren Groß­spie­gel an der ei­nen Wand, wo die Gä­ste ne­ben­ein­an­der an ei­nem lan­gen und ziem­lich brei­ten Tisch sa­ßen, ei­nem Wand­tisch aus mas­si­vem hel­lem Holz, wo ich gut le­sen und schrei­ben konn­te und kann, und zwi­schen­durch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft he­be, das Kom­men und Ge­hen be­trach­ten, das Sit­zen und Sin­nie­ren und Plau­dern, das Aus­wäh­len von Mehl­spei­sen im Hin­ter­grund, Frau­en mit silb­ri­gen Zan­gen und wei­ßen waag­rech­ten Ta­bletts, das Sit­zen und Plau­dern und War­ten und Su­chen von Men­schen, über­wie­gend Frau­en, die mei­sten wohl Haus­frau­en in Shop­ping­pau­se, aber auch von Män­nern, die die Män­ner­welt der Bü­ros satt­hat­ten, Su­chen im Spie­gel, manch­mal nach mir, nach mei­nem Blick, den bei­de dann ab­wen­den, so­bald er ge­fun­den ist, und das Spiel geht wei­ter, die Su­che geht wei­ter. Ich le­se von Do­ra, die auf ei­nem Fo­to, wo sie neun oder zehn Jah­re alt ist, vor ei­nem Vo­gel­kä­fig steht, ei­ner Vo­lie­re ver­mut­lich, de­ren In­halt oder In­sas­sen man nicht aus­ma­chen kann, Vo­gel oder Vö­gel, viel­leicht zwei, man weiß es nicht, weil die Um­ge­bung des Mäd­chens in tie­fem Schat­ten liegt und man Um­ris­se kaum ah­nen kann. Ich he­be die Au­gen vom Buch und be­mer­ke rechts un­ten auf der Spie­gel­flä­che den Kä­fig, die Vo­lie­re, säu­ber­lich auf­ge­klebt, wie schwar­zes Schmie­de­ei­sen, oben kup­pel­för­mig ge­run­det, dar­in ein klei­ner Vo­gel, viel­leicht nur ein Sper­ling, im Schat­ten­riß, si­cher kein Pa­pa­gei, und ei­ne Blu­me, die sich zwi­schen den Stä­ben hin­ein­rankt, um sich mit dem Vo­gel zu ver­ei­nen oder gar – ihn zu be­frei­en. Die­ses Bild hat­te ich auch vor fünf­zehn Jah­ren be­merkt, aber nicht mit der ge­büh­ren­den Auf­merk­sam­keit; jetzt ist es dank mei­ner Lek­tü­re kräf­ti­ger, prä­sen­ter. Und die Lek­tü­re, der Wahr­neh­mungs­mo­ment im Buch, ist durch mei­nen Auf­blick ge­stärkt, weil mir das Ste­hen Do­ras am Rand des Schat­tens und die Ah­nung des­sen, was im Dun­kel liegt, als Me­ta­pher da­für er­schei­nen kann, was ein Buch, ei­ne Er­zäh­lung wie die­se tun kann: für uns, mit uns, für die Ab­we­sen­den, die Be­schwo­re­nen, für sich selbst.

Sky-Building, welches das beste Kino von Osaka beherbergt © Leopold Federmair
Sky-Buil­ding, wel­ches das be­ste Ki­no von Osa­ka be­her­bergt © Leo­pold Fe­der­mair

