Blei­be schrei­bend im Bild!

Pe­ter Hand­ke zeich­net seit je­her be­glei­tend zu sei­nem Schrei­ben – vor al­lem sei­ne No­tiz­bü­cher sind durch­zo­gen von Zeich­nun­gen, die sich oft so eng an das Ge­schrie­be­ne an­schlie­ßen, als wür­de das Ge­zeich­ne­te mit der Schrift ver­schlun­gen sein. Kürz­lich ist ei­ne Zu­sam­men­stel­lung die­ser Bil­der im Schirm­er und Mo­sel Ver­lag er­schie­nen, in de­nen al­lein ei­ni­ge Ti­tel sei­ner Zeich­nun­gen gan­ze Ge­schich­ten er­zäh­len: »Er­ste hei­le, vol­le Ha­sel­nuss des Jah­res, Frucht noch an der Na­bel­schnur« oder »Auf den Dach­schie­fer­plat­ten die er­sten Trop­fen des Som­mer­re­gens im DO­MI­NO-Mu­ster«.

Hand­ke zeich­net aus­schließ­lich mit Blei­stift und Ku­gel­schrei­ber und oft be­stehen sei­ne Zeich­nun­gen aus vie­len klei­nen an­ein­an­der­ge­reih­ten Krei­sen un­ter­schied­li­cher Far­ben. Auf ei­ner ist ei­ne ver­wun­de­te Wald­maus mit ei­nem ab­ge­spreiz­ten Fuß ist zu se­hen, de­ren Schwanz in das mit grü­ner und ro­ter Tin­te Ge­schrie­be­ne hin­ein­ragt. Ein paar Sei­ten wei­ter ver­steckt Hand­ke dann das da­zu­ge­hö­ri­ge Mau­se­loch; ein tief­schwar­zer Fleck auf sprö­dem Wald­bo­den, auf dem trotz Trocken­heit Blu­men in blau und gelb blü­hen.

Der ita­lie­ni­sche Phi­lo­soph Gi­or­gio Agam­ben ver­gleicht im Vor­wort Hand­kes Zeich­nun­gen mit dem ja­pa­ni­schen Farb­holz­schnitt Su­ri­mo­no, auf dem sich das Ge­schrie­be­ne und das Ge­mal­te ver­ei­nen. Eben­so wie in den Su­ri­mo­nos sieht Agam­ben in Hand­kes Zeich­nun­gen den hart­näcki­gen Ver­such der Wör­ter, sich in die Bil­der hin­ein­zu­schie­ben und »schrei­bend im­mer im Bild zu blei­ben«.

Das passt zu Hand­kes Sicht auf die Welt, in der auch das al­ler­klein­ste De­tail ei­ner Be­rück­sich­ti­gung be­darf; es ist sei­ne be­son­de­re Art des Schau­ens, ein fast kind­li­cher Blick­win­kel, dem das Stau­nen über das noch so Klei­ne in­ne­wohnt – die Ka­sta­ni­en­blät­ter im Ju­ni, Re­gen am Zug­fen­ster im De­zem­ber, ein Mu­ster im Wald­pfad, ei­ne Lö­wen­zahn­spo­ren­ku­gel, ein Amei­sen­hü­gel, ein Abend­him­mel. Aber auch Men­schen schlei­chen sich hin und wie­der in sei­ne Bil­der, die ihm in Zü­gen, Kir­chen oder Bars be­geg­nen.

Hand­ke ge­lingt es in sei­nen Zeich­nun­gen vor al­lem, das »nicht mehr« oder auch das »noch nicht« zu ver­bild­li­chen. Es geht ihm um die Dar­stel­lung von Be­ge­ben­hei­ten, die sich ge­ra­de da­durch aus­zeich­nen, dass sie sich in ei­nem Zwi­schen­zu­stand er­eig­nen, der ei­ne be­son­de­re Lee­re auf­weist. Es scheint, als ob Hand­ke die­se »Nicht-Mo­men­te« zeich­net, um der Lee­re ein Ge­fühl zu ver­lei­hen und um sie da­mit von ih­rer Man­gel­haf­tig­keit zu ent­he­ben. Die Lee­re ist ei­ne Vor­aus­set­zung für die Er­fahr­bar­keit von Stil­le. Hand­ke ver­bild­licht Stil­le.

