Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑4/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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No birth no death! (Arashiyama) © Leopold Federmair

No birth no de­ath! (Aras­hi­ya­ma) © Leo­pold Fe­der­mair

Ich weiß nicht, ob ich mich freu­en soll über die neue Lang­sam­keit, zu der ich im wirk­li­chen Le­ben seit ei­ni­gen Mo­na­ten ge­zwun­gen bin, oder ob ich wü­tend sein soll über mei­nen Kör­per, der bei dem manch­mal doch ge­wünsch­ten Tem­po nicht mit­macht. Be­son­ders bei Stei­gun­gen, und noch mehr, wenn Trep­pen zu über­win­den sind. Im­mer­hin, ich ha­be es bis hier­her ge­schafft, ein klei­ner Auf­stieg zu den An­hö­hen über dem Tal von Aras­hi­ya­ma, wo tief un­ten der grü­ne Fluß fließt und sich sel­ten ein Tou­rist blicken läßt. Den be­rühm­ten Bam­bus­hain auf der an­de­ren Sei­te ha­be ich ge­mie­den – sol­len sie sich dort drän­gen. Die­ser Hain mit sei­nen ho­hen und schlan­ken, zum Spitz­bo­gen zu­sam­men­lau­fen­den Bäu­men ist schön, aber viel zu klein für sol­che Men­schen­mas­sen: die mil­lio­nen­fach ver­brei­te­ten Fo­tos ver­ra­ten das Miß­ver­hält­nis nicht. Hier oben bin ich vor ei­nem Jahr ge­we­sen, am 2. Jän­ner, es war ge­nau­so warm wie heu­te, gu­tes Schreib­wet­ter, und ha­be Faul­k­ner ge­le­sen, ich sag­te es schon. Da­mals bin ich noch ein gu­tes Stück wei­ter berg­auf­wärts ge­lau­fen, aber nach­dem ich mehr­mals Wild­schwei­ne in mei­ner Nä­he grun­zen hör­te, mach­te ich kehrt. Die Ge­gend hier spielt in Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zakis Ro­man Sa­sa­mey­u­ki ei­ne Rol­le, Die Schwe­stern Ma­ki­o­ka (die deut­sche Über­set­zung ist nicht gut und schon lan­ge ver­grif­fen); der schön klin­gen­de ja­pa­ni­sche Ti­tel be­deu­tet »leich­ter Schnee­fall« (den es im Win­ter in Kyo­to manch­mal gibt). Die Fa­mi­lie Ma­ki­o­ka, vier Schwe­stern, glau­be ich mich zu er­in­nern, ver­bringt ei­nen Sonn­tag bei der Kirsch­blü­ten­schau, mit Fla­nie­ren und Spei­sen und Trin­ken und Sich-der-Welt-und-des-Le­bens-Er­freu­en. Un­ten bei der lan­gen Brücke, wo der Fluß ziem­lich in die Brei­te geht und viel wei­ßes Ge­röll in sei­nem Bett zu se­hen ist. Ta­ni­zaki ha­be ich – ne­ben Mishi­ma – bei mei­ner Auf­zäh­lung der Au­toren, die den Wunsch in mir weck­ten, al­les von ih­nen zu le­sen, ver­ges­sen. Un­er­füll­ba­rer Wunsch; zwar ha­be ich die zwei­bän­di­ge fran­zö­si­sche Aus­ga­be sei­ner Wer­ke in mei­nem Re­gal ste­hen, die viel mehr ent­hält als das, was auf deutsch von Ta­ni­zaki vor­liegt, aber im­mer noch viel we­ni­ger als das, was er in ei­nem lan­gen Schrei­ber­le­ben ge­schaf­fen hat. Um die Wahr­heit zu sa­gen, ich ha­be nicht ein­mal die Plé­ia­de-Aus­ga­be zur Gän­ze ge­schafft; man kann nicht al­les be­wäl­ti­gen, ist mehr und mehr zum Aus­wäh­len ge­zwun­gen. Der Blick auf Ta­ni­zakis Werk ist im deut­schen Sprach­raum durch den Er­folg sei­nes schma­len Es­says Lob des Schat­tens ver­stellt, der im­mer wie­der zi­tiert wird von Leu­ten, die zei­gen wol­len, daß sie die »Es­senz der ty­pisch ja­pa­ni­schen Äs­the­tik« (oder so) ver­stan­den ha­ben. Wei­ter­le­sen