Ro­ma­ne ent­hal­ten künst­li­che Wel­ten, Fik­ti­on ist Vir­tua­li­tät, nicht an­ders als die Bil­der­flut im In­ter­net oder die Vor­stel­lungs­bil­der im Kopf. Die­se Welt und mei­nen Text, von dem ich nicht weiß, auf wel­cher der bei­den Sei­ten sein Ort ist, ver­las­send ha­be ich mich auf den si­cher­lich rea­len Weg zu ei­nem et­wa fünf­zig Stock­wer­ke auf­ra­gen­den Hoch­haus ge­macht, um dort, nur im drit­ten Stock, ei­nen Film zu se­hen, der wie ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on an­ge­legt, aber zwei­fel­los ein so­ge­nann­ter Spiel­film ist, Sor­ry We Missed You von Ken Loach (wo­bei sich gleich die Fra­ge stel­len lie­ße, in­wie­weit Do­ku­men­ta­ti­on mit fil­mi­schen Mit­teln nicht eben­falls Fik­ti­on ist; am En­de ent­hält je­de mensch­li­che Le­bens­äu­ße­rung jen­seits des At­mens und der blo­ßen Be­dürf­nis­be­frie­di­gung we­nig­stens ein Gran Er­fin­dung, Ver­dich­tung, Aus­las­sung, Ne­ga­ti­on, und die Schrift­stel­ler, die Dich­ter sind nichts an­de­res als be­son­ders ge­schul­te oder ta­len­tier­te oder er­fah­re­ne Spe­zia­li­sten der Er­fin­dung). Und als ich das Ki­no ver­ließ, hat­te ich vor, in mei­ne Text­land­schaft zu­rück­zu­keh­ren und dies in ei­nem an­de­ren Ca­fé zu tun, am be­sten oben im drei­ßig­sten Stock des Gran Han­kyu Buil­ding, in luf­ti­ger Hö­he, da kann man, wie schon Nietz­sche mein­te, wirk­lich gut den­ken und schrei­ben, in der Hö­hen­luft. Oben an­ge­kom­men, ist mir die War­te­schlan­ge zu lang, Um­eda und sei­ne Ca­fés quel­len an die­sem letz­ten Sonn­tag des Jah­res über von Shop­pern und Win­dow-Shop­pern, die frü­her oder spä­ter er­mü­den, auch Män­ner­run­den dar­un­ter, die vor dem Jah­res­wech­sel noch ein­mal mit­ein­an­der plau­dern oder eher, ha­be ich den Ein­druck, schrei­en wol­len (of­fen­bar wirkt Kaf­fee auf sie wie Al­ko­hol). Ich kann im Lärm und ge­gen den Lärm recht gut schrei­ben, doch der Kon­sum­tau­mel, die­ser kul­tur­ka­pi­ta­li­sti­sche Nor­mal­zu­stand der Wo­chen­en­den, ist mir dann doch zu­viel.

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Pe­ter Hand­ke: Das zwei­te Schwert

Und wie­der so ein »Aben­teu­er­buch« von Pe­ter Hand­ke. In den 1980er Jah­ren be­gan­nen sie, die Er­zäh­lun­gen vom Auf­bruch in ein neu­es Le­ben, das, was man En­t­­wick­­lungs- oder, ge­nau­er: Ver­wand­lungs­ro­ma­ne nen­nen könn­te. Prot­ago­ni­sten ver­lie­ßen wie ei­nem in­ne­ren Zwang ge­hor­chend ihr an­ge­stamm­tes Da­sein, be­reit für Neu­es. Die In­ten­tio­nen wa­ren nur zu er­ah­nen. Al­lei­ne als Ein-Mann- oder Ein-Frau-Ex­­pe­­di­tio­­nen ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑1/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

Vor bald vier Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog mei­ne Er­klä­run­gen dar­über ver­öf­fent­licht, war­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be. Da­mals be­kam ich un­er­war­tet vie­le Re­ak­tio­nen, von Au­toren, Kri­ti­kern, Le­sern, al­le stimm­ten dem von mir ge­trof­fe­nen Be­fund zu, die mei­sten zeig­ten am En­de ein Schul­ter­zucken: Was soll man denn ma­chen?

Auf die­se Fra­ge weiß ich na­tür­lich auch kei­ne Ant­wort. Viel­leicht kann man wirk­lich nichts tun ge­gen die all­ge­mei­ne Kom­mer­zia­li­sie­rung, Hy­ste­ri­sie­rung, Me­dia­ti­sie­rung, und mög­li­cher­wei­se ist es ge­schei­ter, Un­mög­li­ches erst gar nicht zu ver­su­chen, son­dern an­de­re We­ge – Schleich­we­ge – zu su­chen, um sei­ne Schäf­lein – oder wa­ren es Scherf­lein? – ins Trocke­ne zu brin­gen.

