Doch noch, ein letztes Mal, (versprochen!)...
Ertappe mich bei immer grösserer Wut. Ein Land wie Deutschland ist nicht in der Lage, Schutzausrüstung für Krankenhäuser und Masken für die Zivilbevölkerung zu beschaffen. Stattdessen gibt es lächerliche Tips bspw. für das »Home Office«. Das RKI verbreitete sogar die Mär, das Masken gar nicht helfen. Das ist schon gezielte Desinformation, die willig von tagesschau.de verbreitet wurde. Fake-News, die kein Medienportal thematisiert.
In den Hauptnachrichtensendungen fast euphorisch die Informationen über die bald zusammenbrechenden Gesundheitssysteme in GB, den USA oder sonstwo. Die unsägliche Dittert gestern aus London. Natürlich ist Johnson ein Vollidiot, aber die Häme über das demnächst überforderte Gesundheitssystem ist widerlich. Man sollte vor der eigenen Türe kehren.
Mit dem letzten Buch von Byung-Chul Han hatte ich meine Schwierigkeiten. Sein Text in der WELT zum Virus (Bezahlschranke – lohnt sich, einen Monat kostenlos zu buchen), ist trotz einiger steiler Thesen (oder gerade wegen ihr?) aufschlussreich.
Zunächst beschreibt er, wie die digitale Überwachung in China und Korea effizient hilft. Das aus seinem Mund! Dann geht es kurz um Atemschutzmasken. Han ist verwundert, dass es die hier immer noch nicht gibt. Nicht nur er.
Danach stösst er wieder in sein digitalkritisches Horn:
Unsere panische Reaktion auf das Virus legt dieses existentielle Fundament unserer Gesellschaft bloß. Das Virus macht den Tod wieder so sichtbar, den wir ins Unsichtbare verbannt zu haben glaubten. Angesichts der drohenden Gefahr des Todes opfern wir bereitwillig alles, was das Leben doch lebenswert macht. […] Die Gesellschaft des Überlebens zeigt nun ihre unmenschlichen Züge. Der andere ist in erster Linie potentieller Virusträger, vom dem man Abstand zu nehmen hat, der mein Überleben gefährdet. Dem Kampf ums Überleben ist die Sorge ums gute Leben entgegenzusetzen. Sonst wird das Leben nach der Epidemie mehr Überleben als vor der Epidemie. Dann gleichen wir selbst dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, nur überlebt, ohne zu leben.
Seine Zukunftsprognose macht auch nicht mehr Hoffnung:
China wird seinen digitalen Überwachungsstaat nun auch als Erfolgsmodell gegen die Epidemie verkaufen. China wird die Überlegenheit seines Systems mit noch mehr Stolz demonstrieren. Und nach der Epidemie wird der Kapitalismus mit noch mehr Wucht weitergehen. Und Touristen werden den Planeten weiterhin tottrampeln. Das Virus kann die Vernunft nicht ersetzen. Darüber hinaus bekommen wir im Westen womöglich auch noch den digitalen Überwachungsstaat à la China.
Und:
Die Solidarität, voneinander Abstand zu nehmen, ist keine Solidarität, die von einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen ließe.
Ich werde nachdenklich.
Neulich gelesen, dass die europäische Öffentlichkeit und deren politische Vertreter für eine solche Krise nicht mehr geeignet ist. Ich glaube das auch. Ihr fehlt Ausdauer. Und Abstraktionsvermögen. Die Ausgangsbeschränkungen sind notwendig, aber mehr als das hat man nicht. Produkte einer politischen Hilflosigkeit. Versäumnisse werden camoufliert. Das ist normal. Aber es gibt nach wie vor keine Aktionen. Und was macht man nach vier Wochen? Planlosigkeit. Wer diese Frage stellt, wird als »Verunsicherer« denunziert. Das erinnert tatsächlich bisweilen schon an Orwell.