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Mit ei­nem öf­fent­li­chen Po­sting kurz vor Weih­nach­ten weck­te der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Jan Drees mein In­ter­es­se. Drees schreibt:

»Ver­ständ­li­cher­wei­se ha­ben Han­ser Li­te­ra­tur­ver­la­ge und dtv Ver­lags­ge­sell­schaft das Buch vom Markt ge­nom­men, das ge­le­sen wer­den kann als An­lei­tun­gen zum psy­chi­schen Miss­brauch.« [Ver­lags­na­men im Ori­gi­nal mit Linkun­ter­le­gung.]

Be­zug ge­nom­men wird auf ein Po­sting der Web­sei­te »Fe­mi­ni­stisch Le­sen« vom 22.12.2020. Dort hat­te man in dem pa­the­ti­schen Blog­post »An­lei­tung zu psy­chi­scher Ge­walt darf nicht im Bü­cher­re­gel ste­hen« am 13.12.2020 ei­ne Kam­pa­gne ge­gen das Buch »Die 24 Ge­set­ze der Ver­füh­rung« von Ri­chard Gree­ne be­gon­nen und ei­ne Pe­ti­ti­on ge­gen ei­ne Neu­auf­la­ge die­ses Bu­ches ge­star­tet.

Lesen verboten!
Le­sen ver­bo­ten! (Quel­le: https://www.pngegg.com/es/png-xenpn)

Im­mer­hin wid­me­te sich das Bör­sen­blatt dem An­sin­nen. Der Er­folg der Pe­ti­ti­on über das in die­sen Din­gen gän­gi­ge Por­tal »change.org« war er­staun­lich: 112 Men­schen stimm­ten der For­de­rung zu.

Wor­um geht es in dem Buch, dass seit vie­len Jah­ren auf dem Markt ist? Laut Blog­post wird dort be­schrie­ben, »wie man ei­ne to­xi­sche Be­zie­hung auf­baut«. Es »gibt der*dem Täter*in ei­ne Schritt-für-Schritt-An­lei­tung, wie die be­gehr­te Per­son ma­ni­pu­liert, iso­liert und ge­fü­gig ge­macht wer­den kann; kurz ge­sagt: wie man psy­chi­sche Ge­walt aus­übt.« Als Be­le­ge gibt es Aus­schnitt, die mit »Trig­ger-War­nung« ver­se­hen wur­den. Sie sind aus­schließ­lich ei­ner 27seitigen Le­se­pro­be ent­nom­men – denn tat­säch­lich gibt es die­ses Buch nicht mehr of­fi­zi­ell zu er­wer­ben (au­ßer bei ei­nem Lon­do­ner An­ti­qua­ri­at auf Ama­zon für Prei­se zwi­schen 70 und 100 Eu­ro).

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Boxing Week auf Si­zi­li­en

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN PETER STEPHAN JUNGK, ENDE DEZEMBER 1998

Sams­tag, 26. 12.1998 Un­se­re Ab­rei­se nach Pa­ler­mo über­aus an­stren­gend, weil wir via Rom flie­gen, dort das Um­stei­gen. Der Ver­lust des Kof­fers, den Lil­li­an1 dann in ei­nem Ab­stell­raum des Flug­ha­fens Pa­ler­mo wie­der­fin­det. An­kunft um ca. 21h im Ho­tel Vil­la Igiea – ei­gen­ar­ti­ges Ho­tel! Pe­ter, So­phie, Lé­o­ca­die2 er­war­ten uns im Re­stau­rant.

Ver­brin­gen schwie­ri­ge, aber in­ten­si­ve Ta­ge in Pa­ler­mo, vom 26.12. bis zum 1.1.1999.

Un­ser Zim­mer sehr schön, mit Aus­sicht auf den Ha­fen und das Meer. Die Hei­zung funk­tio­nier­te nicht gut, aber man gab uns ei­nen Elek­tro-Ofen. Der wun­der­schö­ne Ho­tel-Park der Vil­la Igiea!