Ein Kol­le­ge, ich ken­ne ihn seit un­se­ren Stu­den­ten­ta­gen und schät­ze ihn als ge­wis­sen­haf­ten Le­ser, der seit Jahr­zehn­ten die Ge­gen­warts­li­te­ra­tur mit sei­nen Ana­ly­sen und Kom­men­ta­ren be­glei­tet, be­stand ein we­nig zer­knirscht und zu­gleich trot­zig dar­auf, wei­ter­zu­ma­chen: Er für sei­nen Teil wer­de nicht auf­hö­ren, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben. Zum Glück für uns, Au­toren wie Le­ser, fü­ge ich hin­zu. Ich woll­te mit mei­nem Text nicht sa­gen, es sei ge­ne­rell sinn­los ge­wor­den, das zu tun, und fin­de es eh­ren­wert, ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen und Stei­ne den Berg hin­auf­zu­rol­len. Ich tue es selbst, Stei­ne berg­auf, al­ler­dings seit vier Jah­ren nicht mehr auf die­sem Ge­biet, dem li­te­ra­tur­kri­ti­schen, des­sen Her­vor­brin­gun­gen ih­rer­seits li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ha­ben kön­nen. Für mei­nen Rück­zug ha­be ich auch per­sön­li­che Grün­de (die ich da­mals hint­an­hielt); nicht zu­letzt den, daß mir spät, aber doch, auf­ge­gan­gen ist, daß all­zu­viel kri­ti­sches Schrei­ben die ei­ge­ne Au­tor­schaft be­hin­dern kann. Ri­car­do Pi­glia, den ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel ge­le­sen ha­be, be­son­ders die Ta­ge­bü­cher des Emi­lio Ren­zi, die kurz vor und nach sei­nem Tod in Spa­ni­en er­schie­nen sind, aber auch die Ro­ma­ne, von de­nen ich die mei­sten schon kann­te – in die­sem Be­richt hier möch­te ich u. a. mit­tei­len, was, war­um und wie ich in die­ser »neu­en Zeit« ge­le­sen ha­be –, Ri­car­do Pi­glia al­so äu­ßer­te vor lan­ger Zeit, tief im 20. Jahr­hun­dert, Au­toren wür­den und soll­ten nicht sy­ste­ma­tisch, plan­mä­ßig, wie Aka­de­mi­ker le­sen, son­dern vom Zu­fall ge­lei­tet, ih­rer spon­ta­nen, wech­seln­den Ein­ge­bung und Neu­gier fol­gend.

Wie al­le Men­schen, die sich die Li­te­ra­tur zur Ach­se ih­res Le­bens er­wählt ha­ben, le­se ich mei­stens meh­re­re Bü­cher gleich­zei­tig, in un­ter­schied­li­chem Tem­po und Rhyth­mus und mit un­ter­schied­li­chem En­ga­ge­ment, man­che nicht bis zum En­de – auch ei­ne Än­de­rung, seit ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be: Ich füh­le mich nicht mehr, ei­ner ne­bu­lo­sen Ge­rech­tig­keit hal­ber, ver­pflich­tet, le­send ab­zu­war­ten, ob ich dem Buch nicht doch noch et­was ab­ge­win­nen kann. Der­zeit al­so Pa­ve­se, Mo­dia­no und viel­leicht, falls ich zu ihm zu­rück­fin­de, Faul­k­ner. Mo­dia­no ha­be ich heu­te wie­der auf­ge­nom­men, ich ha­be ei­nes sei­ner eher schma­len Bü­cher ins eher leich­te Ge­päck für die Rei­se nach Osa­ka und den Auf­ent­halt dort ge­steckt, weil ich et­was Ver­gnüg­li­ches da­bei­ha­ben woll­te; et­was, das mein Herz er­freut. Mag selt­sam klin­gen bei ei­nem Ro­man, der mit ei­ner Ver­miß­ten­an­zei­ge in Pa­ris En­de 1941 be­ginnt, und der Na­me der Per­son lau­tet noch da­zu Do­ra Bru­der. Ich le­se die­ses Buch im Ori­gi­nal, auch dies für mich ein Ver­gnü­gen, nicht bei al­len fran­zö­si­schen Bü­chern, doch im­mer bei Mo­dia­no. Ei­ne mir be­freun­de­te spa­ni­sche Über­set­ze­rin schreibt mir, sie kön­ne kei­ne li­te­ra­ri­schen Über­set­zun­gen mehr le­sen (kei­ne aus dem Deut­schen oder Eng­li­schen, die­se Ein­schrän­kung un­ter­schlägt sie), sie sei miß­trau­isch ge­gen­über dem Wort­laut, hin­ter­fra­ge ihn, kon­trol­lie­re und kri­ti­sie­re die Über­set­zung. Da wä­re es wohl bes­ser, gleich die Ori­gi­na­le zu le­sen; wo­ge­gen na­tür­lich nichts spricht. Ab und zu hö­re ich ir­gend­ei­nen Snob be­haup­ten, er le­se oh­ne­hin nur in der Ori­gi­nal­spra­che; auf mein Nach­fra­gen stellt sich dann im­mer her­aus, daß die­ser ori­gi­nel­le Le­ser nur in ei­ner, höch­stens zwei Fremd­spra­chen zu le­sen im­stan­de ist (nur bei zwei­spra­chi­gen Ly­rik­aus­ga­ben tut er so, als kön­ne er im­mer al­les »sa­vou­rie­ren«), mei­stens in der eng­li­schen. Der Rest der Welt­li­te­ra­tur soll ihm ver­schlos­sen blei­ben? Das will der ori­gi­nel­le Le­ser dann auch wie­der nicht zu­ge­ben.