Bov Bjerg: Ser­pen­ti­nen

Bov Bjerg: Serpentinen

Bov Bjerg: Ser­pen­ti­nen

Ein in die (Wechsel)Jahre ge­kom­me­ner, in Ber­lin le­ben­der So­zio­lo­ge fährt mit sei­nem sie­ben­jäh­ri­gen (na­men­los blei­ben­den) Sohn über die Ser­pen­ti­nen der Schwä­bi­schen Alb, die Stät­ten sei­ner Kind­heit und sei­ne (zu­meist ehe­ma­li­gen) Freun­de be­su­chend. Von M., der Mut­ter des »Jun­gen«, ei­ner er­folg­rei­chen An­wäl­tin, lebt er längst ge­trennt. Der Grund für die Rei­se bleibt un­klar. Will er mit sei­nem Sohn ei­ne aben­teu­er­li­che Zeit in Wäl­dern, Höh­len und Mu­se­en ver­brin­gen? Oder dient sie als Grund­la­ge zum Auf­po­lie­ren des vi­ru­len­ten Fa­mi­li­en- und Selbst­has­ses?

Die Ant­wort ist schnell ge­fun­den. Va­ter, Groß­va­ter und Ur­groß­va­ter des eben­falls an­onym blei­ben­den Ich-Er­zäh­lers (er gibt bei der An­mel­dung ei­nen fal­schen Na­men an) ha­ben sich um­ge­bracht. Die Vä­ter­frau­en wa­ren nun »Selbst­mör­der­wit­wen«, die schließ­lich ir­gend­wann de­ment wur­den (was ihn durch­aus amü­siert). Dem Jun­gen hat er von die­ser Selbst­mord­ket­te nichts er­zählt. Der weiß auch nicht, dass es nicht nor­mal ist, wenn der Va­ter schon mor­gens mit dem Bier­trin­ken be­ginnt (und es er­bre­chen muss wenn er nichts im Ma­gen hat). Der Jun­ge ist just in dem Al­ter, in dem der Er­zäh­ler da­mals den er­häng­ten Va­ter ge­fun­den hat­te. Und es wird durch­aus furcht­ba­res über­legt. Zum ei­nen, es dem Va­ter gleich zu tun. Aber dies wür­de be­deu­ten, das Kind im Stich zu las­sen, al­so ge­nau das, was er heu­te, Jahr­zehn­te spä­ter, un­ter an­de­rem im­mer noch sei­nem Va­ter vor­wirft. Da dies ei­gent­lich nicht in­fra­ge kommt, er­wägt er noch die Mög­lich­keit, das Kind um­zu­brin­gen. Da­nach wä­re dann der Weg frei.

Das ist un­ge­fähr die Stim­mung in Bov Bjergs »Ser­pen­ti­nen«, ei­ner Road-No­vel, die im­mer wie­der von Rück­blen­den, As­so­zia­tio­nen und Ver­wün­schun­gen aus Kind­heit und Schul­zeit des Prot­ago­ni­sten un­ter­bro­chen wird. Er er­in­nert sich an Freun­de, an Rolf, der ei­ne Bom­be ge­gen sei­nen prü­geln­den Va­ter ent­wickel­te, an den längst ver­stor­be­nen Frie­der, den »Au­gen­staub­sauger«, mit dem er einst die Kunst in den Mu­se­en er­grün­de­te, an ei­ne Ve­ro­ni­ka, die im­mer »ver­arscht« wur­de (die es dann aber zur Ho­tel­be­sit­ze­rin ge­bracht hat), an sei­ne Mut­ter, die mit Putz­ar­bei­ten den La­den zu­sam­men­hielt (da­her hat er ein schlech­tes Ge­wis­sen, sel­ber ei­ne Putz­frau zu be­schäf­ti­gen) und an den Bru­der, der sich wie­der­um an al­les ganz an­ders er­in­nert als er sel­ber. In Ver­bin­dung ge­setzt wird dies mit der Be­zie­hung zu M., der Hass auf sei­nen (und auch M.s) Be­ruf, den Uni­ver­si­täts­be­trieb, die Re­fle­xio­nen über all die Na­zis in der Fa­mi­lie und die Na­zi-Kon­ti­nui­tät in der deut­schen Ge­sell­schaft. »Gas ge­ben« er­in­nert ihn an KZ. Ein Fluß ist ein »Fa­schis­mus­bäch­lein«. Und selbst bei mar­mo­rier­ten Flie­sen denkt er an »Welt­krieg, Völ­ker­mord, Wirt­schafts­wun­der«. Wei­ter­le­sen

Ide­al­ty­pus DT

1

»Zu Hit­ler fällt mir nichts ein«, schrieb Karl Kraus 1933 und sag­te dann doch ei­ni­ges über ihn.

