Ki­to Lo­renc: Ge­dich­te

Kito Lorenc: Gedichte

Ki­to Lo­renc: Ge­dich­te

Es ist ein wuch­ti­ges aber auch gleich­zei­tig of­fe­nes Vor­wort von Pe­ter Hand­ke zu sei­ner Aus­wahl aus den Ge­dich­ten des 1938 ge­bo­re­nen sor­bi­schen Dich­ters Ki­to Lo­renc. Na­tür­lich mag Hand­kes En­kla­ven- und Sla­wen-Af­fi­ni­tät ei­ne Rol­le ge­spielt zu ha­ben. Bil­den doch die Sor­ben ei­ne klei­ne Min­der­heit in der Lau­sitz, die schon zu DDR-Zei­ten im Rah­men der Par­tei-Ideo­lo­gie an­er­kannt wur­de (was vor den üb­li­chen Be­vor­mun­dun­gen und Zwän­gen nicht schütz­te). Hand­ke be­schreibt, wie der jun­ge Chri­stoph Lo­renz zum Sor­ben wur­de, sich Ki­to Lo­renc nann­te, die sor­bi­sche Spra­che lern­te. Ei­ne be­wuss­te Ent­schei­dung für das Sla­wen­tum, für die Mi­no­ri­tät, für das An­ders-Sein. Lo­renc’ Groß­va­ter Ja­kub Lo­renc-Za­leški (Za­leški für »Hin­ter­wäld­ler«), 1874–1939, ist nicht nur ein sor­bi­scher »Volks­held«, son­dern auch »ein Schrift­stel­ler, und was für ei­ner«, wie Hand­ke in Be­zug auf »Die In­sel der Verges­senen« em­pha­tisch aus­ruft. Wer nur an­näh­rend mit der Bio­gra­phie von Pe­ter Hand­ke ver­traut ist, ver­mag die of­fe­nen wie ver­steck­ten, die of­fen­sicht­li­chen wie erwünsch­ten Par­al­le­len zu sei­nem Le­ben bzw. dem sei­ner Ah­nen fest­stel­len.

Aber es ist na­tür­lich mehr. Fast schwär­me­risch er­zählt, nein: froh­lockt Hand­ke von den Mo­men­ten in die­sen Ge­dich­ten, »wo das spe­zi­el­le Ge­schichts­wis­sen über­ge­gan­gen ist in et­was Uni­ver­sel­les, die Ah­nung«. Und tat­säch­lich fin­den sich sol­che Mo­men­te, zu­wei­len ganz gut ver­bor­gen. Zu­meist dann, wenn im wei­te­sten Sinn vom Ver­lust der Hei­mat ge­spro­chen wer­den kann, was in den Ge­dich­ten der 1960er Jah­re bis hin­ein in die Ge­gen­wart vor­kommt. Da wird das Holz­haus mei­ner Kind­heit ge­gen das neue Stein­haus ge- viel­leicht so­gar ver­rückt mit dem deut­li­chen

…nie
kann ich mich in ei­nem Stein­haus
wohl­füh­len seit­dem.

Da­bei wird das Stein­haus zur Al­le­go­rie für ei­ne an­de­re Ge­sell­schafts- und Le­bens­ord­nung:

[…]
Und aus den neu­en Stein­häu­sern an der Stra­ße seh ich
lau­ter klei­ne Jun­gen und Mäd­chen tre­ten. Die Mut­ter
winkt noch, aber sie blicken
sich nicht ein­mal um, fas­sen
sich an den Hän­den und lau­fen
un­ter dem Wind zur Schu­le

Ein­her geht dies mit der Um­ge­stal­tung der Land­schaft al­so auch der Hei­mat. Da ist von Leu­ten die Re­de,

…die ge­hen
ge­gen den Wind zur Ar­beit
und kom­men nicht mehr zu­rück

und

[…]
sie ge­hen nach Äx­ten und Sä­gen
und zie­hen von Wald zu Wald
und fäl­len Wald für Wald, denn
un­ter den Wäl­dern liegt Koh­le und
sie ha­ben wohl recht.

Ei­ne sol­che Kri­tik an den selt­sa­men Zugvögel[n], den Men­schen, war al­so 1973 mög­lich. »Aber wenn ihr weint« en­det:

aber wenn ihr weint, dann
weint im Re­gen – da
fal­len die Trä­nen nicht so auf.

