In der aktuellen ZEIT gibt es einen lesenswerten Vorabdruck aus Sabine Rückerts soeben erschienenem Buch »Unrecht im Namen des Volkes« mit dem Titel: »Inquisition-des-guten-Willens«.
In den 90er Jahren rückte bei uns – überschwappend aus angelsächsischen Ländern – das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in den Fokus der Öffentlichkeit. Unglaubliche Abgründe taten sich auf. Es kam zu Prozessen mit Details, gelegentlich sensationslüstern ausgebreitet, die in ihrer Abscheulichkeit fast unerträglich waren.
Die Thematik beherrschte Diskurse, seien es strafrechtliche, philosophische oder gesellschaftlich. Irgendwann hatte man das Gefühl, hinter jedem Baum, an jeder S‑Bahnstation, in jedem Bus lauere die Gefahr durch perverse Kinderschänder und jeder alleinstehende Mann ab 30 sei eine potentielle Gefahr.
Rückert rückt diese Hysterisierungswelle in den Vordergrund und erzählt in ihrem Buch von Opfern falscher Beschuldigungen. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber interessant und aufklärerisch könnte es dahingehend sein, dass neben der Schilderung der Geschichten der unschuldig Verurteilten (die teilweise jahrelang im Gefängnis inhaftiert waren – und dies aufgrund oft hanebüchender Fehler) auch der gesellschaftliche Druck gezeigt wird, der über die Ächtung der Kinderschändungen erzeugt wurde und weit über das (an sich natürlich lobenswerte) Ziel hinauschoss.
Es entstand eine wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der die gesamte Gesellschaft erfasste. Dieser Wahn hielt Einzug in Familien, spielte bei Scheidungsverfahren eine immer größere Rolle und fand ihren Weg zu Kinderärzten, in Schulen, in die Jugendämter, in die psychiatrischen Stationen, die Untersuchungszimmer der Gerichtspsychologen und die Büros sonst so sachlicher Staatsanwälte und Richter. Was als erhöhte Aufmerksamkeit grundsätzlich umsichtig handelnder Ärzte und Behörden begrüßenswert gewesen wäre, wuchs sich rasch zu einer irrealen Konfusion aus, die auch jene Instanzen erfasste, deren vernunftgesteuertes Verhalten die Rechtssicherheit garantiert.
Rückert konstatiert:
Auch in Deutschland wurde der Kreuzzug gegen den Missbrauch geführt. Wer beruflich mit Kindern zu tun hatte, lebte gefährlich. Er stand im permanenten Verdacht, sich an ihnen zu vergreifen. Wehren konnte sich keiner, denn kognitive Argumente erreichten die Verfolger bald nicht mehr. Der Cocktail aus sexuellen Details und kindlicher Hilflosigkeit tat seine unwiderstehliche Wirkung und berauschte selbst die Ermittler bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Bald fanden an deutschen Gerichten unter großer öffentlicher Anteilnahme Mammutprozesse statt, in denen Kindergärtner oder ganze Familien angeklagt waren, kleine Kinder auf haarsträubende Weise missbraucht zu haben.
Wenn Missionare erst einmal die Menschheit retten wollen, ist offensichtlich kein Halten mehr – man kennt das (kulturübergreifend, übrigens). Natürlich gibt es bei jeder Ermittlung und in jedem Prozess die Möglichkeit, dass Menschen irren. Hierum geht es nicht. Es geht um die Stimmung in einer hysterisierten Gesellschaft, die entlastendes nicht mehr zur Kenntnis nehmen will, weil es nicht in das ideologische Konzept passt.
Zu massiv ist die Berieselung der Medien um sich der Entrüstungsmaschinerie, die emotional enorm aufgeladen ist und sofort in Dichotomien arbeitet (»Gut – Böse«) zu entziehen, ist schwierig, ohne sofort selber in einen anrüchigen Verdacht zu kommen.
Eine Parallele heute sehe ich in der teilweise wollüstigen Beschäftigung mit Kinderpornografie, wie sie im Moment aus den Medien heraus betrieben wird. Der vorläufige Kulminationspunkt wurde in der Aktion »Mikado« erreicht (schade, dass der Name dieses harmlosen, schönen Spiels jetzt für immer »belastet« ist): Für die Oberstaatsanwaltschaft Halle überprüften Kreditkartenanbieter (welche ist m. W. nicht genau bekannt) rund 22 Millionen Zahlungen auf eine gewisse Summe hin (US$ 79,99) und reichten dann die entsprechenden Treffer an die Strafverfolgungsbehörden weiter.