»Zu Do­nald Trump fällt mir nichts ein«, den­ke ich manch­mal, und mein Über-Ich, das wie im­mer recht hat, wen­det ein, Trump sei nicht Hit­ler, und dann will mir wirk­lich nichts ein­fal­len. Ich glau­be nicht, daß ich, hät­te ich die Mög­lich­keit, mich mit die­sem Mann an ei­nen Kaf­fee­haus­tisch set­zen wür­de. Da ver­ste­he ich Gre­ta Thun­berg gut. Der Mann re­det ja nur über sich, zu sich und zu al­len.

2

Zum Ty­pus, der im Ex­em­plar Ge­stalt an­ge­nom­men hat, fällt mir aber doch et­was ein. Er in­ter­es­siert mich, der Ty­pus, weil ich über­zeugt bin, daß der DT, der di­rec­tor té­c­ni­co, wie man in his­pa­ni­schen Län­dern Fuß­ball­trai­ner nennt, der be­ste Re­prä­sen­tant je­nes Men­schen­bilds ist, das der Neo­li­be­ra­lis­mus im Zu­ge der to­ta­len Öko­no­mi­sie­rung der Ge­sell­schaft oh­ne gro­ßes Hal­lo, viel­mehr als »Selbst­ver­ständ­lich­keit«, ver­brei­tet und ein­ge­wur­zelt hat. DT, der Ide­al­ty­pus: ego­istisch, selbst­dar­stel­le­risch, me­di­en­süch­tig, un­ge­bil­det, laut, vul­gär, stets den per­sön­li­chen Ge­winn, d. h. sei­ne Koh­le im Sinn. Ir­gend­wo, ir­gend­wann, es ist Jah­re her, gab es mal ei­ne Dis­kus­si­on, ob ein Land sei­ne po­li­ti­schen Füh­rer ver­dient ha­be oder nicht. Man sagt es nicht gern, nie­mand hört es gern, aber ich glau­be wohl, daß es da ei­ne Wi­der­spie­ge­lung gibt, auch wenn sie ver­zerrt und miß­braucht wer­den kann. Al­ler­dings ist das ei­ne Wech­sel­wir­kung, kei­ne Ein­bahn­wi­der­spie­ge­lung, die Prä­si­den­ten und Kanz­ler spie­geln zu­rück, sie be­stär­ken und be­ein­flus­sen die Mas­se und ge­brau­chen sie mit­tels der Mitt­ler, al­so der Me­di­en, und zwar so di­rekt wie mög­lich, oh­ne Jour­na­li­sten als Dämp­fer da­zwi­schen: Mitt­ler Twit­ter. Wei­ter­le­sen

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst

Hans Magnus Enzensberger: Fallobst - Nur ein Notizbuch

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst – Nur ein No­tiz­buch

Fall­obst ge­hört, wie man nach­le­sen kann, zur Ka­te­go­rie »Wirt­schafts­obst«. Da­mit wird Obst be­zeich­net, wel­ches als Ta­fel­obst »nicht ge­eig­net«, aber den­noch und zur wei­te­ren Ver­ar­bei­tung oder Zu­be­rei­tung vor­ge­se­hen ist (wie z. B. als Most). Wenn je­mand wie Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sei­ne No­ta­ten­samm­lung als »Fall­obst« be­zeich­net, ist das ein we­nig ei­tel. Was durch den Un­ter­ti­tel »Nur ein No­tiz­buch« fort­ge­setzt wird.

Es ist ein um­fang­rei­ches No­tiz­buch mit mehr als 360 Sei­ten, bis­wei­len auf­ge­lockert von Il­lu­stra­tio­nen des 2011 ver­stor­be­nen Bernd Bex­te, dem En­zens­ber­ger am Schluß ei­ne klei­ne Hom­mage wid­met. Die ein­zel­nen No­ta­te sind nicht da­tiert; mit et­was de­tek­ti­vi­schem Ge­spür lässt sich der Zeit­raum ir­gend­wo zwi­schen 2012 und 2018 ver­or­ten. Die Un­ter­tei­lung in drei »Kör­be« (der er­ste um­fasst da­bei fast 300 Sei­ten) wirkt et­was my­ste­ri­ös. Ge­gen En­de wer­den die No­ti­zen et­was aus­führ­li­cher.