Lo­renc weint »im Re­gen«, be­klagt die blin­de Igno­ranz der Na­tur ge­gen­über. Es ist ei­ne Na­tur, die den Men­schen auf­nimmt und formt – das Ge­gen­teil ist im­mer der Fall. Die The­ma­tik war ja nicht be­schränkt auf die DDR – Um­sied­lun­gen, Raub­bau und Naturzer­störungen gab und gibt es auch in der Bun­des­re­pu­blik. Ge­schickt, wie die Anti­poden un­mit­tel­bar ge­gen­ein­an­der ge­stellt wer­den: die Schön­heit der Land­schaft und die fast gleich­zei­tig ein­her­ge­hen­de Zer­stö­rung. Ex­em­pla­risch in der Hym­ne auf Lo­renc’ Hei­mat­fluß Stru­ga in ei­nem Ge­dicht­band von 1967. Zu­nächst die

[…]
Molch­spur im Grund­schlamm.
Kind­heit, Molch, bun­ter Stein über­spült –
heb ihn ans Licht, wie er bleicht.
Stru­ga – ich bin durch­flos­sen, ruh­los
dein hel­ler Strom in der of­fe­nen
Ader der Land­schaft…

Da gibt es dann den Fo­rel­len­sprung und die Schwär­me der Fi­sche be­vor es dann mah­nend heißt:

Ach, schwei­gen kön­nen wir nicht,
grell im Licht, wir ra­sen über die Brücke,
zu­rück ge­gen den Zug­wind
blicken wir furcht­los: Was
brach zu­sam­men – die Stru­ga, da
fließt sie, ein Ab­was­ser trüb.
Blind brennt uns die Au­gen Spü­licht
der Koh­len­wä­sche. Das neue Bett – klaf­fend
Hieb von ro­sti­ger Klin­ge
durchs Brach­land…

Aber es gibt ei­ne va­ge Hoff­nung:

[…]
Da – die Sta­ti­on. Aus dem Zug schnel­lend
Sprung der sor­bi­schen Tän­ze­rin,
Ju­gend und Schön­heit – was
brach zu­sam­men, so sprich, dreh
dich um, ein­fach: Die Stru­ga
in uns ei­ne Sai­te, wie tönt sie. Ich geh
sie zu stim­men, heut
geh ich zur Quel­le.
[»Die Stru­ga«]

»Zur Quel­le« – zur Na­tur? Zu den Ge­schich­ten, den Er­zäh­lun­gen der Sor­ben, die sich Lo­renc an- und zu­ge­eig­net hat­te und pfleg­te?

Auch in den 80ern klingt das Ein­bre­chen des so­ge­nann­ten Fort­schritts in Le­ben der Leu­te an (»Ein Mor­gen mei­ner Lieb­sten«):

[…]
Schlägt ein Elek­tri­ker die Kral­len sei­ner Steig­ei­sen
    in den auf­rau­schen­den Te­le­fon­baum

Aber so­fort wird ver­sucht, die Ge­gen­welt zu be­schwö­ren:

Und ein Dich­ter tre­pa­niert ein Zwerg­huhnei
    be­hut­sam um das Krä­hen drei­er Vier­zei­ler ge­reimt

[…]

Im Ge­dicht »Dorf­be­gräb­nis« (eben­falls in den 80er Jah­ren erst­mals pu­bli­ziert) spielt Lo­renc schon mit dem Ti­tel. Denn tat­säch­lich wird da nie­mand im Dorf be­gra­ben, son­dern das Dorf sel­ber. Es gibt Trau­er­frau­en und ein grei­ser Va­ter schreit lä­sternd, aber

An den Föh­ren­rin­den fror
der Trom­pe­ten­schall zu Bern­stein

Schließ­lich

Trug der Bag­ger zart in sei­nem Maul
fort die Kir­che ih­ren Hof

[…]

und es

wuchs zu Ab­raum Ab­erraum
troff aus fern­be­heiz­ter Wa­be
Schei­ben­ho­nig
von der Plat­te

Hier zeigt sich auch Lo­renc’ spöt­tisch-iro­ni­sches Ta­lent; Hand­ke nennt ihn auch ei­nen »Sa­ti­ri­ker« (was sich be­son­ders in den »Er­in­ne­run­gen an den Land­film« zeigt). Aber es gibt auch das Bu­ko­li­sche, Re­si­du­en aus ei­ner an­de­ren Zeit, das Pferd an der Lin­de (»Lie­der aus Slě­pe«) und in der »Be­geg­nung mit Kif­ko« ent­steht für ei­nen kur­zen Au­gen­blick ein Ton der Ver­söh­nung:

[…]
…Ein­mal noch
stif­te ich Frie­den euch, ver­ei­ne
die ha­dern­den Brü­der…

[…]

