Ku­re oder Wie man ei­ne Stadt doch noch ent­deckt

Ku­re. War­um nicht. Ich kann­te die Stadt na­tür­lich, hat­te mich ihr aber nie von hin­ten ge­nä­hert, im­mer nur von der Sei­te. Und ein­mal von vor­ne, bei der Rück­kehr aus Matsu­ya­ma, auf der Haupt­in­sel Shi­ko­ku, mit dem Schiff. Der Kö­nigs­weg um ei­ne Stadt am Meer ken­nen­zu­ler­nen, sagt man. Aber nicht je­de die­ser Städ­te trägt ein so of­fe­nes Ge­sicht wie Ve­ne­dig, vie­le ver­schlie­ßen sich, sie er­war­ten kei­ne wohl­wol­len­den Be­su­cher, son­dern Ge­fah­ren, Tai­fu­ne, Spring­flu­ten, Feuch­tig­keit, feind­li­che Schif­fe.

So war es auch, als ich Ca­ta­nia ken­nen­lern­te, die Stadt in Si­zi­li­en, am Fuß des Ät­na hin­ge­streckt. Die Flan­ke des Vul­kans steigt lang­sam und ste­tig an – und um­ge­kehrt, man geht den Weg hin­un­ter, dem Meer zu, das man von wei­ter oben sehr schön se­hen kann, aber wei­ter un­ten sind dann Ge­bäu­de da­vor, nur noch Him­mel dar­über. Als ich das er­ste Mal nach Ca­ta­nia kam, such­te ich nach dem Meer, aber je wei­ter ich in die Rich­tung mar­schier­te, in der es lie­gen muß­te, de­sto häß­li­cher und be­droh­li­cher wur­de die Ge­gend. Mit wei­chen Knien kehr­te ich um, nach­dem mir ein dicker Mann auf ei­nem stot­tern­den Mo­fa ent­ge­gen­ge­kom­men war, bö­se Gri­mas­se schnei­dend, ein­hän­dig fah­rend, mit der an­de­ren Hand Schlä­ge ge­gen mich aus­tei­lend, die mich nicht er­reich­ten und den­noch tra­fen. Nein, die Ge­gen­den zum Meer hin sind nicht im­mer herz­er­fri­schend. Vie­le Städ­te wen­den sich vom Meer ab und zie­hen Schutz­vor­rich­tun­gen ge­gen die er­wähn­ten Ge­fah­ren hoch. Nur Ur­lau­ber aus Bin­nen­län­dern den­ken im­mer, am Meer müs­se es am schön­sten sein. Sie ken­nen das Meer, sei­ne Lau­nen und sei­ne Ge­walt nicht. Mar­seil­le ist ei­ne Aus­nah­me, ge­wiß. Auch Bar­ce­lo­na… Es gibt vie­le Aus­nah­men, of­fe­ne Städ­te – schon siehst du dich die Ca­ne­biè­re hin­un­ter­schlen­dern, bis sie in den Al­ten Ha­fen mün­det, am Kai setzt du dich auf die Ter­ras­se ei­nes Ca­fés, war­test auf die Meer­jung­frau, von der du bei Yo­ko Ta­wa­da ge­le­sen hast…

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El­ler­stra­ße, Düs­sel­dorf

Der sich im Wind wie­gen­de Gras­halm, dunk­les, kräf­ti­ges Grün,
da­ne­ben der gel­be Lö­wen­zahn, klim­pern­de Au­to­schlüs­sel.

In den Be­ton­rit­zen des Kopf­stein­pfla­sters schla­fen­de
Zi­ga­ret­ten­stum­mel; klei­ne Mu­mi­en, dun­kel­gelb zwi­schen grau; wü­sten­ok­ka;
ein Ka­mel lugt von ei­ner weg­ge­wor­fe­nen Zi­ga­ret­ten­packung her­vor.