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Bald geht es wei­ter...

Das Schwei­gen in den letz­ten Wo­chen auf die­ser Sei­te hat­te zwei Grün­de. Zum ei­nen war es ei­ne ve­ri­ta­ble Er­schöp­fung nach den Erup­tio­nen um die No­bel­preis­ver­ga­be an Pe­ter Hand­ke. (Hier­über gibt es dem­nächst noch ei­ni­ges zu be­rich­ten.) Mit letz­ter Kraft konn­te ich die Ver­an­stal­tung am 11. De­zem­ber noch durch­ste­hen. Da­nach be­gann die hei­ße Pha­se des Um­zugs ...

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Pe­ter Hand­kes An­ti­fa­schis­mus

Im Ju­li 1989 schrieb Pe­ter Hand­ke ei­ne »Epo­pöe«, ei­ne ganz kur­ze Er­zäh­lung, die am Bahn­hof Per­rache in Ly­on spielt. So wie Hand­ke es ge­braucht, be­deu­tet das ur­sprüng­lich grie­chi­sche Wort »klei­nes Epos« (ob­wohl dies nicht den Aus­künf­ten der Wör­ter­bü­cher ent­spricht). Wir be­geg­nen hier dem Er­zäh­ler in ei­nem Ho­tel­zim­mer und er­fah­ren, was er beim Blick aus dem Fen­ster sieht: ein gro­ßes Gleis­feld, die blas­se Mond­schei­be, Schwal­ben, ei­nen Wohn­block, zu­letzt ei­nen blau­en Fal­ter. We­ni­ge Men­schen, al­le­samt Ei­sen­bah­ner mit Ak­ten­ta­sche auf dem Heim­weg. Nach ei­ner Wei­le fällt dem Er­zäh­ler ein, daß es das Ho­tel Ter­mi­nus ist, in dem er sich ein­ge­mie­tet hat, und er er­in­nert sich, daß Klaus Bar­bie sei­ner­zeit hier sein Un­we­sen ge­trie­ben hat­te. Es war noch nicht so lan­ge her, daß in Ly­on ein Pro­zeß ge­gen den deut­schen Fol­ter­herrn statt­ge­fun­den hat­te, bei dem er we­gen Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit an­ge­klagt war. Hand­ke hat­te die Un­ta­ten, über die 1987 viel be­rich­tet wor­den war, zwei­fel­los noch frisch im Sinn.

Pe­ter Hand­ke, in Grif­fen ge­bo­ren, Sohn ei­nes deut­schen Wehr­machts­sol­da­ten, ver­brach­te als Klein­kind ei­ni­ge Zeit in Ber­lin und er­leb­te Bom­ben­an­grif­fe auf die Stadt so­wie die Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg. Ei­gent­lich hat­te er so­gar zwei deut­sche Vä­ter; über den Zieh­va­ter, mit dem er in Kärn­ten auf­wuchs, kann man in Wunsch­lo­ses Un­glück ei­ni­ges nach­le­sen (das nicht voll­stän­dig der bio­gra­phi­schen Wirk­lich­keit ent­spricht, wie Mal­te Her­wig in sei­ner Hand­ke-Bio­gra­phie zei­gen konn­te). In sei­ner Ju­gend stell­te sich Hand­ke ge­gen die­sen Va­ter, er war ihm schon früh gei­stig über­le­gen und ver­ach­te­te ihn. Die spä­te­re Be­geg­nung mit dem er­sten, dem leib­li­chen Va­ter, im Ver­such über die Juke­box ge­schil­dert, ver­lief an­ge­spannt, die bei­den konn­ten nichts mit­ein­an­der an­fan­gen. Als Pe­ter dann be­rühmt wur­de – »weltbe­rühmt«, wie er es vor­hat­te, wur­de er et­was spä­ter –, ging er aus Öster­reich nach Deutsch­land, doch schon da­mals lieb­äu­gel­te er mit Pa­ris als Wohn­ort. Erst nach sei­ner sprach­ex­pe­ri­men­tel­len und pop­li­te­ra­ri­schen Pha­se be­gann Hand­ke, sich mit sei­ner slo­we­ni­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­set­zen. Die­se Wen­dung oder Rück­wen­dung zum Slo­we­ni­schen ist nicht zu­letzt be­dingt durch sein schwie­ri­ges und küh­les Ver­hält­nis, das er zu Deutsch­land hat­te, auch und be­son­ders zur na­hen deut­schen Ver­gan­gen­heit, zum so­ge­nann­ten Drit­ten Reich. Die pro­non­cier­te Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die ih­rer­seits iden­ti­täts­bil­den­de Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der Vä­ter für die Ver­bre­chen teil­te Hand­ke frei­lich mit den mei­sten jun­gen Leu­ten sei­ner Ge­ne­ra­ti­on, sie spielt bei vie­len deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lern ei­ne wich­ti­ge Rol­le; bei Hand­ke je­doch auf ei­ne ei­gen­tüm­li­che Wei­se, we­ni­ger in po­li­ti­schen State­ments als in ei­ner tief­grei­fen­den li­te­ra­ri­schen Re­ak­ti­on auf die krie­ge­ri­sche Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts.

