Aber es ist natürlich mehr. Fast schwärmerisch erzählt, nein: frohlockt Handke von den Momenten in diesen Gedichten, »wo das spezielle Geschichtswissen übergegangen ist in etwas Universelles, die Ahnung«. Und tatsächlich finden sich solche Momente, zuweilen ganz gut verborgen. Zumeist dann, wenn im weitesten Sinn vom Verlust der Heimat gesprochen werden kann, was in den Gedichten der 1960er Jahre bis hinein in die Gegenwart vorkommt. Da wird das Holzhaus meiner Kindheit gegen das neue Steinhaus ge- vielleicht sogar verrückt mit dem deutlichen
…nie
kann ich mich in einem Steinhaus
wohlfühlen seitdem.
Dabei wird das Steinhaus zur Allegorie für eine andere Gesellschafts- und Lebensordnung:
[…]
Und aus den neuen Steinhäusern an der Straße seh ich
lauter kleine Jungen und Mädchen treten. Die Mutter
winkt noch, aber sie blicken
sich nicht einmal um, fassen
sich an den Händen und laufen
unter dem Wind zur Schule
Einher geht dies mit der Umgestaltung der Landschaft also auch der Heimat. Da ist von Leuten die Rede,
…die gehen
gegen den Wind zur Arbeit
und kommen nicht mehr zurück
und
[…]
sie gehen nach Äxten und Sägen
und ziehen von Wald zu Wald
und fällen Wald für Wald, denn
unter den Wäldern liegt Kohle und
sie haben wohl recht.
Eine solche Kritik an den seltsamen Zugvögel[n], den Menschen, war also 1973 möglich. »Aber wenn ihr weint« endet:
aber wenn ihr weint, dann
weint im Regen – da
fallen die Tränen nicht so auf.
Lorenc weint »im Regen«, beklagt die blinde Ignoranz der Natur gegenüber. Es ist eine Natur, die den Menschen aufnimmt und formt – das Gegenteil ist immer der Fall. Die Thematik war ja nicht beschränkt auf die DDR – Umsiedlungen, Raubbau und Naturzerstörungen gab und gibt es auch in der Bundesrepublik. Geschickt, wie die Antipoden unmittelbar gegeneinander gestellt werden: die Schönheit der Landschaft und die fast gleichzeitig einhergehende Zerstörung. Exemplarisch in der Hymne auf Lorenc’ Heimatfluß Struga in einem Gedichtband von 1967. Zunächst die
[…]
Molchspur im Grundschlamm.
Kindheit, Molch, bunter Stein überspült –
heb ihn ans Licht, wie er bleicht.
Struga – ich bin durchflossen, ruhlos
dein heller Strom in der offenen
Ader der Landschaft…
Da gibt es dann den Forellensprung und die Schwärme der Fische bevor es dann mahnend heißt:
Ach, schweigen können wir nicht,
grell im Licht, wir rasen über die Brücke,
zurück gegen den Zugwind
blicken wir furchtlos: Was
brach zusammen – die Struga, da
fließt sie, ein Abwasser trüb.
Blind brennt uns die Augen Spülicht
der Kohlenwäsche. Das neue Bett – klaffend
Hieb von rostiger Klinge
durchs Brachland…
Aber es gibt eine vage Hoffnung:
[…]
Da – die Station. Aus dem Zug schnellend
Sprung der sorbischen Tänzerin,
Jugend und Schönheit – was
brach zusammen, so sprich, dreh
dich um, einfach: Die Struga
in uns eine Saite, wie tönt sie. Ich geh
sie zu stimmen, heut
geh ich zur Quelle. [»Die Struga«]
»Zur Quelle« – zur Natur? Zu den Geschichten, den Erzählungen der Sorben, die sich Lorenc an- und zugeeignet hatte und pflegte?