Der auch hier schwer tra­gen­de Bau­ar­bei­ter, der Mann mit Zan­ge und
blau­er Ho­se und da­zwi­schen im­mer wie­der Kin­der an den Hän­den von
Müt­tern, die Kin­der­wa­gen schie­ben.

Von über­all her­ab­hän­gen­de Ta­schen mit Lauch; Pe­ter­si­lie und Gur­ken.
Die Do­mi­nanz der Far­be Grün bei den in den Pla­stik­tü­ten
trans­por­tier­ten Wa­ren.

Der vor ei­nem Klin­gel­schild ste­hen­de Mann mit ei­ner schwar­zen
Trai­nings­ta­sche in der rech­ten Hand. Sein den Na­mens­dschun­gel
durch­käm­men­der Blick; end­lich das er­lö­sen­de Sur­ren, das Auf­drücken
der Tür, ich ha­be et­was für dich und das will ich dir ge­ben.

Das mit ei­ner Ab­deckung ver­se­he­ne Mo­tor­rad, grau; oh schlaft ihr
Mo­to­ren, schlaft ein. Der dar­aus her­vor­schau­en­de Spie­gel, als Au­ge,
als Hin­weis: Mich wird es im­mer ge­ben und: Ich se­he dich.

Das Er­tö­nen des Ge­räu­sches ei­ner Rat­sche, »oh, oh, da musst du
vor­sich­tig sein. Die sind fest. Da kannst du nicht run­ter­fal­len«.

Ein Hund bellt, et­was fiept, sich zu­zie­hen­de Din­ge, Roh­re,
Was­ser­lei­tun­gen; im­mer noch Ju­stie­rungs­ge­räu­sche.

Der Pa­ket­bo­te und sein Pa­ketturm; ein Ba­lan­ce­akt, ei­ne ar­ti­sti­sche
Dar­bie­tung. Die auch ihn er­lö­sen­den Surr­ge­räu­sche des Tür­öff­ners,
der Wi­der­hall des Sir­rens sei­nes Pa­ket­scan­ners im Ein­gangs­flur, sein
schnel­ler Schritt beim Ab­gang.

Ein Stuhl, ein Tisch, ein Ra­be, ein klar ge­stal­te­ter Bal­kon; dar­un­ter auf
dem Bür­ger­steig ein Jun­ge mit sei­nem Va­ter, aus des­sen Ta­sche die
Ge­räu­sche ei­nes Schafs kom­men; »Ich glau­be, wir ha­ben hier ein
Schaf«.

Die Va­ria­tio­nen der Men­schen beim Ge­hen, ein Schlei­chen, ein
Schlei­fen, ein stöh­nen­des Ge­hen, ein Tap­sen, ein Trip­peln;
Vo­gel­ge­zwit­scher, das sich jetzt in die Ge­räu­sche der Rat­sche mischt.

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Ge­or­ges Si­me­non: Bet­ty

Georges Simenon: Betty
Ge­or­ges Si­me­non: Bet­ty

Éli­sa­beth Étam­ble, ge­bo­re­ne Fay­et, ge­nannt Bet­ty, 28 Jah­re, oh­ne Be­ruf, wohn­haft in Pa­ris, fin­det sich plötz­lich im »Trou«, ei­ner Mi­schung aus Knei­pe und Bi­stro, mit »Ausländer[n] oder Fran­zo­sen, die zwi­schen Ver­sailles und Saint-Ger­main woh­nen, ir­gend­wo bei Mar­ly, Lou­ve­ci­en­nes und Bou­gi­val«, Le­bens­künst­lern und bis­wei­len rich­ti­gen »Spin­nern« wie­der. Das Re­stau­rant bie­tet täg­lich ein Ge­richt zum Abend­essen, da­zu wahl­wei­se Chi­an­ti oder Whis­ky. Bet­tys Er­in­ne­run­gen an die letz­ten Ta­ge sind bruch­stück­haft und es geht dem Le­ser wie der Haupt­fi­gur: Man kommt zu­nächst nicht so recht hin­ein in Ge­or­ges Si­me­nons »Bet­ty«.