Be­son­ders zu Be­ginn gibt es sehr vie­le Zi­ta­te. Der Grund­ton der ei­ge­nen No­ta­te ist hei­ter und lau­nig. Da sind ety­mo­lo­gi­sche Sprach­spie­le, die bis­wei­len in Li­sten mün­den. Bei­spiels­wei­se über »Sucht­ge­fah­ren« – d. h. Haupt­wör­ter, die mit »-sucht« er­gänzt wer­den kön­nen, oder auch »Lü­ste« auf »-lust«. Oder Su­che nach Wör­tern, die et­was mit »Spit­zen-« zu tun ha­ben. Auf­ga­ben, die man Gym­na­sia­sten stel­len könn­te. Hübsch die­se kur­ze Ab­hand­lung über die Kunst des »Schwur­belns«. Und es gibt so­gar ei­ne Auf­zäh­lung von be­son­ders »ge­lun­ge­nen« Schla­ger­rei­men. Be­grif­fe wie »Ho­heit«, »sa­lopp« oder auch das in­zwi­schen in­fla­tio­när ver­wen­de­te »gut auf­ge­stellt« wer­den auf­ge­spießt (er wür­digt en pas­sant die Jour­na­li­stin Ga­brie­le Gött­le für ihr Sprach­ge­fühl). Wei­ter­le­sen

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑3/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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War­um ei­gent­lich ha­be ich in mei­ner neu­en, freie­ren Epo­che als Le­ser be­gon­nen, mich Faul­k­ner an­zu­nä­hern? Ich kann kaum sa­gen, daß ich ihn »wie­der­le­se«, weil ich ihn zwar seit mei­nen zwan­zi­ger Jah­ren hoch­hal­te, d. h. seit den Jah­ren um 1980, als er ei­ni­ger­ma­ßen aus der Mo­de ge­kom­men war, er mir aber von Gerd-Pe­ter Eig­ner ans Herz ge­legt wur­de, der sich zwan­zig Jah­re frü­her li­te­ra­risch ge­bil­det (»for­miert«) hat­te, als Faul­k­ner, der No­bel­preis lag ein knap­pes Jahr­zehnt zu­rück, noch in Mo­de war. So geht der Sta­fet­ten­stab über die Ge­ne­ra­tio­nen. Wirk­lich ge­le­sen ha­be ich Faul­k­ner da­mals aber nicht, nur ei­ne al­te, au­ßen hell­blaue Ta­schen­buch­aus­ga­be von Ab­sa­lom! Ab­sa­lom! ge­kauft und oft ein­mal auf­ge­blät­tert, die er­ste Über­set­zung ins Deut­sche, die, glau­be ich, in den drei­ßi­ger Jah­ren an­ge­fer­tigt wor­den war. Spä­ter ist mir der Ein­fluß Faul­k­ners auf den ganz frü­hen Hand­ke auf­ge­fal­len, und wie­der spä­ter ha­be ich ge­merkt, wie stark der nord­ame­ri­ka­ni­sche Süd­staa­ten­au­tor auf die Ro­man­li­te­ra­tur La­tein­ame­ri­kas wirk­te, von Ju­an Car­los Onet­ti über Gar­cía Már­quez und Var­gas Llosa bis hin zu Ri­car­do Pi­glia. Es gibt tat­säch­lich so et­was wie ei­ne ame­ri­ka­ni­sche Li­te­ra­tur, Nor­den und Sü­den um­fas­send, und zwar jen­seits ideo­lo­gi­scher Kon­zep­tio­nen, wie sie Pa­blo Ne­ru­da ver­trat, zu er­schlie­ßen al­lein aus der Li­te­ra­tur selbst, aus den Tex­ten, Per­spek­tiv­set­zun­gen, Wahr­neh­mungs­wei­sen, Er­zähl­for­men. Ei­nen der­art ein­fluß­rei­chen Au­tor woll­te ich nun doch ein­mal in al­ler Frei­heit, oh­ne kon­tex­tu­el­le Zwän­ge, ken­nen­ler­nen. Die Qua­li­tät li­te­ra­ri­scher Wer­ke läßt sich nicht aus ih­rem Pu­bli­kums­er­folg mut­ma­ßen, eher schon aus der In­ten­si­tät und – even­tu­ell – Ex­ten­si­tät, mit der sie von nach­fol­gen­den Au­toren auf­ge­nom­men wur­den. »Ecri­vain pour ecri­vains«, für mich be­deu­tet die­se un­ter­schied­lich ge­brauch­te, oft pe­jo­ra­ti­ve Cha­rak­te­ri­sie­rung kei­ne Ab­wer­tung, im Ge­gen­teil. Ich ha­be so­gar, der Na­me des Ver­fas­sers ist mir ent­fal­len, ei­ne Bio­gra­phie über Faul­k­ner ge­le­sen1; »so­gar« ist viel­leicht das fal­sche Wort, weil ich Schrift­stel­ler­bio­gra­phien mit größ­ter Neu­gier zu le­sen pfle­ge; ja, ich muß so­gar ge­ste­hen – »so­gar« ist hier am Platz –, daß mir die Bio­gra­phie fast mehr ge­sagt hat, mich mehr ein­ge­nom­men hat für die­sen Ro­man­cier, der lan­ge sei­nen Weg nicht und noch län­ger kei­nen Er­folg fand, als die ein­zel­nen Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen (aus­ge­nom­men viel­leicht Als ich im Ster­ben lag). Wei­ter­le­sen