Die Summe entsprach der Gebühr zu einem »Internetanbieter« (Serverstandort auf den Philippinen), der damit freien Zugang zu kinderpornografischem Material (Bilder; vielleicht sogar Videos, etc) offerierte. Die Aktion wird als »Erfolg« gefeiert, was merkwürdig anmutet, denn man wurde bei 322 Menschen (in Deutschland) »fündig«.
Bei einem »Einsatz« von 22 Millionen Prüfungen erscheint die Quote von 0,0015% allerdings reichlich gering ausgefallen zu sein. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Udo Vetter (»Law Blog«) hält die Aktion für rechtswidrig. Er hat einen Antrag beim Amtsgericht Halle gestellt und um Auskunft gebeten (andere sind ihm inzwischen gefolgt). Seines Erachtens handelt es sich dabei um eine Rasterfahnung. Ausserdem sieht er die Verhältnismässigkeit der Mittel verletzt (man lese auch seine strafrechtliche Analyse zur Kinderpornografie).
Lassen wir die formaljuristischen Aspekte einmal einen Moment weg (Rasterfahnung ja/nein? – Ist das Anschauen kinderpornografischer Bilder alleine schon strafbar ja/nein?) – der unangenehme Geschmack bleibt und Parallelen zur Hysterie des Kindermissbrauchs der 90er Jahre (ein emotional verwandtes Thema) unverkennbar. Interessant ist, dass Datenschützer, die bei viel harmloseren Eingriffen (beispielsweise die Implementierung der gesamten Krankengeschichte von Patienten auf einem Chip auf der Mitgliedskarte) sofort »Datenmissbrauch« (sic!) wittern, sich hier zufrieden äussern oder schweigen. Und auch stramme Gegner von Rasterfahndungen, die sie selbst bei Kapitalverbrechen mit Gefahr im Verzug grundsätzlich ablehnen oder so erschweren wollen, dass man gleich von Haus zu Haus klingeln gehen muss – sie schweigen ebenfalls.
Kann es sein, dass die »Hüter« der political correctness den Widerspruch, nein: das Fragen der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens, sofort als heimliche Sympathie für die Täter werten – und daher das Schweigen grosser Teile der kritischen Masse resultiert? Wie ist denn die Frage eines Journalisten an Udo Vetter zu verstehen: “Sie sind aber keiner der 322 Beschuldigten?”
Warum kommt es mir trotz allem unbehaglich vor, den Triumph des Moderators Gert Scobel in der Sendung »delta« zu bemerken, wenn er den Fahndungserfolg der Aktion »Mikado« mit dem Oberstaatsanwalt Peter Vogt lobt? Wo bleiben die kritischen Nachfragen Scobels, als in einem Film in der Sendung die Missbrauchsrate bei Mädchen bei 30% angesetzt wird (bei Jungen rd. 10%) – während Klaus M. Beier später in der Diskussion von 9% spricht? Wie werden diese Zahlen ermittelt? Worauf basieren sie? Warum will man durch vermutlich völlig überhöhte Zahlen Angstszenarien erzeugen, die in Wirklichkeit absolut ungerechtfertigt sind? Dient man damit der Sache wirklich oder ist es nicht eher kontraproduktiv (Stichwort: Übersättigung)?
Und warum muss man denn, wenn man sich zu dieser Thematik äussert, mit Vehemenz immer gleich auch seine Abscheu, seine Empörung, sein Mitleid mit den Opfern (den geschändeten Kindern) äussern? Sollte das nicht selbstverständlich sein und somit nicht dauernd betont werden müssen? Mit welcher Berechtigung werden solche Art von vorauseilenden Rechtfertigungen »verlangt« (ein gruppendynamischer Druck erzeugt) – und auch (siehe hier!) noch ausgeführt?
Wäre es nicht Aufgabe von Medien, aufzuklären, statt billigem Populismus das Wort zu reden? Warum wird keine Balance versucht zwischen hahnebüchender Hysterie, die uns suggerieren soll (warum eigentlich?), dass wir durch und durch vom Verbrechen umzingelt sind und den zweifellos auch vorhandenen Verharmlosern, die für alles eine einleuchtende Erklärung finden und die Schuld immer an und in der Gesellschaft sieht?
Billiger Populismus usw.