Dia­lo­ge und Mo­no­lo­ge, die erst spä­ter ver­ständ­lich wer­den, die som­nam­bu­le, wahr­neh­mungs­ge­stör­te Bet­ty, der schein­bar nicht auf­hö­ren­de, pras­seln­de Re­gen so­zu­sa­gen als Be­gleit­mu­sik. Et­li­che Prot­ago­ni­sten des »Trou« woh­nen im »Ho­tel Carl­ton« in Ver­sailles, so auch Lau­re La­van­cher, die Wit­we ei­nes Me­di­zin­pro­fes­sors aus Ly­on oder Ma­rio, dem das »Trou« ge­hört und der Lau­res Lieb­ha­ber ist. Sie küm­mern sich um die kör­per­lich und psy­chisch ge­schwäch­te Bet­ty, die vor ei­ni­gen Ta­gen ih­ren Mann Guy, dem Sohn ei­nes be­kann­ten Ge­ne­rals, nebst den bei­den Töch­tern (4 Jah­re und 19 Mo­na­te) ver­las­sen hat­te.

Die Um­stän­de ent­hül­len sich dem Le­ser (und mit ihm auch Bet­ty sel­ber) erst nach und nach. Bet­ty war in fla­gran­ti mit ei­nem Lieb­ha­ber er­wischt wor­den. Für die Of­fi­ziers­fa­mi­lie, die ge­sell­schaft­lich noch im 19. Jahr­hun­dert zu le­ben scheint, gibt es nur ei­ne Re­ak­ti­on: Ver­ban­nung und der voll­kom­me­ne Ver­zicht Bet­tys auf die Kin­der; frei­lich mit ei­nem groß­zü­gi­gen, fi­nan­zi­el­len An­ge­bot.

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Ul­ri­ke Ed­schmid: Le­vys Te­sta­ment

Ulrike Edschmid: Levys Testament
Ul­ri­ke Ed­schmid:
Le­vys Te­sta­ment

Win­ter 1972. Die Ich-Er­zäh­le­rin aus Ul­ri­ke Ed­schmids Ro­man »Le­vys Te­sta­ment« macht sich zu­sam­men mit ei­ni­gen an­de­ren Stu­den­ten der Ber­li­ner Film­aka­de­mie auf nach Lon­don zu der Grup­pe »Ci­ne­ma Ac­tion«, die un­ter an­de­rem mit Fil­men über den Pa­ri­ser Mai 1968 auf­ge­fal­len war. So­fort ist man in der Lon­do­ner An­ar­chi­sten­sze­ne, bei der »An­gry Bri­ga­de«, die mit ih­ren An­schlä­gen (» ‘Wir grei­fen Be­sitz an, nicht Men­schen‘«) für Fu­ro­re sor­gen. Acht Ak­ti­vi­sten sind seit 1971 im Ge­fäng­nis, man nennt sie die »Sto­ke Ne­wing­ton Eight«. Jetzt ste­hen sie vor Ge­richt. An Kü­chen­ti­schen wer­den So­li­da­ri­ät­s­adres­sen ver­fasst. »Trau­er, Ohn­macht und Pro­test«. Der Pro­zess wird be­sucht. Und hier lernt die Er­zäh­le­rin ih­ren »Eng­län­der« ken­nen.

Sie be­wun­dern die Ver­lo­ren­heit der An­ge­klag­ten aber auch de­ren Elo­quenz, die sich »nicht aus Ideo­lo­gien« speist, son­dern aus den An­lie­gen sel­ber. Sie sind ge­stän­dig, aber nicht reu­mü­tig, er­klä­ren ih­re Mo­ti­va­ti­on. Ih­nen sei klar, dass sie mir ih­ren An­schlä­gen nicht die Welt ver­än­dern könn­ten. Weil da­mals in Groß­bri­tan­ni­en al­ler­dings Ge­walt ge­gen Sa­chen auf der glei­chen (oder so­gar ei­ner hö­he­ren Stu­fe) stand wie Ge­walt ge­gen Per­so­nen, ha­ben vier von ih­nen kei­ne Chan­ce. Sie er­hal­ten zehn Jah­re Ge­fäng­nis. Die an­de­ren kom­men frei.