Gesucht im Bücherschrank: »Tagebuch einer Überlebenden« von Doris Lessing. Nicht gefunden. Dunkle Erinnerung dann, es entsorgt zu haben. Die beschriebenen gesellschaftlichen Verwerfungen nach einer nicht benannten Katastrophe damals für unmöglich gehalten. Waren das noch Zeiten, als man an das Gute geglaubt hat.
In den Medien, insbesondere im Fernsehen, wird der Erregungspegel hoch gehalten. Jeden Abend Sondersendungen. Es ist klar, warum. Auf RTL eine »Quarantäne-WG«: Gottschalk, Jauch und der infizierte Pocher je von zu Hause aus mit ganz vielen Promis, die ihren Dreck absondern dürfen. Beim Channelcrossing gestern Toni Kross. Der verdient 21 Millionen Euro im Jahr. Ein Sänger musste seine Tournee absagen. Ja, schlimm, auch für all die Leute, die (vermutlich mit Billiglöhnen) mitarbeiten. Aber warum glaubt man eigentlich, dass mich die »Schicksale« dieser Leute interessieren? Warum glaubt man, dass mich die Aussagen des 54. Virologen neugierig machen? Die richtigen Fragen stellt niemand. Siehe oben: »Verunsicherer«.
Twitter erstaunlich. Wenn man eine ausgewogene Timeline hat. Aber Zeitfresser.
Bei einigen liegen die Nerven blank.
Gestern Nacht einige Gedichte von Fabjan Hafner gelesen. Überwältigt.
Ich hätte allerdings nichts dagegen, wenn diese Serie fortgesetzt werden würde.
Lose Fäden aus Südafrika:
Seit anderthalb Wochen nationaler Notstand, bisher eher harmlos, aber ab Freitag 0 Uhr wird’s heftig – das Land wird für 3 Wochen, also bis zum 16. April, stillgelegt. Ausnahmen nur für versorgungswichtige Einrichtungen und Betriebe. Banken, Supermärkte und medizinische Versorgung bleiben offen. Natürlich Hausarrest für jedermann und zur Überwachung und Einhaltung der präsidentialen Verfügung wird das ganze zusätzlich zu den üblichen Sicherheitskräften (Polizei und private Sicherheitsdienste) das Militär eingesetzt.
Tochter mit Mann hängen momentan in Namibia fest. Wollten eigentlich am 28. zu uns kommen, woraus natürlich jetzt nix wird. Stattdessen versuchen sie einen Weg zu finden, aus Namibia zurück nach Deutschland zu kommen. Die Auskünfte der Botschaft sind da momentan sehr vage. Naja, ist für sie z.Zt. in Namibia angenehmer als in Deutschland.
Unser neuer Hund wird uns ab Freitag dann vergeblich zu dem täglichen Strandspaziergang auffordern, voller Unverständnis, dass er nun in den Garten sch... soll. Ja, neuer Hund, denn die Olga hat Ende letzten Jahres ihr Hundeleben altersschwach beendet.
(Entschuldigung, ist ja eigentlich kein Kommentar, aber unter »lose Fäden« eventuell akzeptabel.)