Als Hand­ke im Zug sei­ner Wen­de zum Klas­si­schen, zu Goe­the, Cé­zan­ne und Stif­ter, zur ge­las­se­nen Er­for­schung der For­men und schließ­lich zu dem fand, was Scho­pen­hau­er als »rei­ne An­schau­ung« be­zeich­ne­te, stell­te das »Neun­te Land« aus dem slo­we­ni­schen Mär­chen für ihn ei­ne kon­kre­te Uto­pie dar, und es zog ihn wie selbst­ver­ständ­lich nach Sü­den, über die Gren­ze, nach Slo­we­ni­en, das zu Ju­go­sla­wi­en ge­hör­te, ein po­li­ti­sches Ge­bil­de, für das Hand­kes Groß­va­ter bei der Kärnt­ner Ab­stim­mung 1920 op­tiert hat­te. Noch in dem In­ter­view, das Ul­rich Grei­ner un­längst für die ZEIT ge­führt hat, be­tont Hand­ke die­se slo­we­ni­sche Her­kunft: »Ich bin Ju­go­sla­we von mei­ner Mut­ter her und vom Bru­der mei­ner Mut­ter, der in Ma­ri­bor stu­diert hat­te«, und er er­in­nert an die Hal­tung des Groß­va­ters nach dem er­sten Welt­krieg, als das Kö­nig­reich Ju­go­sla­wi­en ge­grün­det wor­den war. Der Weg des jun­gen Filip Ko­bal im Ro­man Die Wie­der­ho­lung (1986), der ihn auf den Spu­ren sei­nes äl­te­ren Bru­ders (der On­kel in Hand­kes Bio­gra­phie) in den slo­we­ni­schen Karst und nach Ma­ri­bor führt, hat in­so­fern sinn­bild­li­che, sinn­stif­ten­de Be­deu­tung. Die ju­go­sla­wi­sche Tra­di­ti­on in der Fa­mi­lie Hand­ke bzw. Si­utz bzw. Sivec reicht al­so weit zu­rück, bis zu den An­fän­gen des in­zwi­schen ver­flos­se­nen Staa­ten­bun­des. Beim jun­gen Schrift­stel­ler Hand­ke ver­bin­det sie sich dann mit ei­ner en­er­gi­schen Kri­tik am Deutsch­tum der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te. Die Deut­schen hat­ten Ju­go­sla­wi­en er­obert, aus Sa­lo­ni­ki hat­ten sie quer durch den Bal­kan Ju­den nach Ausch­witz trans­por­tiert; Hand­kes Be­kennt­nis zu Ju­go­sla­wi­en, das in spä­te­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Tei­len des deut­schen und fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus in ei­nem Kampf wie von Da­vid ge­gen Go­li­ath auf ei­ne kaum zu mei­stern­de Pro­be ge­stellt wur­de, die­ses Be­kennt­nis ist zu­gleich Aus­druck sei­nes An­ti­fa­schis­mus. Als er 2006 zum Be­gräb­nis von Slo­bo­dan Mi­lo­se­vic ging und dort ei­ne kur­ze, zu­rück­hal­ten­de, de­zi­diert »schwa­che« Re­de hielt, war das für ihn we­ni­ger das Be­gräb­nis ei­ner Per­son als das ei­ner Ära, ei­ner Idee, ei­nes nun­mehr ver­flos­se­nen Ide­als. Aus­ge­hend von der Kriegs­er­fah­rung, die die Ab­leh­nung je­des Mi­li­ta­ris­mus und be­son­ders der Deut­schen Wehr­macht be­wirkt hat­te, die sei­nen idea­li­sier­ten, im Feld ge­fal­le­nen On­kel Gre­gor in den Krieg gewun­gen hat­te, ent­wickel­te er im Zug sei­ner klas­si­schen Wen­de das Kon­zept ei­ner Frie­dens­epik, die, auch wenn sich die Fi­gu­ren, oft­mals Rei­sen­de, weit von der deut­schen Ge­schich­te ent­fer­nen, an­ti­fa­schi­stisch grun­diert bleibt und so et­was wie ei­nen äs­the­ti­schen »Bal­kan« – mit al­len Am­bi­va­len­zen, die die­sem Wort durch die Ge­schich­te sei­nes Ge­brauchs an­haf­ten – zu er­rich­ten trach­te­te.