Die Er­zäh­le­rin und der Eng­län­der wer­den ein Paar. Er ist der Sohn jü­di­scher El­tern. Die Mut­ter No­rah, klag­te zeit ih­res Le­bens um ih­re ver­lo­re­ne Ju­gend, als sie als äl­te­ste Toch­ter für die Ge­schwi­ster sor­gen muss. Sie ver­kauft ir­gend­wann Schu­he. Ih­rem Sohn sagt sie rau­nend, dass er nie da­zu­ge­hö­ren wird. Auch die gu­ten Schul­no­ten und spä­ter der Uni-Ab­schluss wür­den dar­an nichts än­dern. Aber war­um? Der Va­ter, »Gin­ger Joe«, han­del­te mit bil­li­gen Klei­dern. Als er da­mit schei­tert, fährt er Ta­xi. In den 1970ern le­ben sie in ei­ner So­zi­al­bau­woh­nung. Wenn ir­gend­wie mög­lich, be­su­chen Va­ter und Sohn die Heim­spie­le des Fuß­ball­ver­eins Tot­ten­ham Hot­spurs. Der Eng­län­der wird die­sen Ver­ein für im­mer lie­ben. Hin­zu kom­men dann die Rol­ling Stones. Und ein biss­chen Bob Dy­lan. Aber, und das sagt er ihm kurz vor sei­nem Tod, vor al­lem sei­nen Va­ter. Es ist die er­grei­fend­ste Stel­le im Buch.

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Nach­ge­tra­gen

»Wenn je­mand ei­ne Rei­se tut, so kann er was er­zäh­len…«, so lau­tet ein Volks­lied von Mat­thi­as Clau­di­us. Mi­cha­el Mar­tens kann auch et­was er­zäh­len, wenn er kei­ne Rei­se »tut«.

Und so »be­rich­tet« er al­so von Pe­ter Hand­kes Rei­sen nach Ser­bi­en und zur Re­pu­bli­ka Srps­ka im Mai 2021. Der Nicht-Oh­ren-und-Au­gen­zeu­ge Mar­tens weiß er­staun­li­cher­wei­se al­les. Gleich zu Be­ginn wird deut­lich, dass Hand­ke nicht ein­fach nur ei­ne Rei­se un­ter­nom­men hat, son­dern ei­ne »Ju­bel­tour­nee«. Und dass er die Or­den in Ban­ja Lu­ka, die er be­kam, mit dem Wor­ten »Dies ist ein gro­ßer Au­gen­blick für mich« kom­men­tiert hat­te. Er weiß mit wem sich Hand­ke ei­nig war, was man be­spro­chen hat, dass er ein Fuß­ball­tri­kot von Par­tizan Bel­grad »stolz« ge­tra­gen hat (so wie einst das von »Ro­ter Stern Bel­grad«? – bit­te, Herr Mar­tens, ich bren­ne auf die Ant­wort). Wenn Hand­ke von »Volk« re­de, so er­in­ne­re dies an den »Höcke-Flü­gel« der AfD. Was er nicht weiß, ist wie Hand­ke den Be­griff »Volk« ver­wen­det1. Wie soll­te er auch, denn da­für hät­te man sich mit dem Werk aus­ein­an­der­set­zen müs­sen.