Lé­o­ca­die krank, So­phie krank, als wir an­ka­men. So­phie die er­sten zwei Ta­ge kaum ge­se­hen, sie liegt im Bett. Ich ge­be Pe­ter mein Buch3 zu le­sen, zu die­sem Zeit­punkt war der Schluss al­ler­dings noch ein ganz an­de­rer, als der, den ich heu­te vor 4 Ta­gen4 nach Mün­chen sand­te.

Pro­fes­sor Co­me­ta, der Ger­ma­nist, der Pe­ter be­su­chen kommt, un­ter­rich­tet deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur in Pa­ler­mo, ein run­der, jo­via­ler Mensch, der uns viel über die Stadt er­zählt. Er hat­te auch mit der Auf­füh­rung des Thea­ter­stücks von Pe­ter zu tun, vor kur­zer Zeit, »Das Spiel vom Fra­gen«, das er für das Thea­ter in Pa­ler­mo über­setzt hat.

Ein er­ster Spa­zier­gang, al­lein mit Lil­li­an und Adah5, am 27.12., in der Nä­he des Ho­tels. Die ver­kom­me­nen Gas­sen, die schmut­zi­gen Hin­ter­hö­fe, die trau­ri­gen Ge­bäu­de. Die er­folg­lo­se Su­che nach dem Ha­fen. Hun­de­schei­ße, auf Schritt und Tritt.

Die Piaz­za Aqua­san­ta, na­he dem Ho­tel, als ei­ner der be­sten, schön­sten Punk­te der gan­zen Stadt. Das Lo­kal dort, am Platz – wie rei­zend man zu uns war. Der Be­sit­zer, ehe­mals Kell­ner und Koch in gro­ßen eu­ro­päi­schen Ho­tels, u.a. in St. Mo­ritz, der uns zeigt, was er kann. (Als Koch.) Wir re­ser­vie­ren dort für den 31. 12. – vor lau­ter Sym­pa­thie.

Ich se­he Pe­ter gleich­sam beim Le­sen mei­nes Ma­nu­skripts zu, 3 Ta­ge lang – 27., 28., 29. – be­mer­ke, wie sehr es ihn zu in­ter­es­sie­ren scheint, ein­mal sagt er so­gar: »kaf­ka­esk…« Sit­zen ei­nes Abends bei­sam­men, füh­ren ei­nes der in­ten­siv­sten Ge­sprä­che je­mals, aber es ist wie im Traum: Ha­be bei­na­he ALLES ver­ges­sen. Weiß nur, dass es nach 23h war, Lil­li­an und Adah schlie­fen, So­phie ih­rer Krank­heit we­gen so­wie­so, auch Lé­o­ca­die na­tür­lich, und Pe­ter und ich sa­ßen an ei­nem Tisch­chen in ei­ner Art klei­nen Bi­blio­thek, vis à vis von sei­ner Suite, ein Raum über dem gro­ßen Fest­saal mit den fin-de-siè­cle-Wand­ma­le­rei­en. Er hat­te ca. die Hälf­te des Ma­nu­skripts gelesen…schien recht an­ge­tan zu sein, woll­te aber, na­tur­ge­mäß, noch nichts End­gül­ti­ges sa­gen. Und wir ge­rie­ten vom 100. ins 1000., ad Ser­bi­en so­gar. Dass er glau­be, vie­les sei pas­siert, im Krieg in Ju­go­sla­wi­en, weil vor lau­ter Zorn und Wut et­was, was nur zur Hälf­te im Ar­gen lag, dann zer­schmet­tert wur­de, mit al­ler Ge­walt. Se­he sei­ne Hand­be­we­gung des Schla­gens vor mir, von oben nach un­ten, als Zei­chen des Zer­schla­gens, vor lau­ter Wut. / Wir spre­chen da­von, dass vie­le Be­rei­che des Zwi­schen­mensch­li­chen im Grun­de nie be­schrie­ben wor­den sei­en. Ich le­se zur Zeit ge­ra­de den »Zau­ber­berg« neu, aber Pe­ter lehnt Tho­mas Mann ab, da die Spra­che ihm ein­fach un­er­träg­lich sei. Die Spra­che Kaf­kas, Ro­bert Walsers, die kön­ne er er­tra­gen, sie sei REIN, WAHR, ECHT, auch er schrei­be so, und er ver­gleicht sich durch­aus mit Kaf­ka und Ro­bert Wal­ser. »Auch bei mir«, sagt er, »hat die Spra­che die­se Klar­heit – das kommt aus dem Traum. Traum­spra­che…« / Mehr als 1 Stun­de sa­ßen wir da – und wie im Traum: mein Mir-Vor­neh­men, mir al­les, al­les ex­akt mer­ken zu müs­sen, zu wol­len…