Na ja, wahrscheinlich eignet sich kaum ein Thema besser für Kreuzzüge und selbstgerechte Auftritte. Schließlich geht es um das Wohl unserer Kinder, da KANN doch niemand dagegen sein, nicht wahr? Vor ein paar Jahren, nach einem Sexualmord an einem Mädchen hier aus der Gegend, wurde man hier am Eingang von Supermärkten von Leuten angesprochen, die Unterschriften für die Wiedereinführung der Todesstrafe sammelten. In anderen Läden (z.B. Lidl) durften die ihre Unterschriftenlisten auslegen. Einmal hat diese Gruppe es sogar bis in die 20-Uhr-Tagesschau geschafft.
Und was deine rhetorische Frage »wäre es nicht Aufgabe von Medien, aufzuklären, statt billigem Populismus das Wort zu reden?« betrifft: Ja, klar. Gestern zum Beispiel. Scientology mag ein mieser Verein sein, aber ob die wirklich dermaßen gefährlich sind? Von Juni bis Dezember 2006 gab es hier in der Stadt ein Scientology-»Zentrum« (ein kleiner Laden in der Fußgängerzone). Ich habe mich jedesmal gewundert, mit was für erstaunlich dämlichen und lachhaften Sprüchen die auf Kundenfang waren. Das sollten diese dämonischen, raffinierten Verführer sein, als die sie unentwegt dargestellt werden? Oder letztes Jahr. Da wäre es im Zusammenhang mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht schlecht gewesen, den Leuten etwa Nachhilfe in ein bis zwei Grundrechenarten zu geben, statt den »Nächstes Jahr wird alles mächtig viel teurer«-Hype mit anzuheizen. Oder... oder...
Vermutlich...
ist unsere Idee von der Funktion von Medien hoffnungslos veraltet: Statt gerade solche emotionalen Themen möglichst sachlich zu behandeln, wird mit dem Schüren von Emotionen das Gegenteil gemacht. D. h. statt billige Affekte zu verhindern, werden sie erzeugt.
Was »Scientology« angeht habe ich eine ähnliche Meinung: Ein halbwegs vernunftbegabter Mensch darf doch eigentlich gar nicht auf solche plumpen Parolen hereinfallen. Wenn ich dann immer höre, diese Leute trieben eine Art von Gehirnwäsche, dann frage ich mich manchmal, welcher Schonwaschgang dafür eigentlich ausgereicht haben muss...
Ach ja: Willkommen!
Eigentlich...
habe ich ja im vorigen Kommentar das Thema weitgehend verfehlt... Sehe gerade, dass bei Heise/Telepolis soeben ein Interview mit Udo Vetter erschienen ist:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24443/1.html
(weiß nicht, wie man hier Links setzt, sorry)
Zu den rechtlichen Fragen...
möchte ich hier ja gar nicht Stellung beziehen. Das ist bereits in dem Link von Klopstein ausreichend behandelt.
Was ich aber zusätzlich bedenklich finde: es handelt sich um eine Art Datenschutzverletzung, die hier ohne richterliche Genehmigung begangen wird.
Gibt es aber einmal eine positiv begründete Veranlassung zur Verletzung des Datenschutzes – ich denke dabei an die vermissten Personen während der großen Tsunamikrise – dann verstecken sich alle, die Auskunft geben könnten, hinter Datenschutz. Die Flugfirmen, die Kreditkartenfirmen, ... man könnte sehr wohl eruieren, wer noch zuletzt in Thailand eingekauft hatte und vermutlich noch im Land war.
Und besonders heftiger Datenschutz wird ja auch betrieben, wenn es darum geht, wer in Deutschland (übrigens auch in Österreich) EU-Agrarförderungsgelder bekommt, obwohl 80% der EU-Länder diese Daten anscheinend ohne Datenschutzverletzung offen legen können.
Ja,
um dieses ambivalente Verhalten geht es. Bei bestimmten Verbrechen, die eine emotionale Empörungswelle erzeugen, wird der Datenschutz in der beschriebenen Weise geopfert, um »der guten Sache willen«.
Besonders interessant finde ich folgenden Hinweis in dem Interview (Dank an Klopstein!):
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, hat in einem Interview gesagt: »Es wäre ein großer Sieg für die Kinderporno-Mafia, wenn Richter im Nachhinein das Vorgehen der Ermittler als nicht rechtmäßig beurteilen würden«
Damit insinuiert Freiberg, dass derjenige, der diese Ermittllung rechtswidrig findet, Verbrechern zuarbeitet. Mit diesem Verständnis ausgestattet, kann man auch gleich die Verteidigung von Angeklagten abschaffen.