Ich darf mich, in Bezug auf Han, selbst zitieren:
»[...] Ich bemerke diese Fremdbestimmung auch anderswo, z.B. kamen meine Nichte und mein Neffe heute vorbei, standen im Garten, aber eine Art fremder Befehl – und die Gegenwart meines Bruders – verhinderte die gewohnte Begrüßung, wir blieben auf Distanz. Das mag vernünftig sein; da ich selbst gerade verkühlt bin, hätte ich vielleicht gesagt: Kommt mir nicht zu nahe, ich bin krank. Dazu kam es aber nicht. Mein Neffe hätte gerne eine begonnene Arbeit fortgesetzt, das verhinderten die Umstände, ich musste eine kindliche Regung zurückweisen, eine die ich nicht nur schätze, sondern eine, die sehr viel mit unserer Beziehung zu tun hat (ich meinte auch zu sehen, dass die beiden Kinder mich vermissen). [...]«
Alle, die in Sozialberufen tätig sind, dürften das zuerst zu spüren begonnen haben, denn körperliche Nähe tröstet und das Bedürfnis jemanden zu trösten gerät in einen Konflikt mit der verordneten Distanz. — Ist nicht der Mangel, der gegenwärtig offenbar wird, dass viele keinen inneren Zustand von Gelassenheit (mehr) besitzen, den sie den äußeren Zuständen – Hysterie, Pandemie, was auch immer – entgegensetzen können, der als eine Art Puffer wirkt und wirken kann? Es ist nicht die Vernunft, nein es ist das Widerlager, an dem es mangelt. Ich habe meinen Arbeitskollegen geraten, die Hygieneregeln zu beachten, etwas genauer als sonst. Und sich nicht aus de Ruhe bringen lassen. Fertig. Die Vernunft, die zur Vorsicht mahnt, die Sicherheit herstellen will und die diffusen, unbemerkten Ängste ziehen am selben Strang.
Han leugnet nicht die Pandemie und die Opferzahlen. Er analysiert, warum Länder wie China und Südkorea durch schnelles und bei uns aus Datenschutzgründen unmögliches Handeln die Angelegenheit weitgehend in den Griff bekommen haben. Dagegen sind die etwas eingeschränkten sozialen Kontakte Peanuts.
Han leugnet nicht die Pandemie und die Opferzahlen.
Das hat niemand behauptet.
Dagegen sind die etwas eingeschränkten sozialen Kontakte Peanuts.
Mir ist es des Utilitarismus’ zu viel, wenn alte Menschen plötzlich ohne Heimpflegepersonal dastehen und es sogar dazu kommt, dass Krebstherapien unterbrochen und Paliativbetten storniert werden, egal wo da in der Maßnahmenkette der »Fehler« zu lokalisieren ist, ganz zu schweigen von vielen anderen Operationen. Oder anders: Die Peanutsentscheidung liegt da bei den Betroffenen. Han schrieb ja auch, »die Solidarität, voneinander Abstand zu nehmen, ist keine Solidarität, die von einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen ließe.«
In Österreich wurden der vermeintlichen Vogelgrippe wegen, bei Bundesheer Maskenbestände angelegt, allerdings sind diese mittlerweile abgelaufen. Womöglich hatte diese Fehlanschaffung, die in anderen Ländern wohl in vergleichbarer Weise erfolgte, Auswirkungen auf die danach getätigten bzw. nicht getätigten Anschaffungen.
Johnson mag ein Vollidiot sein, aber COVID-19 gilt in GB nicht mehr als »High consequence infectious diseases« und das Advisory Committee on Dangerous Pathogens sieht die politische Verantwortung hinsichtlich der Maßnahmen und Empfehlungen als für erfüllt an.
Bitte lass es gut sein. Ich habe andere Prioritäten als die Briten zu analysieren.
Der Satz »Die Solidarität, voneinander Abstand zu nehmen, [...]« muss wohl im Kontext verstanden werden. Falls der Kontext die gewählte Formulierung nicht erzwingt, könnte dort aber auch stehen:
»Die Solidarität, voneinander vorübergehend räumliche Distanz zu halten, ist keine Solidarität, die von einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen ließe.«
Der Wahrheitsgehalt dieser modifizierten Aussage erschließt sich plötzlich nicht mehr so einfach.
Es könnte auch stehen:
»Die Solidarität, voneinander vorübergehend räumliche Distanz zu halten, ist eine Solidarität um in Zukunft weiterhin von einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen zu können.«
Damit ist die Entkleidung des originalen Satzes vollendet.
Der Text Hans mäandert. Zunächst wird gezeigt, wie man in China und Südkorea mittels Apps die Pandemie dahingehend in den Griff bekommt bzw. bekommen möchte, dass sich die Menschen praktisch zu nackten, permanent überwachten Subjekten machen. Han, der das Digitale ja freundlich ausgedrückt negativ bewertet, spricht davon durchaus anerkennend. Fast könnte man meinen, dass er dies den sogenannten Ausgangssperren (oder Kontaktsperren) vorzieht. Obwohl es doch eigentlich seinem Denken widerspricht.