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  1. Lillian Birnbaum, die Frau des Autors, Fotografin und Filmproduzentin 

  2. Gemeint sind Peter Handke, seine Frau Sophie Semin und ihre damals 7-jährige Tochter 

  3. Es handelte sich um die 1. Fassung meines Romans "Die Erbschaft", der im Herbst 1999 im Ullstein Verlag erschienen ist. Die Geschichte eines Dichters, Daniel Löw, der in Südamerika einer Erbschaft nachjagt, die ihm der Cousin seines Vaters hinterlassen hat, ist heute als Nachdruck erhältlich: https://www.fischerverlage.de/buch/peter-stephan-jungk-die-erbschaft-9783596317592
     

  4. Die vorliegenden Aufzeichnungen entstanden rückblickend, etwa vier Wochen später. 

  5. Die 1994 geborene Tochter des Autors. 

Weih­nach­ten mit Wolf­gang Welt

Mehr Ma­jo­ran Weih­nach­ten vor fünf­zig Jah­ren Von Wolf­gang Welt Die Ze­che Bruch­stra­ße wür­de im näch­sten Jahr still­ge­legt, und es war das letz­te Weih­nach­ten da­vor. Das Lohn­bü­ro der Ze­che, in der der Va­ter be­schäf­tigt war, ar­bei­te­te bis nach­mit­tags, und als der Va­ter um vier Uhr noch nicht zu Hau­se war, ahn­te die Mut­ter, der Pa­pa ist ...

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Wal­ter E. Rich­artz: Bü­ro­ro­man

Walter E. Richartz: Büroroman
Wal­ter E. Rich­artz:
Bü­ro­ro­man

Auf­merk­sam ge­wor­den auf Wal­ter E. Rich­artz wur­de ich durch Wolf­gang Welts Re­zen­si­on von »Rei­ters west­li­che Wis­sen­schaft«, dem letz­ten Ro­man des 1980 durch Frei­tod aus dem Le­ben Ge­schie­de­nen. Welt er­wähnt in sei­nem Text von 1981, den er in­ter­es­san­ter­wei­se mit dem Hand­ke-Ti­tel »Lang­sa­me Heim­kehr« über­schreibt, nur kurz den »Bü­ro­ro­man« von Rich­artz, aber da es in der (deutsch­spra­chi­gen) Li­te­ra­tur re­la­tiv we­nig Be­zü­ge zu Bü­ro­an­ge­stell­ten gibt (die häu­fig ge­nann­te »Abschaffel«-Trilogie von Wil­helm Gen­a­zi­no 1977–79 zählt ei­gent­lich nicht, weil die Haupt­fi­gur ei­ne eher in­tel­lek­tu­ell-skur­ri­le Per­sön­lich­keit dar­stellt), woll­te ich zu­nächst die­ses Buch le­sen.