Auch in den 80ern klingt das Einbrechen des sogenannten Fortschritts in Leben der Leute an (»Ein Morgen meiner Liebsten«):
[…]
Schlägt ein Elektriker die Krallen seiner Steigeisen
in den aufrauschenden Telefonbaum
Aber sofort wird versucht, die Gegenwelt zu beschwören:
Und ein Dichter trepaniert ein Zwerghuhnei
behutsam um das Krähen dreier Vierzeiler gereimt
[…]
Im Gedicht »Dorfbegräbnis« (ebenfalls in den 80er Jahren erstmals publiziert) spielt Lorenc schon mit dem Titel. Denn tatsächlich wird da niemand im Dorf begraben, sondern das Dorf selber. Es gibt Trauerfrauen und ein greiser Vater schreit lästernd, aber
An den Föhrenrinden fror
der Trompetenschall zu Bernstein
Schließlich
Trug der Bagger zart in seinem Maul
fort die Kirche ihren Hof
[…]
und es
wuchs zu Abraum Aberraum
troff aus fernbeheizter Wabe
Scheibenhonig
von der Platte
Hier zeigt sich auch Lorenc’ spöttisch-ironisches Talent; Handke nennt ihn auch einen »Satiriker« (was sich besonders in den »Erinnerungen an den Landfilm« zeigt). Aber es gibt auch das Bukolische, Residuen aus einer anderen Zeit, das Pferd an der Linde (»Lieder aus Slěpe«) und in der »Begegnung mit Kifko« entsteht für einen kurzen Augenblick ein Ton der Versöhnung:
[…]
…Einmal noch
stifte ich Frieden euch, vereine
die hadernden Brüder…
[…]
»Refugienbürgertum« nannte Marcel Beyer einmal die intellektuelle Mittelschicht der DDR, die wie in Uwe Tellkamps »Turm« ihre Nischen suchte und ihr Arrangement fand. Lorenc kommt mir dagegen fast wie ein nimmermüder, sanfter Exorzist vor, der jenseits aller politischen Systeme oder intellektuellen Entwürfe das Schöne mindestens einmal noch festhalten möchte. Er begibt sich dafür in das Refugium der Natur- und, ja, das muss man sagen, Heimatbeschwörung; ein Rückzug ganz eigener Art, vielleicht eine wirkungsmächtigere Widerständigkeit als das des so sehr geschätzten »Protestes«. Von Ferne erinnert das an Wolfgang Hilbig, aber Lorenc ist leiser. »Der Einbaum schwamm gegen den Strom« heißt ein Gedicht, eine wilde Reise, aber der Einbaum schwimmt nicht alleine – am Ende stieg mein Schatten aus – das ist des Dichters Absonderung, Abspaltung (und das ist spätestens dann kein Wunder mehr, dass Handke diesen Schreiber so verehrt).
Die Veröffentlichungen der letzten Jahre sind melancholischer, elegischer. »Auf einen Gruss« (publiziert 2002) verabschiedet endgültig die Landschaft der Kindheit – was der Sozialismus nicht schaffte, wird jetzt entfernt:
[…]
Gerodet die schattende Hecke
wo die Winde schliefen
und Vögel gewohnt.
Wobei unmittelbar das Schweigen ob dieser Zustände behutsam eingebracht wird. Es folgt:
Der trockene Mund, verschlossen
achtet des Worts nicht, für das
keine Hand bürgt.
Und in der dritten Strophe:
Am Wegrand erstickt
der Bach, Regen schwemmt
fort die Krume, es verweht sie
der Sturm. Arme Erde
Nest ohne Lieder nun, ach
Gott befohlen.
In »Uhrzeigersinn« heißt es:
[…]
Aber auch ohnedies
nehme ich deutlich jetzt
das Vorrücken der Zeit wahr
sehe, höre
die Zeiger zustoßen
Sekunde
um
Sekunde
Erinnerungen an den Vater, die Mutter, deren Lächeln, das nie ein Spiegel ihr zeigt. Und plötzlich wird wie im Traum evoziert:
[…]
Mit Scharen schwarzweißer Kater
Streunt das Frühjahr durchs Dorf
[…]
und der Spaziergang durch das Wiedererleben des Frühlings im Dorf endet:
Tagschön, Feldnachbarin!
Wie geht’s? Du wirst noch so
lange machen in deinem Garten
bis wieder alles blüht [»Es geht doch«]
Aber: noch so // lange machen – heißt das, nur noch bis im Garten alles blüht? Ist hier schon die Endlichkeit der Nachbarin eingewoben? Oder ist nur die Zeit des Säens und Herrichtens gemeint?