Gestern in der phoenix-Runde u. a. Shi Ming, ein chinesischer Journalist (mit übrigens vollkommen akzentfreiem Deutsch). Er ist kein Adept des Regimes und sieht die Sache mit China als Virus-Bezwinger und Gewinner der Krise deutlich skeptischer. Anfangs habe die lokale Führung das Virus verharmlost, die bürokratischen Wege waren sehr verworren. Dann die einschneidenden Maßnahmen. Das Vertrauen der Bevölkerung in das Regime wackele (was er im Masken-Gebrauch glaubt festzumachen) und es gebe auch innerhalb der KP divergierende Strömungen. Leiser Protest zeige sich auch im Netz; er wird derzeit nicht zensiert. Als einziger in der Runde (es war auch ein Virologe per Skype zugeschaltet, der allerdings infiziert ist) problematisierte Shi Ming die Möglichkeit eines »zweiten Peaks«, wenn man zu früh zur Normalität ginge. Dann wäre das Vertrauen in die politische Kaste vollends verspielt.
Hans kapitalismus- und hedonismuskritische Volten verpuffen m. E. wenn er eine Gesellschaft heraufbeschwört, die sich wie das Virus nur noch vermehrt und nicht mehr lebt. In Hans letztem Buch bekommt man eine kleine Idee davon, was er mit »Leben« meint.
Geht in Ordnung. Ist ein Vorschlag zu einem weiteren politischen Vorgehen, im Sinn eines Konsens’, akzeptabel?
Es kommt darauf an, was unter »voneinander vorübergehend räumliche Distanz [...] halten« verstanden wird. Als Metapher ist der Satz – wie richtig angemerkt wurde – sehr elastisch. Trotz unterschiedlicher Realitätseinschätzung, sind die politischen Maßnahmen für alle Realität; erträglich und sinnvoll sind sie, durchaus im Sinn eines Mehr an Gerechtigkeit, wenn sie sich an einem breiten, einsehbaren Konsens orientieren, der eine ebensolche Realitätseinschätzung beinhaltet, die sich zu keinem fiktiven Extrem hinneigt (sich zu irren, bleibt daher eine [eingrenzbare] Möglichkeit). Das Gebot der Distanz wirkt negativ im jeweiligen Alltag, den jeweiligen Lebensrealitäten; vorübergehendes Handeln gegen sich selbst und andere, hängt mit diesen, mit Ausgleichsmöglichkeiten, mit Absicht, Einsehbarkeit und Sinn, zusammen. Solche Abwägungen sind problematisch, vielleicht unmöglich und müssen politisch dennoch versucht werden.
Ich hole mal kurz eine sprachkritische Brechstange aus Werkzeugkammer.
»von etwas/jemandem Abstand nehmen« evoziert eine völlig andere Befindlichkeit, als »zueinander vorübergehend räumliche Distanz zu halten« (»voneinander«, wie in meinem Kommentar #7, ist natürlich unschöner sprachlicher Blechschaden). Wenn ich Abstand nehme, distanziere ich mich innerlich – wovon auch immer. Damit sollte ausreichend geklärt sein, was mich zu meinen Anmerkungen bewogen hat: Wenn ich Distanz halte, nehme ich nicht Abstand. Entweder schreibt Han nicht, was er tatsächlich meint, oder Han schreibt, Pardon, Unsinn.
Robusten Widerspruch (eingeschränkt auf den Krisenkontext) lege ich ein gegen die These, politische Maßnahmen hätten sich an einem breiten, einsehbaren Konsens zu orientieren.