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on des »Bü­ro­ro­mans« ist von 1978; die Dio­ge­nes-Aus­ga­be von 2007 folgt die­ser auch in der al­ten Recht­schrei­bung. Er be­ginnt als lau­ni­ge Sa­ti­re im Er­zähl­stils ei­nes Con­fé­ren­ciers, der dem Pu­bli­kum wie auf ei­ner Büh­ne das 26 m² gro­ße Bü­ro­zim­mer Num­mer 1028 der (na­tür­lich fik­ti­ven) »DRAMAG« (»Deut­sche Regler‑, Ar­ma­tu­ren- und Meßgeräte‑A.G.«) in Frank­furt am Main-Ost vor­stellt. Dort sit­zen Wil­helm Kuhl­wein (23 Jah­re Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit), Frau Klatt (drei Jah­re we­ni­ger) und, seit drei Mo­na­ten, Fräu­lein Mau­ler. Sie ar­bei­ten im Rech­nungs­we­sen, sind be­schäf­tigt mit Ko­sten­stel­len­bu­chun­gen für die Er­mitt­lung der Ko­sten streng ge­trennt nach Ab­tei­lun­gen, die wie ei­ge­ne Fir­men be­han­delt wer­den – das, was man spä­ter »Pro­fit-Cen­ter« nen­nen soll­te. 41 Stun­den-Wo­che, Ko­sten­stel­le 68045. Drei Men­schen im Bü­ro, ei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein Te­le­fon (auf ei­nem Te­le­fon­arm), ein Wasch­becken mit drei Hand­tü­chern, zwei Stem­peln (»EILT« und ERLEDIGT«), Schreib­tisch­un­ter­la­gen (in »SKAI«), je­de Men­ge Ak­ten­schrän­ke mit Ord­nern, Spin­den und die ob­li­ga­to­ri­sche Ur­laubs­kar­ten­wand. Sin­ni­ger­wei­se gibt es am En­de des Bu­ches ei­ne In­ven­tur­li­ste über all die Ge­gen­stän­de (vie­le aus Ba­ke­lit), die es in den 1970er Jah­ren in Bü­ros so gab, un­ter an­de­rem auch die Tin­ten­wip­pe, die man zwar schon da­mals nicht mehr brauch­te, die aber aus Tra­di­ti­on im­mer noch in den Schrän­ken auf­zu­fin­den war.

Zu­nächst wird je­doch ein Ar­beits­tag aus die­sem Zim­mer 1028 er­zählt, von der (un­be­zahl­ten) Früh­stücks­pau­se über die Pro­ze­du­ren beim Mit­tag­essen (in der Kan­ti­ne gab es nur ein Ge­richt – die An­ge­stell­ten müs­sen in Schich­ten ge­hen) bis zum se­kun­den­ge­nau­en Auf­bruch in den Fei­er­abend nebst »In­du­strie­sum­men« nach dem lee­ren Ge­bäu­de. Man be­kommt das Wort »Mit­ar­bei­ter« er­klärt und wird in die Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Be­to­nun­gen des Wor­tes »Mahl­zeit« ein­ge­weiht, be­vor die Va­ri­an­ten von Kau­rhyth­men und Schmatz­ge­räu­schen beim Kan­ti­nen­es­sen se­ziert wer­den. Köst­lich die Sze­ne­rien des an­schlie­ßen­den Mit­tag­schla­fes – ent­we­der auf dem dann nicht mehr ganz so stil­len Ört­chen oder ein­fach auf­recht sit­zend im Bü­ro. Es wird ge­raucht, aber er­staun­lich we­nig ge­trun­ken. Was­ser gilt als exo­ti­sches Ge­tränk, Kuhl­wein nimmt Nes­ca­fé, mehr aus Ge­wohn­heit.

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Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni