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Neu­es aus der Lam­by-Welt

Ge­stern gab es auf der ARD zur be­sten Sen­de­zeit wie­der ein­mal ei­ne Po­lit-Do­ku­men­ta­ti­on von Ste­phan Lam­by. Der Ti­tel »Die Not­re­gie­rung- Un­ge­lieb­te Ko­ali­ti­on« er­in­nert in Tei­len (un­frei­wil­lig?) an »Not­stands­re­gie­rung«, aber das hat wohl nur da­mit zu tun, dass ei­ni­ge Ta­ge zu­vor das Eu­ro­päi­sche Par­la­ment den »Kli­ma­not­stand« aus­ge­ru­fen hat­te.

Lam­bys Do­ku­men­ta­tio­nen gel­ten längst als Mei­len­stei­ne, wur­den mit Prei­sen de­ko­riert. Sie knüp­fen ger­ne ei­nen Bo­gen bis in die Ta­ges­ak­tua­li­tät hin­ein. So wur­de dies­mal auch noch das Er­geb­nis des Mit­glie­der­ent­scheids der SPD auf­ge­nom­men. Der Nach­teil die­ser Ak­tua­li­tät liegt dar­in, dass der zeit­li­che Ab­stand, der ei­ner­seits Re­fle­xio­nen er­mög­licht, an­de­rer­seits die Fol­gen der do­ku­men­tier­ten Er­eig­nis­se auf­zei­gen könn­te, kaum oder gar nicht mög­lich ist. Aber im­mer­hin wird so der Keim für den näch­sten Film der Lam­by-Welt ge­legt. Da­mit ent­steht ei­ne Rei­he, die die Erup­tio­nen und Pro­ble­me des po­li­ti­schen Deutsch­land der jüng­sten Ver­gan­gen­heit auf­zei­gen wer­den. Dem­nächst al­so viel­leicht in der DVD-Box: Deutsch­land in den 2010er Jah­ren.

Lam­by ge­lingt es, ei­ni­ge in­ter­es­san­te Prot­ago­ni­sten vor die Ka­me­ra zu be­kom­men. Aber mehr als zu den üb­li­chen Er­klä­run­gen langt es sel­ten. Horst See­ho­fer kri­ti­siert den Um­gang der Uni­on mit dem Re­zo-Vi­deo, wird aber nicht we­gen sei­ner Be­för­de­rungs­plä­ne des ehe­ma­li­gen Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­ten Maa­ßen be­fragt. Maa­ßen wie­der­um re­zi­tiert aus sei­nem Bild-In­ter­view, die ihm zum Ver­häng­nis ge­wor­de­nen, in­kri­mi­nie­ren­den Stel­len und spricht von »po­li­ti­schen Fein­den«. An­ne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er ge­steht, was sie al­les un­ter­schätzt ha­be. Lars Kling­beil und Ke­vin Küh­nert er­läu­tern die SPD-Müh­sal. Ar­min La­schet über­legt, ob es noch ein­mal ei­ne Gro­Ko ge­ben könn­te (man hät­te ihm ei­gent­lich ei­nen Ta­schen­rech­ner ge­ben müs­sen). Zur De­ko­ra­ti­on gab es noch Stim­men von Ali­ce Wei­del, Ro­bert Ha­beck (sehr prä­si­di­al!), Re­zo und An­na Moors, ei­ner 17jährigen FFF-Ak­ti­vi­stin, die als »Schü­le­rin« vor­ge­stellt wur­de.