  1. Stephen B. Oates, inzwischen habe ich nachgesehen. 

Va­le­rie Frit­sch: Herz­klap­pen von John­son & John­son

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

Va­le­rie Frit­sch: Herz­klap­pen von John­son & John­son

»Al­ma war ein un­ge­dul­di­ges Kind, das nicht ver­lie­ren konn­te, bei Brett­spie­len be­trog, lie­ber schrie, als schwieg, die Hän­de oft zu Fäu­sten ball­te, die auch im Schlaf sel­ten auf­gin­gen.«

Das ist der er­ste Satz von Va­le­rie Frit­schs Ro­man mit dem selt­sam an­mu­ten­den Ti­tel »Herz­klap­pen von John­son und John­son« (und ei­nem noch selt­sa­me­ren, ehr­lich ge­sagt: häss­li­chen Co­ver). Es geht al­so um Al­ma, dem gut be­hü­te­ten Ein­zel­kind, de­ren Ju­gend­jah­re »still und mon­dän« ver­lie­fen (durch­aus mit klei­nen Ku­rio­si­tä­ten, et­wa wenn sie sich in der Ba­de­wan­ne die Scham­haa­re bleich­te). Er­staun­lich, wie we­nig man von den El­tern er­fährt: ei­ne schlaf­wan­deln­de Mut­ter, die auch schon ein­mal nackt am Kla­vier sitzt und ein Va­ter, als Voll­wai­se er­fah­ren »mit vie­len Ver­wand­ten, durch de­ren Hän­de er ge­gan­gen war«. Da ist dann noch das Ge­fühl, man spie­le ihr Thea­ter vor, gan­ze Büh­nen­stücke (die El­tern re­den wie Freun­de mit­ein­an­der), ei­ne Un­ru­he, ei­ne Ah­nung über ei­ne ver- oder be­schwie­ge­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te, die, wie sich dann her­aus­stellt, et­was mit den El­tern der Mut­ter zu tun ha­ben muss. Fast be­hut­sam führt Frit­sch den Le­ser nun an die­se Ge­schich­te her­an. Nur kurz fürch­tet man die in­zwi­schen zu oft ge­le­se­nen Groß­va­ter-/Groß­mutter-Idea­li­sie­run­gen, aber es kommt al­les ganz an­ders. Ganz wun­der­bar an­ders.