Aus der Hand­ke-Re­de in Više­grad an­läss­lich des Ivo-An­drić-Prei­ses2 zi­tiert Mar­tens zwei Stel­len – und lässt den ent­schei­den­den Satz weg. Mei­nes Wis­sens er­wähn­te ihn nur Mla­den Gla­dić in sei­ner Be­richt­erstat­tung für die »Welt« – im In­ter­net hin­ter ei­ner Be­zahl­schran­ke sorg­sam ver­wahrt. Da­her soll – mit aus­drück­li­cher Ge­neh­mi­gung der Be­tei­lig­ten – Pe­ter Hand­kes spon­ta­ne Re­de vom 7. Mai 2021 in Više­grad in ei­ner Tran­skrip­ti­on von Žar­ko Rad­ako­vić hier ab­ge­druckt wer­den3:

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  1. Darüber gibt es seit den 1980er Jahren vielschichtige literaturwissenschaftliche Studien. Meine Gedanken dazu findet man hier: https://mirabilis-verlag.de/produkt/lothar-struck-erzaehler-leser-traeumer-begleitschreiben-zum-werk-von-peter-handke/ 

  2. Anlass war die serbische Übersetzung von "Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“ von Žarko Radaković "Drugi mač. Majska povest". Es wurde als Buch des Jahres 2020 in Serbien und Republika Srpska mit dem "Ivo Andrić Preis" ausgezeichnet. Peter Handke reiste am 7. Mai 2021 nach Višegrad, um den Preis persönlich entgegenzunehmen. Der andere Laureat, der serbische Schriftsteller Milovan Danojlić, war aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Višegrad gekommen. 

  3. Handke hielt die Rede auf Deutsch; die Original-Aufnahme liegt mir vor 

Mar­cel Proust: Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber

Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber
Mar­cel Proust:
Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber

Aus dem Nach­lass des 2018 ver­stor­be­nen Ver­le­gers und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Ber­nard de Fallois fan­den sich neun frü­he Er­zäh­lun­gen von Mar­cel Proust, da­von acht bis­her un­ver­öf­fent­lich­te, die der Suhr­kamp Ver­lag über­setzt von Bern­hard Schwibs nun im Band »Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber« pas­send zum 150. Ge­burts­tag des Schrift­stel­lers in ei­nem präch­ti­gen Band vor­legt. Edi­tiert wur­de der Band von Luc Fraisse, Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät in Straß­burg. Es be­ginnt mit ei­ner um­fas­sen­den Ein­füh­rung, in der auch die Um­stän­de der Ent­deckung be­leuch­tet wer­den. Je­dem Text wird zu­sätz­lich noch ein­mal in Kur­siv­schrift der Re­fe­renz­rah­men in­ner­halb des Proust’schen Wer­kes vor­an­ge­stellt und, so­weit mög­lich, die Ge­ne­se des Tex­tes er­läu­tert. Ein­fü­gun­gen, Strei­chun­gen und Kor­rek­tu­ren Prousts sind in den Fuß­no­ten auf­ge­führt.

Ein kon­kre­tes Ent­ste­hungs­da­tum wird nicht ge­nannt, ver­mut­lich, weil die Tex­te nicht ent­spre­chend ge­kenn­zeich­net sind. Sie sol­len par­al­lel zur Er­zäh­lung »Der Gleich­gül­ti­ge« ver­fasst wor­den sein, al­so um 1896 (da war Proust 25 Jah­re alt).Der Grund, war­um Mar­cel Proust die­se Er­zäh­lun­gen un­ter Ver­schluss ge­hal­ten hat­te, liegt bei al­ler Spe­ku­la­ti­on für Fraisse auf der Hand: Das Haupt­the­ma, das hier »ver­han­delt« wer­de, sei Ho­mo­se­xua­li­tät. Der jun­ge Au­tor zog es vor, die für die da­ma­li­ge Zeit »wohl zu skan­dal­träch­ti­gen Tex­te« ge­heim zu hal­ten. Der um­fang­rei­che Re­fe­ren­z­ap­pa­rat er­klärt je­doch, dass For­mu­lie­run­gen und vor al­lem Mo­ti­ve die­ser Tex­te in spä­te­ren Ro­ma­nen, vor al­lem je­doch in der »Re­cher­che« durch­aus Ver­wen­dung fin­den.