Den ver­bor­ge­nen Kern in Lam­bys Film bil­den al­ler­dings die Ein­schät­zun­gen von Jour­na­li­sten. Dies­mal wa­ren es Me­la­nie Amann (Spie­gel) und Kri­sti­na Dunz (Rhei­ni­sche Post). Sie ga­ben In­ter­pre­ta­tio­nen ab, wo­bei un­klar ist, ob sie die Stel­lung­nah­men de­rer kann­ten, hin­ter bzw. vor de­nen ih­re Aus­sa­gen ge­schnit­ten wur­den. Ih­re fast im­mer po­lit-stra­te­gisch for­mu­lier­ten Ein­schät­zun­gen zei­gen, wie weit der Po­li­tik­be­trieb – und mit ihm die Jour­na­li­sten – von der Rea­li­tät au­ßer­halb des Raum­schiffs Ber­lin ab­ge­kop­pelt ist. Die Fra­ge, die fast zum Zer­fall der Frak­ti­ons­ge­mein­schaft der Uni­on ge­führt hät­te, wur­de eben auch durch die me­dia­le In­sze­nie­rung in un­zäh­li­gen Talk­shows in die Fast-Es­ka­la­ti­on be­trie­ben. Ähn­li­ches gilt für die Maa­ßen-Af­fä­re. Und es dürf­te auch für das so viel be­ach­te­te Re­zo-Vi­deo gel­ten, wel­ches im Mai das po­li­ti­sche Ber­lin ins Be­ben brach­te. Ge­gen En­de gab es noch die Ge­gen­über­stel­lung von Kramp-Kar­ren­bau­ers Vor­schlag für ei­ne Schutz­zo­ne in Sy­ri­en und dem Ge­gen­wort des Au­ßen­mi­ni­sters. Die The­se: Über­all Streit.

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Die Mo­na Li­sa von Tai­pei

Ei­ne Rei­se­ge­schich­te

Von Hi­ro­shi­ma über Tai­pei nach Wien zu flie­gen, lag ei­gent­lich na­he; ich weiß nicht, war­um ich nicht frü­her auf die­se Idee ge­kom­men war. Viel­leicht we­gen der Ani­mo­si­tä­ten ge­gen Chi­na – nur die Chi­na Air­lines bie­ten die­se Flug­ver­bin­dung an –, die in der ja­pa­ni­schen Be­völ­ke­rung im­mer noch ver­wur­zelt sind, so auch bei mei­ner Frau, und die von ent­spre­chen­den Ani­mo­si­tä­ten auf der chi­ne­si­schen Sei­te ge­nährt wer­den (und um­ge­kehrt). Ge­sprä­che mit ei­ner aus Tai­wan stam­men­den Stu­den­tin, die mei­nen Un­ter­richt an der Uni­ver­si­tät Hi­ro­shi­ma be­such­te, weck­ten mein bis da­hin al­len­falls la­ten­tes In­ter­es­se an dem Land.

Das Lächeln des Maskottchens
Das Lä­cheln des Mas­kott­chens (© Leo­pold Fe­der­mair)

