Einblicke in die Abenteuer eines befreiten Lesers
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Ich könnte die »Neuerscheinungen« und die Namen ihrer Verfasser erwähnen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, weil sie mir mehr oder minder zufällig zwischen die Hände gekommen sind, und die ich widerwillig zu Ende gelesen oder vorzeitig weggelegt habe, aber ich werde es nicht tun. Vielen dieser Autoren kann man die Veröffentlichung nachsehen, vielleicht allen, auch mir selbst. So eingespannt in den Betrieb und/oder in das eigene Werk (wenn man sich einspannen läßt), produziert man zu viel. Oder aus anderen Gründen, sogar aus innerer Notwendigkeit, dennoch zu viel. Ich werde keinen dieser Namen nennen, außer vielleicht den einer Autorin, deren Bücher ich schätze und die fern von wo lebt, von Deutschland Bayern Österreich (wo ich nicht lebe) und diese Notizen nicht lesen wird (aber ihr Lektor, ihr Verleger?), Hiromi Kawakami, ihr letztes Buch in der Übersetzung der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ursula Gräfe hatte ich nach meinem neuen Freiheitsprinzip in einer kleinen Buchhandlung in Frankfurt am Main gekauft und noch vor der Hälfte des Ganzen weggelegt, irgendwo im öffentlichen Raum zurückgelassen, vielleicht kann wer anderer was damit anfangen, ich nicht; vielmehr war ich genervt von dieser Art von Leichtigkeit, Literatur light, Geheimnistuerei, Belanglosigkeit, aber egal, ich darf mir das jetzt erlauben, meine Genervtheit und sie auszudrücken, ich unterliege keinen Zwängen (mehr), auch Fehlkäufe darf ich mir erlauben, die geschehen bei jeder Art von Produkten; also keine Namen, sagte ich, denn ich will und muß keine Feindschaften auf mich ziehen, jedenfalls nicht mutwillig, nicht ohne Notwendigkeit. Es gibt Autoren, die ich als – sei es private, sei es öffentliche – Personen schätze oder schlicht und einfach mag, oder die ich respektiere, mit deren künstlerischen Erzeugnissen ich aber nichts anfangen kann. Wie damit umgehen? Eine schwierige und interessante Frage, die man, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall wird beantworten können, und die einen unweigerlich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Auch das Umgekehrte kommt übrigens vor, unangenehmer Autor, ungute Person, großartiges Werk.
Ich lese über Dora – von Dora, möchte ich sagen, wie man von jemandem hört und nicht über ihn (»hast du etwas von ihm/ihr gehört?«) – in einem Café namens Cascade (Kaskade, Wasserfall), das ich vor fünfzehn Jahren oft besuchte, als ich hier im Hankyu-Bahnhof von Umeda bald aus‑, bald umstieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jahren, vielleicht besser als damals, was mich an dem Ort anzog, abgesehen davon, daß die Mehlspeisen vielfältig und schmackhaft, nicht zu süß und nicht zu teuer waren (eine sogenannte Bakery, das Café gehört zu einer Bäckerei): die zwei großen, dabei dezenten, immer sauberen Großspiegel an der einen Wand, wo die Gäste nebeneinander an einem langen und ziemlich breiten Tisch saßen, einem Wandtisch aus massivem hellem Holz, wo ich gut lesen und schreiben konnte und kann, und zwischendurch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft hebe, das Kommen und Gehen betrachten, das Sitzen und Sinnieren und Plaudern, das Auswählen von Mehlspeisen im Hintergrund, Frauen mit silbrigen Zangen und weißen waagrechten Tabletts, das Sitzen und Plaudern und Warten und Suchen von Menschen, überwiegend Frauen, die meisten wohl Hausfrauen in Shoppingpause, aber auch von Männern, die die Männerwelt der Büros satthatten, Suchen im Spiegel, manchmal nach mir, nach meinem Blick, den beide dann abwenden, sobald er gefunden ist, und das Spiel geht weiter, die Suche geht weiter. Ich lese von Dora, die auf einem Foto, wo sie neun oder zehn Jahre alt ist, vor einem Vogelkäfig steht, einer Voliere vermutlich, deren Inhalt oder Insassen man nicht ausmachen kann, Vogel oder Vögel, vielleicht zwei, man weiß es nicht, weil die Umgebung des Mädchens in tiefem Schatten liegt und man Umrisse kaum ahnen kann. Ich hebe die Augen vom Buch und bemerke rechts unten auf der Spiegelfläche den Käfig, die Voliere, säuberlich aufgeklebt, wie schwarzes Schmiedeeisen, oben kuppelförmig gerundet, darin ein kleiner Vogel, vielleicht nur ein Sperling, im Schattenriß, sicher kein Papagei, und eine Blume, die sich zwischen den Stäben hineinrankt, um sich mit dem Vogel zu vereinen oder gar – ihn zu befreien. Dieses Bild hatte ich auch vor fünfzehn Jahren bemerkt, aber nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit; jetzt ist es dank meiner Lektüre kräftiger, präsenter. Und die Lektüre, der Wahrnehmungsmoment im Buch, ist durch meinen Aufblick gestärkt, weil mir das Stehen Doras am Rand des Schattens und die Ahnung dessen, was im Dunkel liegt, als Metapher dafür erscheinen kann, was ein Buch, eine Erzählung wie diese tun kann: für uns, mit uns, für die Abwesenden, die Beschworenen, für sich selbst.

Sky-Building, welches das beste Kino von Osaka beherbergt © Leopold Federmair
Romane enthalten künstliche Welten, Fiktion ist Virtualität, nicht anders als die Bilderflut im Internet oder die Vorstellungsbilder im Kopf. Diese Welt und meinen Text, von dem ich nicht weiß, auf welcher der beiden Seiten sein Ort ist, verlassend habe ich mich auf den sicherlich realen Weg zu einem etwa fünfzig Stockwerke aufragenden Hochhaus gemacht, um dort, nur im dritten Stock, einen Film zu sehen, der wie eine Dokumentation angelegt, aber zweifellos ein sogenannter Spielfilm ist, Sorry We Missed You von Ken Loach (wobei sich gleich die Frage stellen ließe, inwieweit Dokumentation mit filmischen Mitteln nicht ebenfalls Fiktion ist; am Ende enthält jede menschliche Lebensäußerung jenseits des Atmens und der bloßen Bedürfnisbefriedigung wenigstens ein Gran Erfindung, Verdichtung, Auslassung, Negation, und die Schriftsteller, die Dichter sind nichts anderes als besonders geschulte oder talentierte oder erfahrene Spezialisten der Erfindung). Und als ich das Kino verließ, hatte ich vor, in meine Textlandschaft zurückzukehren und dies in einem anderen Café zu tun, am besten oben im dreißigsten Stock des Gran Hankyu Building, in luftiger Höhe, da kann man, wie schon Nietzsche meinte, wirklich gut denken und schreiben, in der Höhenluft. Oben angekommen, ist mir die Warteschlange zu lang, Umeda und seine Cafés quellen an diesem letzten Sonntag des Jahres über von Shoppern und Window-Shoppern, die früher oder später ermüden, auch Männerrunden darunter, die vor dem Jahreswechsel noch einmal miteinander plaudern oder eher, habe ich den Eindruck, schreien wollen (offenbar wirkt Kaffee auf sie wie Alkohol). Ich kann im Lärm und gegen den Lärm recht gut schreiben, doch der Konsumtaumel, dieser kulturkapitalistische Normalzustand der Wochenenden, ist mir dann doch zuviel. Weiterlesen