Die politischen Maßnahmen haben sich zuvörderst an naturwissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten zu orientieren. Hierin gibt es keinen vernünftigen Diskussionsspielraum. Um die allgemeine Einsicht zu erleichtern, sind Transparenz, Aufklärung und akkurate Information hilfreich. Die individuelle Einsicht erachte ich als Privatangelegenheit, die jeder für sich selbst zu erarbeiten hat. Keine Frage, dass solches Unterfangen auf allen Ebenen zu unterstützen ist. Mangelnde Einsicht kann Widerstand gegen solche Maßnahmen aber keinesfalls legitimieren.
Dass ein [lange anhaltendes] Gebot der räumlichen Distanz negative Auswirkungen im Alltag hat, ist ernsthaft nicht zu bestreiten. Man befrage dazu Menschen, die von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, noch dazu mehrfach depriviert, praktisch ausgeschlossen sind. Wir sprechen hier jedoch von Zeiträumen größer sechs Monate.
Sollten die Geschäfte und Produktionsstätten annähernd so lange geschlossen bleiben, wird für die Allgemeinheit ansatzweise erlebbar, was Deprivation bedeutet. Daraus nährt sich meine Hoffnung, dass nach der Krisenbewältigung die Frage der Wohlstandsverteilung (und damit einhergehend eine Überformung der Gesellschaft) auf den politischen Bühnen intensivst diskutiert wird.
@Gregor Keuschnig
Ich habe vergeblich versucht, zum verlinkten Text zu gelangen. Vom dort angebotenen Modus nehme ich Abstand, nachdem ich in vergleichbarer Situation mit der FAZ äußerst belastende Mühsal mir eingehandelt hatte. Ihre Rezension zu »Vom Verschwinden der Rituale« hatte indes schon damals mein Interesse am Autor gedämpft.
(die angesprochene phoenix-Runde habe ich gesehen und einige Notate dazu angefertigt)
Wenn das Versprechen lautet, dass die verhängten Maßnahmen und Rechtseinschränkungen dem allgemeinen Wohl dienen, genauer: dem Erhalt der Gesundheit und der Verhinderung einer Pandmie, dann haben sich diese Maßnahmen in einer Demokratie der gesellschaftlichen Diskussion zu stellen, gerade weil sie rasch und ohne breite Diskussion getroffen werden mussten. Die Politik sollte sich an dieser gesellschaftlichen Diskussion orientieren, sie muss ihr keineswegs in allen Belangen folgen (die Diskussion bedeutet eine Differenzierung der Lage). Einsicht, Erträglichkeit und Sinn sind Resultat individuellen Handelns, das die Überschneidung des eigenen Lebensbereichs mit den politischen Maßnahmen prüft; diese Prüfung ist auch eine Aufgabe der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Wertvorstellungen und kulturelle Praktiken lassen sich nicht naturwissenschaftlich belegen, es ist Gesellschaften inhärent, dass sie nicht alle gleich auf eine äußere Bedrohung reagieren, obwohl naturwissenschaftliche Einsichten für alle gleich gelten (vgl. die Unterschiede zwischen China, Japan, Italien, Österreich, Großbritannien und Deutschland).
Zwei Irrtümer sind aufzuklären, wie mir klar wird.
Die [hier in A] verordneten Maßnahmen/Rechtseinschränkungen tragen kein Versprechen in sich. Sie sind aufgrund der verfügbaren Informationen nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten für jedermann nachvollziehbar und nach ethischen Gesichtspunkten sogar geboten. Daran vermögen Zweifel verursachende und Diskussionsbedürfnis (welches im Kern ein Aufklärungsbedürfnis ist) auslösende Informationslücken beim einzelnen Individuum nichts zu ändern. Werden die Maßnahmen ausnahmslos befolgt, steht die Wirkung der Maßnahmen ex ante fest. Vorsichtshalber wiederhole ich die Einschränkung meiner Betrachtungen auf den unmittelbaren Krisenkontext.