Wir fuh­ren al­so, mei­ne elf­jäh­ri­ge Toch­ter und ich, ei­nes Mor­gens zum Flug­ha­fen, mit dem Ta­xi, da schwe­re Un­wet­ter und Erd­rut­sche die Bahn­ge­lei­se weg­ge­schwemmt hat­ten, und stie­gen ins Flug­zeug der Chi­na Air­lines, wo­bei ich vor der Tür noch ein­mal zwei Schrit­te zu­rück mach­te, um mir ei­ne der auf dem Ser­vier­tisch­chen lie­gen­de eng­lisch­spra­chi­ge Zei­tung zu neh­men: die Tai­pei Times. Das Flug­zeug war spär­lich be­setzt, die Flug­zeit be­trug zwei­ein­halb Stun­den, ich hat­te al­le Ru­he und Zeit der Welt, um das nicht son­der­lich um­fang­rei­che Druck­werk durch­zu­le­sen. Auf Sei­te 3, tai­wa­ne­si­sche In­nen­po­li­tik, stieß ich auf ei­nen Ar­ti­kel mit der Über­schrift ‘Oce­an’ Bra­vo the Bear ma­s­cot draws cri­ti­cism. In­nen­po­li­tik?, dach­te ich. Das Fo­to da­ne­ben zeig­te ei­nen weiß­bär­ti­gen kahl­häup­ti­gen Mann, der ne­ben zwei an­de­ren Per­so­nen mehr oder we­ni­ger fort­ge­schrit­te­nen Al­ters an ei­nem lan­gen Tisch mit wei­ßem Tisch­tuch saß und in ein ro­tes Mi­kro­phon hin­ein­sprach. Auf dem Tisch, am lin­ken Fo­to­rand, wa­ren vier bläu­lich-schwar­ze Plüsch­bä­ren auf­ge­häuft, sie tru­gen ei­nen gel­ben Knopf an ei­nem wei­ßen Strei­fen, Hals­band oder Fell, das war nicht aus­zu­ma­chen. Ich be­gann zu le­sen, und es stell­te sich her­aus, daß es ein höchst ernst­haf­ter Ar­ti­kel war. Das Pro­blem, von dem er han­del­te (Zei­tungs­ar­ti­kel han­deln na­tur­ge­mäß von Pro­ble­men), be­stand dar­in, daß die Kul­tur­ab­tei­lung der Stadt­re­gie­rung von Tai­pei be­schlos­sen hat­te, das De­sign des Mas­kott­chens »Bra­vo the Bear« zu än­dern. Die­ses Mas­kott­chen – das vom Fo­to, der Knopf an sei­nem Bauch stell­te ei­ne Gold­me­dail­le dar – war bei der Be­völ­ke­rung von Tai­pei sehr be­liebt, wie Shih Ying, der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­stic Edu­ca­ti­on Foun­da­ti­on, be­ton­te. Stif­tung für hu­ma­ni­sti­sche Er­zie­hung, dach­te ich, was für ein ehr­wür­di­ger Na­me! Sol­che Än­de­run­gen, sag­te Shih Ying der Zei­tung zu­fol­ge, wür­den nicht hin­ge­nom­men wer­den, wür­de man sie an der Mo­na Li­sa vor­neh­men. Er mein­te die ech­te Mo­na Li­sa, die im Pa­ri­ser Lou­vre aus­ge­stellt ist. Der­sel­be Na­me, Mo­na Li­sa, wur­de vom tai­wa­ne­si­schen Volks­mund Bra­vo the Bear ver­lie­hen, weil er ein so schö­nes Lä­cheln zei­ge; Mo­na Li­sa war ge­wis­ser­ma­ßen zum Spitz­na­men – oder Künst­ler­na­men – des Bä­ren ge­wor­den. Aber war­um hat­te die Stadt­re­gie­rung das Aus­se­hen der Mo­na Li­sa von Tai­pei ver­än­dert? Der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­sti­schen Ge­sell­schaft sprach von Ver­blen­dung und Ar­ro­ganz der Mäch­ti­gen. Ei­ne wei­te­re Er­klä­rung, so­zu­sa­gen der Hin­ter­grund der Ge­schich­te, den die Ar­ti­kel­schrei­ber bei­steu­er­ten, lag dar­in, daß es Pro­ble­me mit den Mar­ken­rech­ten gab, die die Kul­tur­ab­tei­lung durch klei­ne Än­de­run­gen – ein oze­an­blau­es Näs­chen an­stel­le des schwar­zen – ele­gant zu um­ge­hen ver­such­te. Ei­nen sol­chen An­griff auf ihr gei­stig-künst­le­ri­sches Ei­gen­tum, dach­te ich den Ge­dan­ken Shihs fort­spin­nend, ei­nen sol­chen An­griff wür­de sich die ech­te Mo­na Li­sa nie­mals ge­fal­len las­sen. Die Ge­sell­schaft zur Ret­tung der Uni­ver­sia­de-Ver­si­on von Bra­vo the Bear hat­te ei­ne Pe­ti­ti­on ver­faßt, die nicht nur von zahl­lo­sen Bür­gern der Stadt, son­dern auch von be­kann­ten tai­wa­ne­si­schen Spit­zen­sport­lern un­ter­schrie­ben wor­den war (von Künst­lern war in die­sem Zu­sam­men­hang lei­der nicht die Re­de). Das Mas­kott­chen war ur­sprüng­lich für die Som­mer­uni­ver­sia­de ent­wor­fen wor­den, die 2017 in Tai­pei statt­ge­fun­den hat­te.

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