Ei­gent­lich sind es nur zwei. Al­so vier, näm­lich zwei­mal zwei. Zwei Fa­mi­ma, zwei Seh­bün, wie sie im Volks­mund hei­ßen. Wei­ter drü­ben ein drit­tes, Law­son, aber da kom­me ich sel­ten hin. Für mich ist es ei­ne El­lip­se, die ich durch­lau­fe. Mei­ne We­ge ha­ben un­ge­fähr die Form ei­ner El­lip­se, mit ei­nem Se­ven Ele­ven und ei­nem Fa­mi­ly Mart als Brenn­punk­ten und je ei­nem wei­te­ren Se­ven und Fa­mi an den äu­ßer­sten En­den der El­lip­se, die das Tal ist. In Wahr­heit ge­he ich aber oft auf der ge­ra­den Ver­bin­dungs­li­nie die­ser vier Punk­te. Im Win­ter eher auf der Ge­ra­den, im Som­mer auf der el­lip­ti­schen Au­ßen­li­nie, weil es dort am Abend, wenn es ein biß­chen ab­ge­kühlt hat, dun­kel ist und man die Ster­ne fun­keln se­hen und den Fluß rau­schen und die Frö­sche qua­ken hö­ren kann und sich nicht vom Strahl­licht der Kon­bi­nis, dem Blend­licht und dem Mo­to­ren­rau­schen der Au­tos be­drän­gen las­sen muß. Am Fluß­ufer, bei den Bam­bus­hai­nen und den Lo­tus­fel­dern, de­ren rie­si­ge Blät­ter hin und her schwan­ken oder still­ste­hen, ist der Wan­de­rer voll­kom­men al­lein, nie­mand stra­pa­ziert sei­ne Ner­ven, die Blend­lich­ter und Mo­to­ren­ge­räu­sche sind nur Ab­ar­ten des ho­hen Ge­fun­kels und des ewi­gen Rau­schens. Ta­guchi: ei­ne El­lip­se und ihr ova­les Feld, das die schla­fen­den Rei­her, die qua­ken­den Frö­sche, den letz­ten Wan­de­rer birgt.

Bild 1 - Von Konbini zu Konbini - © Leopold Federmair
Bild 1 – Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni – © Leo­pold Fe­der­mair

Die Kon­bi­nis sind al­le gleich, lan­des­weit. Al­so die zu ei­ner der Fir­men, der Ket­ten sind gleich, au­ßen wie in­nen, mehr oder we­ni­ger gleich, und auch die der ver­schie­de­nen Fir­men un­ter­schei­den sich nicht sehr von­ein­an­der, ob­wohl sie auf ihr spe­zi­el­les De­sign, ih­re kenn­zeich­nen­den Far­ben, Schrift­ty­pen und Lo­gos Wert le­gen. Fa­mi­ma ist blau-weiß-grün, Se­ven rot-weiß-grün-oran­ge, ein biß­chen strei­fi­ger und bun­ter als Fa­mi­ma. Die Fa­mi­ma-Kä­sten sind aus wei­ßen Plat­ten ge­baut, die Se­ven-Kä­sten aus hel­le­ren und dunk­le­ren oran­ge- oder ocker­far­be­nen Back­stei­nen. Vor­ne na­tür­lich Glas­front. Im Som­mer wird der Ka­sten ge­kühlt wie ein Kühl­schrank, im Win­ter warm­ge­hal­ten, au­ßer in der Nä­he der Fen­ster­schei­ben und der Tür, da dringt kal­te Luft ein. Im Se­ven kau­fe ich mei­stens ein Me­lo­nen­brot und ein Ge­tränk mit Yu­zu, Zi­tro­ne und So­da; im Fa­mi­ma Fa­mi­chickin und ein sü­ßes Boh­nen­pa­ste­te­bröt­chen; in bei­den gibt es im Win­ter Oden (Kon­y­a­ku und Ei­er und Fleisch­spieß­chen lie­gen in damp­fen­den Kes­sel­chen). Vor ei­ni­gen Jah­ren sind vie­le Kon­bi­nis mit ein paar Stüh­len (mei­stens vier) und ei­nem Wand­brett (Tisch wä­re zu­viel ge­sagt) so­wie ei­ner Selbst­be­die­nungs­kaf­fee­ma­schi­ne aus­ge­stat­tet wor­den. Es gibt Zei­ten, da sit­ze ich früh­mor­gens, wenn al­le Ca­fés und Ge­schäf­te ge­schlos­sen ha­ben, mit mei­nem No­tiz­heft oder Note­book dort, ei­nen Papp­be­cher Kaf­fee ne­ben mir. Um halb acht, un­ge­fähr, se­he ich die Ka­ra­wa­nen der Volks­schü­ler vor­bei­zie­hen; vor ei­ni­gen Jah­ren er­kann­te ich im­mer wie­der ein­mal mei­ne Toch­ter in so ei­nem Pulk (aber oft ist sie mir, buch­stäb­lich, ent­gan­gen). Sie hat mich nie ge­se­hen, auch nicht mein Fahr­rad, das ich in der Ecke zwi­schen Kon­bi­ni­wand und Reis­feld­zaun ab­stel­le wie ein Ver­bre­cher, der sich nicht ein­fan­gen las­sen darf.