Zum anderen wird übersehen, dass die Maßnahmen/Rechtseinschränkungen dem parlamentarischen Regierungssystem entsprechend von den gewählten Volksrepräsentanten zu erörtern und zu beschließen sind. Und das zugeständnisfrei verfassungskonform, was sowohl das Zustandekommen der Beschlüsse, als auch den Inhalt der Maßnahmen betrifft. Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist daran vernünftig nichts zu beanstanden. Das Ansinnen, Entscheidungen der gegebenen Tragweite hätten sich am breiten, einsehbaren Konsens zu orientieren, rüttelt deshalb an der Verfassung dieser Gesellschaft insofern, als damit ein Übergang zur partizipatorischen Demokratie gefordert wird. Die Forderung nach einem solchen Umbau ist für sich genommen legitim. Sie hat sich aber gesondert einer explizit darauf gerichteten, breiten gesellschaftlichen Diskussion zu unterwerfen.
Eine Diskussion der verhängten Maßnahmen findet sinnvollerweise statt, wenn damit die Verfassung verletzt wird. So geschehen mit der Verordnung des Gesundheitsministers, welche ein pauschales Betretungsverbot für öffentliche Orte mit aufgezählten Ausnahmen (Zwecke der Betretung) statuiert. In der den Minister zur Verordnung ermächtigenden Gesetzesstelle heißt es allerdings, dass dieser die Betretung von »bestimmten« Orten untersagen kann. Hierzu kann er sich, dem Willen des Gesetzgebers nach, auch abstrakter Begriffe, wie z.B. Spielplätze oder Parkanlagen, bedienen.
Dieses überschießend formulierte pauschale Betretungsverbot (die Verordnung verletzt das verfassungsrechtlich verankerte Legalitätsprinzip) ist sogleich einer – wohl auch parlamentarischen – Diskussion zu unterziehen. Darin zumindest folgende Fragen zur Verhandlung stehen: Kann der öffentliche Raum ein einziger bestimmter Ort sein? Verträgt sich der »öffentliche Ort« gemäß Ministerialverordnung mit der existenten Legaldefinition des »öffentlichen Ortes« gemäß Sicherheitspolizeigesetz? Und ganz praktisch: Was kann/soll das Individuum unternehmen im Falle einer Beanstandung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes?
Nicht zu diskutieren ist allerdings die Frage, ob das pauschale Betretungsverbot angemessen sei, weil es dadurch konkludent legitimiert wird. Auch nicht zu diskutieren sind unter diesem speziellen rechtsstaatlichen Aspekt unterschiedliche Wertvorstellungen und kulturelle Praktiken verschiedener Gesellschaften.
Eine völlig andere Qualität hat die nachträgliche »Manöverkritik«. Die wird es dringend geben müssen (Stichworte: behördliche Versäumnisse/staatsanwaltschaftliche Ermittlungen in Ischgl, Krisenfestigkeit der Wirtschaft, inländische Versorgungssicherheit mit krisenrelevanten Gütern). Dazu braucht es tatsächlich breiteste gesellschaftliche Beteiligung. Im Ergebnis sollte dann hoffentlich feststehen, welche politische Kraft den Begriff »Gemeinwohl« mit welchen konkreten Inhalten füllt. Denn die nächste Wahl sollte bereits im Bewusstsein stattfinden, dass der Staat in bedrohlichen Situationen eben dieses Gemeinwohl zu sichern hat. Welches zur Stunde über die Abwendung der Gesundheitsbedrohung durch COVID-19 weit hinausreicht.
(Anmerkung: eine Runde würde ich noch mitgehen können, dann aber würd’ ich’s gut sein lassen)
Ich find’s schade, dass mit dieser Rubrik schon Schluss sein soll, möchte aber zugleich anregen, dass die Rubrik Zwischenruf(e) fortgeführt werden möge, da ich so einen kleinen Wasser- oder Zwischenstand Ihrer aktuellen Lektüre oder vielleicht auch einen kleinen Einwurf zum Zeitgeschehen sehr interessant fände. Die Gedichte von Fabjan Hafner werde ich mir besorgen.
@h.z.