»Vorm Fensterspiegel«, eines der 13 Gedichte (von insgesamt 76 ausgewählten), die im Anhang etwas lieblos als »verstreut erschienen oder bisher unveröffentlicht« rubriziert sind (ohne zu sagen, wann sie erschienen und/oder geschrieben wurden), ist schon lebensbilanzierend:
[…]
Der Stummfilm Leben
geistert über die Fotos
an den Wänden
vergessene Bilder
Gesichter
kaum noch erkennbar,
gewandelt bis man sich
falsch erinnert
[…]
Und da schließt sich fast der Kreis zum »Sterbende[n] Häher« (1973 veröffentlicht):
[…]
Aber ich seh: Wir gehen
vorüber an IHM,
der stirbt im Klee
auf der kleinen Wiese am Wald.
[…]
Den Schnabel öffnet er gegen uns
in lautlosem Schrei – da:
sein Gefieder sträubt sich kindlich, eh er
versinkt in dem schwarzen Gewässer Schmerz
und wir ihm gleichgültig werden.
Nein, eine exakte literaturwissenschaftliche Analyse der Gedichte – das ist nicht die Sache des Idioten, der sich die Verse er-lesen muss, den Rhythmus suchend, oft genug beim ersten Mal scheiternd, neu ansetzend und endlich (endlich?) das für ihn richtige Maß findend. Ich kann nicht anders als mich in eine Landschaft, ein Bild hinein zu phantasieren. Und das ist möglich, weil Kito Lorenc’ Gedichte offen sind, mir hier oder da einen Platz anbieten, den ich gerne annehme. Nur davon vermag ich Mitteilung zu machen. Ansonsten sei empfohlen: Lesen.
Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus den Gedichten von Kito Lorenc.
Ah, dieser Hinweis auf Lorenc freut mich! Das Gute soll nicht vergessen sein!
Weil ich mich bisher aus Antiquariaten versorgt habe – ich bin eher ein Fan von Lorenz früheren, weniger alters-abgeklärter Gedichte – , bin ich auf der Leipziger Buchmesse ein bisschen arg unbedacht auf die arme Frau von Stand gestürzt, als ich um Umschauen den Namen Kito Lorenc las. Es war dann aber ein Buch mit gesammelte Aufsätzen. (War’s Die Unerheblichkeit Berlins? Trotz des sympathischen Titels weiß ich es nicht mehr genau.)
Die Dame wich jedenfalls zurück und musste mich für die Gedichte auf Suhrkamp verweisen.
Platz x auf meiner Nächst-zu-Lesen-Liste irgendwo in dem Zettelwust in meinem Kopfkissen.
Aus »Die Unerheblichkeit Berlins« (wirklich ein schöner Titel) sind 16 Gedichte im Band.
Ich mag mich irren, aber die Lorenc-Gedichte hatte ich in Leipzig am Suhrkamp-Stand nicht gesehen. Wäre schade.
Ich hoffe, Sie kennen diesen kleinen Artikel mit einem Trailer zur Petrarca-Preisverleihung von 2012 noch nicht. Nach obiger Lektüre kam mir der Bericht sofort wieder in den Sinn, weil ich mir »Die Bucht der Aphrodite« von Miodrag Pavlovic auf die Leseliste gesetzt hatte ( habe Pavlovic aber bis heute noch nicht gelesen). Der Buchstapel ist einfach zu hoch.
Ihre vorgestellten kleinen Lyrik-Skizzen von Lorenc verlocken. Danke, für die feine Buchbesprechung!
Und an herr. jedermann: »Das Gute soll nicht vergessen sein!« ... da schließe ich mich aber so was von sofort an!
Petrarca-Preis:
http://www.petrarca-preis.de/preisverleihung/preisverleihung/preisverleihung-2012/
Diese Besprechung hat mich ganz sehr gefreut (zumal ich mit Blick auf Czorneboh und Bieleboh aufgewachsen bin), auch der Link zum sehr guten Vorwort von Peter Handke – ich wusste bisher nicht, dass er die Landschaft kennt und liebt und sich für die Sorben interessiert. Das Buch werde ich auf jeden Fall lesen und freue mich darauf. – Zur »Quelle« fiel mir – neben dem von Ihnen angesprochenen Ursprung, der Natur – spontan der sorbische Brauch des Osterwasserholens ein: Die Mädchen und Frauen holen in der Osternacht Quellwasser, dem eine heilende Wirkung zugeschrieben wird (und dürfen dabei nicht sprechen). – Der Gedanke ist aber vielleicht ein bisschen sehr weit hergeholt.