Wer sich un­mit­tel­bar auf die fun­keln­de poe­ti­sche Kraft Prousts, die auch in die­sen bis­wei­len frag­men­ta­ri­schen Tex­ten her­vor­leuch­tet, ein­las­sen möch­te, le­se zu­nächst die Tex­te sel­ber oh­ne jeg­li­che Ein­füh­rung und Ein­ord­nun­gen (und igno­rie­re, wenn mög­lich, auch die Fuß­no­ten). Das gilt ins­be­son­de­re für die ti­tel­ge­ben­de Er­zäh­lung »Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber« (zu­dem hier in den Er­läu­te­run­gen der Spoi­ler er­läu­tert wird, dem Proust un­ter­lau­fen war) und »Er­in­ne­rung ei­nes Haupt­manns«. Letz­te­re wur­de als ein­zi­ge be­reits ein­mal ver­öf­fent­licht, im Jahr 1952. Im Band steht sie re­kon­stru­iert aus dem vor­lie­gen­den Ma­nu­skript von Proust.

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Jür­gen Bro­koff: Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang

Im Rah­men der Rei­he »Klei­ne Schrif­ten zur li­te­ra­ri­schen Äs­the­tik und Her­me­neu­tik« im Wal­l­­stein-Ver­­lag ist als Band 7 Jür­gen Bro­koffs Stu­die »Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang« er­schie­nen. Zu­nächst ist man ob des Ti­tels ver­blüfft, um dann rasch fest­zu­stel­len, dass es tat­säch­lich um zwei Er­eig­nis­se der Li­te­ra­tur­re­zep­ti­on der Bun­des­re­pu­blik han­delt, die in­zwi­schen fast 30 Jah­re zu­rück­lie­gen. Ana­ly­siert wird zum ...

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Die Schu­he von Eta­ji­ma

Die In­sel Eta­ji­ma hat ei­ne be­trächt­li­che Aus­deh­nung (wenn ich nicht ir­re, ist es die größ­te In­sel der In­lands­see), ist aber selt­sam zer­ris­sen, so als be­stün­de sie aus meh­re­ren über­ein­an­der­ge­wor­fe­nen Halb­in­seln und Land­zun­gen, die nach al­len Rich­tun­gen ans Meer lecken. Ab­ge­se­hen da­von, daß man beim Wan­dern oder Rad­fah­ren gern mal die Ori­en­tie­rung ver­liert, stellt sich die Fra­ge der An­rei­se. Soll ich, aus dem Osten kom­mend, mit der Stra­ßen­bahn zum Ha­fen von Hi­ro­shi­ma fah­ren und dort ei­ne Fäh­re neh­men? Oder nach Ku­re fah­ren, was mit öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln um­ständ­lich ist, und dort ei­nen Bus neh­men oder gar ein Ta­xi, um an die süd­west­li­che Flan­ke der In­sel zu ge­lan­gen? Von die­ser Sei­te kann man auf Rä­dern, über Brücken, von In­sel zu In­sel, nach Eta­ji­ma rei­sen (die Schiffs­li­ni­en dort wur­den vor lan­ger Zeit ein­ge­stellt).

Nun, es ist klar, ich be­ge­be mich für mein Le­ben gern auf klei­ne, mit­un­ter auch grö­ße­re Schiffs­rei­sen, und zum Glück geht von Uji­na, dem Ha­fen von Hi­ro­shi­ma, ein Boot nach Ko­you, von wo man zu Fuß zur Ma­ri­ne­schu­le ge­hen kann. Auf der Fahrt las­se ich mich von den Wel­len schau­keln und wie­gen wie ein Gau­cho auf dem Pfer­de­rücken in der fla­chen Pam­pa. Das sind so mei­ne Il­lu­sio­nen und Freu­den, freu­di­gen Il­lu­sio­nen, die mich in die Welt Mon­tai­gnes zu­rück- oder vor­wärts­füh­ren, zu­rück und vor­wärts, wo man die­sem Rock’n‘Roll noch ein rech­tes Lob­lied sin­gen konn­te.

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