Den gan­zen Bei­trag »Schmerz­the­ra­pie« hier bei Glanz und Elend le­sen

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑2/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Ich könn­te die »Neu­erschei­nun­gen« und die Na­men ih­rer Ver­fas­ser er­wäh­nen, die ich in den letz­ten Jah­ren ge­le­sen ha­be, weil sie mir mehr oder min­der zu­fäl­lig zwi­schen die Hän­de ge­kom­men sind, und die ich wi­der­wil­lig zu En­de ge­le­sen oder vor­zei­tig weg­ge­legt ha­be, aber ich wer­de es nicht tun. Vie­len die­ser Au­toren kann man die Ver­öf­fent­li­chung nach­se­hen, viel­leicht al­len, auch mir selbst. So ein­ge­spannt in den Be­trieb und/oder in das ei­ge­ne Werk (wenn man sich ein­span­nen läßt), pro­du­ziert man zu viel. Oder aus an­de­ren Grün­den, so­gar aus in­ne­rer Not­wen­dig­keit, den­noch zu viel. Ich wer­de kei­nen die­ser Na­men nen­nen, au­ßer viel­leicht den ei­ner Au­torin, de­ren Bü­cher ich schät­ze und die fern von wo lebt, von Deutsch­land Bay­ern Öster­reich (wo ich nicht le­be) und die­se No­ti­zen nicht le­sen wird (aber ihr Lek­tor, ihr Ver­le­ger?), Hi­ro­mi Ka­wa­ka­mi, ihr letz­tes Buch in der Über­set­zung der von mir eben­falls sehr ge­schätz­ten Ur­su­la Grä­fe hat­te ich nach mei­nem neu­en Frei­heits­prin­zip in ei­ner klei­nen Buch­hand­lung in Frank­furt am Main ge­kauft und noch vor der Hälf­te des Gan­zen weg­ge­legt, ir­gend­wo im öf­fent­li­chen Raum zu­rück­ge­las­sen, viel­leicht kann wer an­de­rer was da­mit an­fan­gen, ich nicht; viel­mehr war ich ge­nervt von die­ser Art von Leich­tig­keit, Li­te­ra­tur light, Ge­heim­nis­tue­rei, Be­lang­lo­sig­keit, aber egal, ich darf mir das jetzt er­lau­ben, mei­ne Ge­nervt­heit und sie aus­zu­drücken, ich un­ter­lie­ge kei­nen Zwän­gen (mehr), auch Fehl­käu­fe darf ich mir er­lau­ben, die ge­sche­hen bei je­der Art von Pro­duk­ten; al­so kei­ne Na­men, sag­te ich, denn ich will und muß kei­ne Feind­schaf­ten auf mich zie­hen, je­den­falls nicht mut­wil­lig, nicht oh­ne Not­wen­dig­keit. Es gibt Au­toren, die ich als – sei es pri­va­te, sei es öf­fent­li­che – Per­so­nen schät­ze oder schlicht und ein­fach mag, oder die ich re­spek­tie­re, mit de­ren künst­le­ri­schen Er­zeug­nis­sen ich aber nichts an­fan­gen kann. Wie da­mit um­ge­hen? Ei­ne schwie­ri­ge und in­ter­es­san­te Fra­ge, die man, wenn über­haupt, nur von Fall zu Fall wird be­ant­wor­ten kön­nen, und die ei­nen un­wei­ger­lich in Wi­der­sprüch­lich­kei­ten ver­strickt. Auch das Um­ge­kehr­te kommt üb­ri­gens vor, un­an­ge­neh­mer Au­tor, un­gu­te Per­son, groß­ar­ti­ges Werk.