Wir können versuchen abschließend einen Minimalkonsens zu finden. Die ein- und ausleitenden Sätze nicht mitgezählt, finde ich in den Absätzen 3–6 kaum Dissens, ich möchte nur darauf hinweisen, keine Diskussion von Wertvorstellungen und kulturellen Praktiken verschiedener Gesellschaften unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gefordert zu haben.
Bleiben die Absätze 1 und 2: Ich schrieb nicht, dass die in der Krise getroffenen Maßnahmen ein Versprechen in sich tragen, aber sie haben einen Grund und wenn eine Rechtseinschränkung nicht autoritär sein soll, dann sollte sie begründet werden, um nachvollziehbar und kritisierbar zu bleiben. Sachliche Richtigkeit, ethische Akzeptanz und die Legalität von Maßnahmen sind verschiedene Aspekte, z.B. bleibt die Ungleichverteilung von Wohlstand in einer Gesellschaft durch politisch legale Beschlüsse, trotzdem kritisierbar, so, wie Sie in der anderen Diskussion am Beispiel der Türkei schrieben, dass Sie Ausgangssperren für alte Menschen für ethisch inakzeptabel halten. Das politische, also das Versprechen, ist, dass das Unterbrechen der Infektionsketten durch Ausgangsbeschränkungen, Tote und Leid beschränken und die Gesundheit weiter Bevölkerungsteile in Abwägung mit als für geringfügiger erachteten anderen Risiken, erhalten wird. Niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird, das kann auch die Naturwissenschaft – die ja Irrtumswahrscheinlichkeiten für ihre Aussagen angibt – der Politik nicht abnehmen und täte sie es, dann ebnete sie den Weg für eine Technokratie. Ein Beispiel: Die Aussage, dass das Unterbrechen der Infektionsketten durch Ausgangssperren, also die Reduktion von sozialen Kontakten, geboten ist, erscheint völlig plausibel. Trotzdem bleibt ein Risiko, wenn man sich die Bedingungen absieht: Nehmen wir Italien als Beispiel und nehmen wir eine Verbreitung des Virus in der Gesellschaft von x an, Träger ist vor allem die junge, mobile und arbeitende Bevölkerung. Ausgangssperren können in jenen Familien in denen junge und alte Menschen zusammen leben, in Italien häufig bis ins Alter von deutlich über 30 Jahren üblich, diese mit dem Virus (und möglichen anderen Erkrankungen) zusammen gehalten haben. Eine solche Überlegung kann einen Teil der Entwicklung in Italien erklären und zeigt, dass ein Risiko und eine Verantwortung bleibt, die die Naturwissenschaft der Politik nicht abnehmen kann. Anders: Die Auswirkungen der Maßnahme Ausgangssperre ist nicht unabhängig von der Familienstruktur der betrachteten Gesellschaft (für Österreich mit weniger Risiko behaftet als für Italien).
Dass Entscheidungen der gegebenen Tragweite sich am breiten, einsehbaren Konsens zu orientieren haben, schrieb ich nicht, sondern, dass danach eine Orientierung an der gesellschaftlichen Diskussion geboten ist.
@metepsilonema
Der ausgeführten Kritik an den Absätzen 1 und 2 würde ich die im Verfassungsrang stehenden Verpflichtungen der Staatsgewalten entgegen halten. Als Verfassungsbürger folgen wir in letzter Konsequenz unseren eigenen, selbstgewählten Regeln, achten aber peinlich genau darauf, dass sie nicht verletzt werden (auf eine derartige Verletzung wies ich hin).
Angesichts der vorhersehbar dramatischen Entwicklung hierzulande (der intensivmedizinische Bereich könnte schon in der Karwoche auf Anschlag stehen) möchte ich auf das Italienbeispiel nicht mehr eingehen und auch sonst keine Haarspaltereien betreiben.
Seien Sie herzlich bedankt für Ihr kritisches Engagement in der Diskussion.
Ich bedanke mich ebenfalls für die Diskussion!