In der letzten Ausgabe der ZEIT gab es ein Dossier über die inzwischen recht ausgeprägte Videoüberwachung in Grossbritannien – ich fand es reichlich alarmistisch aufgemacht. Ich warte geduldig, ob ich zur Aufarbeitung von »Mikado« in nächster Zukunft auch einmal ein Dossier in der ZEIT werde lesen können...
Hier auch...
In der CH stimmen wir demnächst vermutlich über die lebenslange Verwahrung von Sexualstraftätern ab; ein (erwachsenes) Vergewaltigungsopfer hat die Initiative lanciert und offenbar locker die Unterschriften zusammengekriegt. Gemäss der öffentlichen Meinung sind Sexualstraftäter »nicht therapierbar«; Psychiater fürchten sich zu Recht davor, solche Prognosen stellen zu müssen. Soviel ich weiss, existieren keine solchen Anliegen bezüglich Mördern (sofern sie nicht Sexualmörder sind).
In der Sendung »delta«, die ich im Beitrag verlinkt habe, sagte Klaus M. Beier (ein wohl renommierter Experte) sinngemäss, dass pädosexuelle Veranlagungen tatsächlich nicht dahingehend therapierbar sind, dass sie verschwinden bzw. durch »normale« Veranlagungen ersetzt werden. Es gibt hierzu Projekte (auch eines von Beier), in dem Menschen mit pädosexuellen Neigungen dahingehend geholfen wird, dass sie keine »Übergriffe« (ich glaube, dieses Wort fällig im Original) vornehmen. Das macht man nur bei den Leuten, die sich freiwillig melden.
Bei Sexualstraftätern ist natürlich eine Therapierbarkeit gegeben; es fehlt nur häufig genug an (finanziellen) Mitteln. Hinzu kommt, dass das Phänomen sehr stark überschätzt wird; mittlerweise wird ja jede Tat in die Öffentlichkeit gezerrt.
Ein anderer Gesichtspunkt
Im Jahr 1998 gab es als zweiten Dogmafilm das Fest von Thomas Vinterberg. (Bitte Link lesen bezgl. des Abschnitts mit der Lebenslüge)
Inzwischen wird das Fest als Theaterstück in einem sehr renommierten Theaterhaus in Wien, mit gutbürgerlichem Abonnentenpublikum vorgeführt. Ein kleiner Regietrick sorgt dafür, dass es keine Trennung zwischen Bühne und Zuseherraum zu geben scheint. Das gleichzeitige Heben eines gleichaussehenden Lusters auf der Bühne (im Theater in der Josefsstadt werden die Luster zu Beginn angehoben) bindet die Zuseherschaft quasi als Großfamilie ein.
Diese darf sich dann mit der Enthüllung beschäftigen. Dunkelziffern von 10 000 in Österreich und 200 000 in Deutschland durchgeführten Kindesmissbräuchen im Familienkreis laut Interviewpartner Erwin Steinhauer, der in dieser Produktion den vergewaltigenden Vater spielt, gehen dann in eine ganz andere Richtung als die Mikado-Aktion mit 332 Übeltätern erfassen kann.
Es geht um das Grauen rund um uns, in den heilen Familien, unter »anständigen« Leuten.
In diesem Zusammenhang erscheint die Mikado-Aktion noch aberwitziger und in Wirklichkeit mehr sensationsgeil als zielführend.
Dunkelziffern
Den Film kenne ich; ich fand ihn sehr eindringlich und tatsächlich in der Tradition der Theaterstücke Ibsens.
Was die Dunkelziffern angeht, ist das so eine Sache. Ich wundere mich manchmal darüber, wie in den Medien diese Zahlen lanciert werden und frage mich, worauf die Schätzungen beruhen. Meistens bleibt das am meisten im Dunkeln.
In der »delta«-Sendung war zu hören, rd. 30% aller Mädchen (und 10% der Jungen) werden im Laufe ihrer Kindheit missbraucht. In der laufenden Diskussion war auf einmal von »9%« die Rede. Ihre Zahl liegt nun bei 200.000 (nur Missbräuche in den Familien – wobei ja der überwiegende Anteil der sanktionierten Missbräuche im Familienkreis stattfinden sollen).
Ich vermute, mit den Dunkelziffern wird gezielt eine gewisse Hysterie betrieben.
über den missbrauch des missbrauchs hat sich katharina rutschky bereits vor 15 jahren sehr kompetent geäußert und dafür herbe kritik und handgreiflichkeiten einstecken müssen.