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Durs Grün­bein: Jen­seits der Li­te­ra­tur

Durs Grünbein: Jenseits der Literatur
Durs Grün­bein:
Jen­seits der Li­te­ra­tur

Die so­ge­nann­ten Ox­ford Lec­tures am St. Anne’s Col­lege gibt es seit 1993. Es sind Ein­la­dungs­vor­le­sun­gen, in de­nen im wei­te­sten Sinn in­ter­dis­zi­pli­när über Li­te­ra­tur und de­ren Be­deu­tung re­flek­tiert wer­den soll. Fach­leu­te nen­nen das »Kom­pa­ra­ti­stik«. Ge­or­ge Stei­ner und Um­ber­to Eco ge­hör­ten zu den Vor­tra­gen­den wie auch Amos Oz, Ma­rio Var­gas Llosa und Bern­hard Schlink (der auf der Web­sei­te »Ber­nard« heißt). 2019 wur­de die­se Ein­la­dung Durs Grün­bein zu­teil. Die vier Vor­le­sun­gen lie­gen nun als Buch­form vor, was bei den Vor­le­sun­gen an­de­rer Au­toren bis­her eher sel­ten der Fall war.

Der Ti­tel »Jen­seits der Li­te­ra­tur« ist, wenn man am En­de al­les ge­le­sen hat, ein­leuch­tend. Er ist pro­gram­ma­tisch. Der in­ter­dis­zi­pli­nä­re An­satz wird von Grün­bein voll aus­ge­reizt. Zwi­schen­zeit­lich hat man eher das Ge­fühl in ei­nem Ge­schichts­se­mi­nar zu sit­zen. In der er­sten Vor­le­sung er­in­nert sich Grün­bein an die Hit­ler-Brief­mar­ken, die er einst in sei­nem Brief­mar­ken­al­bum sor­tiert hat­te. Es gab sie in vie­len Far­ben, je nach Wert. Be­reits da­mals stell­te sich ei­ne Mi­schung aus Gru­seln und Ehr­furcht ein. Er er­zählt kurz von ei­nem Made­lai­ne-Er­leb­nis, wenn er Brief­mar­ken­al­ben heu­te sieht um dann über die Mar­ke­ting- und Wer­be­stra­te­gien der Na­zis zu re­flek­tie­ren. Dann wird von ei­nem ge­wis­sen Ed­mund Kalb er­zählt, ei­nem öster­rei­chi­schen Ma­ler, er in ei­ner wil­den Mi­schung aus Que­ru­lan­ten- und Idio­ten­tum sei­nen per­sön­li­chen Wi­der­stand lei­ste­te, da­für ins Ge­fäng­nis kam und trotz­dem, wie durch ein Wun­der, über­leb­te. Kalb ist für Grün­bein ein Bart­le­by, der Schrei­ber aus Mel­vil­les No­vel­le (»I would pre­fer not to«).

Der Ma­ler ver­such­te mit sei­ner Fa­mi­lie aut­ark zu le­ben, vom An­bau in sei­nem Gar­ten, ver­edel­te er­folg­reich Bäu­me. Er ge­noss das Ge­fäng­nis, so­lan­ge er sei­ne Ru­he hat­te. Nach dem Krieg än­der­te er sich nicht. Grün­bein liest sei­ne Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen: »Ein­mal auf dem tief­sten Grund der Ir­ri­ta­ti­on, hält er den Ge­dan­ken fest: daß die viel­fäl­ti­gen Ge­füh­le, die ei­nem beim Wahr­neh­men der Welt be­glei­ten, nie im Wor­ten aus­zu­drucken sind – son­dern al­len­falls, hin und wie­der mit et­was Glück, mit Hil­fe von Zeich­nun­gen.« Ge­fühls­er­leb­nis­se sei­en, so Grün­bein Kalb zi­tie­rend, nicht an an­de­re »zu über­tra­gen und auf­zu­be­wah­ren.« Sie sei­en jen­seits der Li­te­ra­tur. Da­mit sind die Ko­or­di­na­ten für die wei­te­ren Tex­te vor­ge­ge­ben.