Ich le­se über Do­ra – von Do­ra, möch­te ich sa­gen, wie man von je­man­dem hört und nicht über ihn (»hast du et­was von ihm/ihr ge­hört?«) – in ei­nem Ca­fé na­mens Cas­ca­de (Kas­ka­de, Was­ser­fall), das ich vor fünf­zehn Jah­ren oft be­such­te, als ich hier im Han­kyu-Bahn­hof von Um­eda bald aus‑, bald um­stieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jah­ren, viel­leicht bes­ser als da­mals, was mich an dem Ort an­zog, ab­ge­se­hen da­von, daß die Mehl­spei­sen viel­fäl­tig und schmack­haft, nicht zu süß und nicht zu teu­er wa­ren (ei­ne so­ge­nann­te Bak­ery, das Ca­fé ge­hört zu ei­ner Bäcke­rei): die zwei gro­ßen, da­bei de­zen­ten, im­mer sau­be­ren Groß­spie­gel an der ei­nen Wand, wo die Gä­ste ne­ben­ein­an­der an ei­nem lan­gen und ziem­lich brei­ten Tisch sa­ßen, ei­nem Wand­tisch aus mas­si­vem hel­lem Holz, wo ich gut le­sen und schrei­ben konn­te und kann, und zwi­schen­durch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft he­be, das Kom­men und Ge­hen be­trach­ten, das Sit­zen und Sin­nie­ren und Plau­dern, das Aus­wäh­len von Mehl­spei­sen im Hin­ter­grund, Frau­en mit silb­ri­gen Zan­gen und wei­ßen waag­rech­ten Ta­bletts, das Sit­zen und Plau­dern und War­ten und Su­chen von Men­schen, über­wie­gend Frau­en, die mei­sten wohl Haus­frau­en in Shop­ping­pau­se, aber auch von Män­nern, die die Män­ner­welt der Bü­ros satt­hat­ten, Su­chen im Spie­gel, manch­mal nach mir, nach mei­nem Blick, den bei­de dann ab­wen­den, so­bald er ge­fun­den ist, und das Spiel geht wei­ter, die Su­che geht wei­ter. Ich le­se von Do­ra, die auf ei­nem Fo­to, wo sie neun oder zehn Jah­re alt ist, vor ei­nem Vo­gel­kä­fig steht, ei­ner Vo­lie­re ver­mut­lich, de­ren In­halt oder In­sas­sen man nicht aus­ma­chen kann, Vo­gel oder Vö­gel, viel­leicht zwei, man weiß es nicht, weil die Um­ge­bung des Mäd­chens in tie­fem Schat­ten liegt und man Um­ris­se kaum ah­nen kann. Ich he­be die Au­gen vom Buch und be­mer­ke rechts un­ten auf der Spie­gel­flä­che den Kä­fig, die Vo­lie­re, säu­ber­lich auf­ge­klebt, wie schwar­zes Schmie­de­ei­sen, oben kup­pel­för­mig ge­run­det, dar­in ein klei­ner Vo­gel, viel­leicht nur ein Sper­ling, im Schat­ten­riß, si­cher kein Pa­pa­gei, und ei­ne Blu­me, die sich zwi­schen den Stä­ben hin­ein­rankt, um sich mit dem Vo­gel zu ver­ei­nen oder gar – ihn zu be­frei­en. Die­ses Bild hat­te ich auch vor fünf­zehn Jah­ren be­merkt, aber nicht mit der ge­büh­ren­den Auf­merk­sam­keit; jetzt ist es dank mei­ner Lek­tü­re kräf­ti­ger, prä­sen­ter. Und die Lek­tü­re, der Wahr­neh­mungs­mo­ment im Buch, ist durch mei­nen Auf­blick ge­stärkt, weil mir das Ste­hen Do­ras am Rand des Schat­tens und die Ah­nung des­sen, was im Dun­kel liegt, als Me­ta­pher da­für er­schei­nen kann, was ein Buch, ei­ne Er­zäh­lung wie die­se tun kann: für uns, mit uns, für die Ab­we­sen­den, die Be­schwo­re­nen, für sich selbst.

Sky-Building, welches das beste Kino von Osaka beherbergt © Leopold Federmair

Sky-Buil­ding, wel­ches das be­ste Ki­no von Osa­ka be­her­bergt © Leo­pold Fe­der­mair