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Ge­or­ges Si­me­non: Tro­pen­kol­ler

Georges Simenon: Tropenkoller
Ge­or­ges Si­me­non:
Tro­pen­kol­ler

Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man ei­gent­lich »Le coup de lu­ne«, al­so un­ge­fähr »Mond­stich« – im Deut­schen hin­ge­gen zu­nächst »Tro­pen­fie­ber«, dann »Tro­pen­kol­ler«. Viel­leicht wür­de man das Buch an­ders le­sen, wenn der eher my­sti­sche Ori­gi­nal­ti­tel prä­zi­se über­setzt ge­wor­den wä­re. Aber die mit dem deut­schen Ti­tel ver­bun­de­ne Ent­my­sti­fi­zie­rung ist ei­gent­lich ganz gut.

Si­me­non hat­te den Ro­man bin­nen kur­zer Zeit – al­so wie im­mer – 1932 nach ei­ner Rei­se durch das ko­lo­nia­le Afri­ka für ein fran­zö­si­sches Ma­ga­zin ge­schrie­ben. Der schot­ti­sche Schrift­stel­ler Wil­liam Boyd weist in sei­nem kun­di­gen Nach­wort zu Recht dar­auf hin, dass man die­ses ha­sti­ge Ent­ste­hen dem Ro­man an­merkt. Es gibt Ab­schwei­fun­gen von der Ge­schich­te, die ins Nichts ver­lau­fen und bis­wei­len ei­ne stark dra­ma­ti­sie­ren­de Spra­che. Am stärk­sten hat mich die Un­ge­reimt­heit ge­stört, dass ge­gen En­de die Haupt­fi­gur Jo­seph Ti­mar plötz­lich ei­nen Re­vol­ver in der Ta­sche hat und nie­mand ge­nau weiß, wie der da her­ge­kom­men ist.

»Tro­pen­kol­ler« ist aber nicht nur in die­sem Punkt ein ty­pi­scher »ro­man durs« von Ge­or­ges Si­me­non, al­so ein Ro­man oh­ne sei­nen le­gen­dä­ren Kom­mis­sar Mai­gret. Ei­ne Tä­ter­jagd gibt es nicht; um Span­nung zu er­zeu­gen braucht es kei­ne Who­dun­nit-Kon­struk­ti­on. Der Tat­her­gang des Mor­des an ei­nen Schwar­zen ist schnell mehr oder we­ni­ger klar; das Mo­tiv wird früh prä­sen­tiert. Boyd weist dar­auf hin, dass die »Sto­ry« sel­ber nicht das mit­rei­ßen­de ist. Da­für be­sitzt der Ro­man ei­ne enor­me at­mo­sphä­ri­sche Ver­dich­tung der Stim­mung im ko­lo­nia­len Ga­bun der 1930er Jah­re, die enor­me Hit­ze, die Ge­rü­che, die Ein­tö­nig­keit des Le­bens dort, die Le­thar­gie der Prot­ago­ni­sten. Und vor al­lem geht es Si­me­non um die Aus­ge­stal­tung der Psy­che (und der Phy­sis) des 23jährigen Jo­seph. Er stammt aus wohl­ha­ben­dem Hau­se und wur­de von sei­nem On­kel nach Li­bre­ville, Ga­bun, ge­schickt. Dort soll er in ei­nem Un­ter­neh­men an­fan­gen, aber man weiß dort von ihm nichts (ein Sze­na­rio ähn­lich wie in »Die Schwar­ze von Pa­na­ma«, ein paar Jah­re spä­ter ge­schrie­ben). Die so­for­ti­ge Rück­rei­se nach Frank­reich ist nicht mög­lich (oder nicht ge­wollt, das bleibt un­klar).

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