Ro­ma­ne ent­hal­ten künst­li­che Wel­ten, Fik­ti­on ist Vir­tua­li­tät, nicht an­ders als die Bil­der­flut im In­ter­net oder die Vor­stel­lungs­bil­der im Kopf. Die­se Welt und mei­nen Text, von dem ich nicht weiß, auf wel­cher der bei­den Sei­ten sein Ort ist, ver­las­send ha­be ich mich auf den si­cher­lich rea­len Weg zu ei­nem et­wa fünf­zig Stock­wer­ke auf­ra­gen­den Hoch­haus ge­macht, um dort, nur im drit­ten Stock, ei­nen Film zu se­hen, der wie ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on an­ge­legt, aber zwei­fel­los ein so­ge­nann­ter Spiel­film ist, Sor­ry We Missed You von Ken Loach (wo­bei sich gleich die Fra­ge stel­len lie­ße, in­wie­weit Do­ku­men­ta­ti­on mit fil­mi­schen Mit­teln nicht eben­falls Fik­ti­on ist; am En­de ent­hält je­de mensch­li­che Le­bens­äu­ße­rung jen­seits des At­mens und der blo­ßen Be­dürf­nis­be­frie­di­gung we­nig­stens ein Gran Er­fin­dung, Ver­dich­tung, Aus­las­sung, Ne­ga­ti­on, und die Schrift­stel­ler, die Dich­ter sind nichts an­de­res als be­son­ders ge­schul­te oder ta­len­tier­te oder er­fah­re­ne Spe­zia­li­sten der Er­fin­dung). Und als ich das Ki­no ver­ließ, hat­te ich vor, in mei­ne Text­land­schaft zu­rück­zu­keh­ren und dies in ei­nem an­de­ren Ca­fé zu tun, am be­sten oben im drei­ßig­sten Stock des Gran Han­kyu Buil­ding, in luf­ti­ger Hö­he, da kann man, wie schon Nietz­sche mein­te, wirk­lich gut den­ken und schrei­ben, in der Hö­hen­luft. Oben an­ge­kom­men, ist mir die War­te­schlan­ge zu lang, Um­eda und sei­ne Ca­fés quel­len an die­sem letz­ten Sonn­tag des Jah­res über von Shop­pern und Win­dow-Shop­pern, die frü­her oder spä­ter er­mü­den, auch Män­ner­run­den dar­un­ter, die vor dem Jah­res­wech­sel noch ein­mal mit­ein­an­der plau­dern oder eher, ha­be ich den Ein­druck, schrei­en wol­len (of­fen­bar wirkt Kaf­fee auf sie wie Al­ko­hol). Ich kann im Lärm und ge­gen den Lärm recht gut schrei­ben, doch der Kon­sum­tau­mel, die­ser kul­tur­ka­pi­ta­li­sti­sche Nor­mal­zu­stand der Wo­chen­en­den, ist mir dann doch zu­viel. Wei­ter­le­sen

Pe­ter Hand­ke: Das zwei­te Schwert

Peter Handke: Das zweite Schwert

Pe­ter Hand­ke: Das zwei­te Schwert

Und wie­der so ein »Aben­teu­er­buch« von Pe­ter Hand­ke. In den 1980er Jah­ren be­gan­nen sie, die Er­zäh­lun­gen vom Auf­bruch in ein neu­es Le­ben, das, was man Ent­wick­lungs- oder, ge­nau­er: Ver­wand­lungs­ro­ma­ne nen­nen könn­te. Prot­ago­ni­sten ver­lie­ßen wie ei­nem in­ne­ren Zwang ge­hor­chend ihr an­ge­stamm­tes Da­sein, be­reit für Neu­es. Die In­ten­tio­nen wa­ren nur zu er­ah­nen. Al­lei­ne als Ein-Mann- oder Ein-Frau-Ex­pe­di­tio­nen oder eben auch mit Ge­fähr­ten. Raus aus dem Re­fu­gi­um, hin­ein in die Welt. In den 1990er Jah­ren neh­men die­se Aben­teu­er­ge­schich­ten bei Hand­ke zu. So bricht ein Apo­the­ker in »In ei­ner dunk­len Nacht ging ich aus mei­nen stil­len Haus« (1997) mit zwei Freun­den auf in die Step­pe. »Der Bild­ver­lust« (2002) »Der gro­ße Fall« (2011) und auch Hand­kes letz­tes Epos, »Die Obst­die­bin« (2017), ge­hö­ren eben­falls in die­se Ka­te­go­rie. Und nun bricht im neu­en Buch mit dem schein­bar mar­tia­li­schen Ti­tel »Das zwei­te Schwert« (sanf­ter Un­ter­ti­tel: »Ei­ne Mai­ge­schich­te«) der Prot­ago­nist (ein Ich-Er­zäh­ler, dem Au­tor nah und doch nicht mit ihm iden­tisch) auf. Der Un­ter­schied dies­mal: Es gibt ein (mehr oder we­ni­ger) fe­stes Ziel: ei­ne Frau ir­gend­wo in der Gran­de-Cou­ron­ne (Ile de France), die sich ei­nes Wort­ver­bre­chens an des Prot­ago­ni­sten Mut­ter schul­dig ge­macht hat. Und nun – es gibt kei­ne an­de­re Wahl, »es hat­te zu ge­sche­hen« –muss dies ge­rächt wer­den.

Den gan­zen Bei­trag »Die Ra­che­ge­schich­te ei­nes Schrift­stel­lers« hier bei Glanz und Elend le­sen