»Re­fu­gi­en­bür­ger­tum« nann­te Mar­cel Bey­er ein­mal die in­tel­lek­tu­el­le Mit­tel­schicht der DDR, die wie in Uwe Tell­kamps »Turm« ih­re Ni­schen such­te und ihr Ar­ran­ge­ment fand. Lo­renc kommt mir da­ge­gen fast wie ein nim­mer­mü­der, sanf­ter Ex­or­zist vor, der jen­seits al­ler po­li­ti­schen Sy­ste­me oder in­tel­lek­tu­el­len Ent­wür­fe das Schö­ne min­de­stens ein­mal noch fest­hal­ten möch­te. Er be­gibt sich da­für in das Re­fu­gi­um der Na­tur- und, ja, das muss man sa­gen, Hei­mat­be­schwö­rung; ein Rück­zug ganz ei­ge­ner Art, viel­leicht ei­ne wirkungs­mächtigere Wi­der­stän­dig­keit als das des so sehr ge­schätz­ten »Pro­te­stes«. Von Fer­ne er­in­nert das an Wolf­gang Hil­big, aber Lo­renc ist lei­ser. »Der Ein­baum schwamm ge­gen den Strom« heißt ein Ge­dicht, ei­ne wil­de Rei­se, aber der Ein­baum schwimmt nicht al­lei­ne – am En­de stieg mein Schat­ten aus – das ist des Dich­ters Ab­son­de­rung, Ab­spal­tung (und das ist spä­te­stens dann kein Wun­der mehr, dass Hand­ke die­sen Schrei­ber so ver­ehrt).

Die Ver­öf­fent­li­chun­gen der letz­ten Jah­re sind me­lan­cho­li­scher, ele­gi­scher. »Auf ei­nen Gruss« (pu­bli­ziert 2002) ver­ab­schie­det end­gül­tig die Land­schaft der Kind­heit – was der So­zia­lis­mus nicht schaff­te, wird jetzt ent­fernt:

[…]
Ge­ro­det die schat­ten­de Hecke
wo die Win­de schlie­fen
und Vö­gel ge­wohnt.

Wo­bei un­mit­tel­bar das Schwei­gen ob die­ser Zu­stän­de be­hut­sam ein­ge­bracht wird. Es folgt:

Der trocke­ne Mund, ver­schlos­sen
ach­tet des Worts nicht, für das
kei­ne Hand bürgt.

Und in der drit­ten Stro­phe:

Am Weg­rand er­stickt
der Bach, Re­gen schwemmt
fort die Kru­me, es ver­weht sie
der Sturm. Ar­me Er­de
Nest oh­ne Lie­der nun, ach
Gott be­foh­len.

In »Uhr­zei­ger­sinn« heißt es:

[…]
Aber auch oh­ne­dies
neh­me ich deut­lich jetzt
das Vor­rücken der Zeit wahr
se­he, hö­re
die Zei­ger zu­sto­ßen
Se­kun­de
um
Se­kun­de

Er­in­ne­run­gen an den Va­ter, die Mut­ter, de­ren Lä­cheln, das nie ein Spie­gel ihr zeigt. Und plötz­lich wird wie im Traum evo­ziert:

[…]
Mit Scha­ren schwarz­wei­ßer Ka­ter
Streunt das Früh­jahr durchs Dorf

[…]

und der Spa­zier­gang durch das Wie­der­erle­ben des Früh­lings im Dorf en­det:

Tag­schön, Feld­nach­ba­rin!
Wie geht’s? Du wirst noch so
lan­ge ma­chen in dei­nem Gar­ten
bis wie­der al­les blüht
[»Es geht doch«]

Aber: noch so // lan­ge ma­chen – heißt das, nur noch bis im Gar­ten al­les blüht? Ist hier schon die End­lich­keit der Nach­ba­rin ein­ge­wo­ben? Oder ist nur die Zeit des Sä­ens und Her­rich­tens ge­meint?

»Vorm Fen­ster­spie­gel«, ei­nes der 13 Ge­dich­te (von ins­ge­samt 76 aus­ge­wähl­ten), die im An­hang et­was lieb­los als »ver­streut er­schie­nen oder bis­her un­ver­öf­fent­licht« ru­bri­ziert sind (oh­ne zu sa­gen, wann sie er­schie­nen und/oder ge­schrie­ben wur­den), ist schon le­bens­bi­lan­zie­rend:

[…]
Der Stumm­film Le­ben
gei­stert über die Fo­tos
an den Wän­den
ver­ges­se­ne Bil­der

Ge­sich­ter
kaum noch er­kenn­bar,
ge­wan­delt bis man sich
falsch er­in­nert
[…]

Und da schließt sich fast der Kreis zum »Sterbende[n] Hä­her« (1973 ver­öf­fent­licht):

[…]
Aber ich seh: Wir ge­hen
vor­über an IHM,
der stirbt im Klee
auf der klei­nen Wie­se am Wald.

[…]
Den Schna­bel öff­net er ge­gen uns
in laut­lo­sem Schrei – da:
sein Ge­fie­der sträubt sich kind­lich, eh er
ver­sinkt in dem schwar­zen Ge­wäs­ser Schmerz
und wir ihm gleich­gül­tig wer­den.

Nein, ei­ne ex­ak­te li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se der Ge­dich­te – das ist nicht die Sa­che des Idio­ten, der sich die Ver­se er-le­sen muss, den Rhyth­mus su­chend, oft ge­nug beim er­sten Mal schei­ternd, neu an­set­zend und end­lich (end­lich?) das für ihn rich­ti­ge Maß fin­dend. Ich kann nicht an­ders als mich in ei­ne Land­schaft, ein Bild hin­ein zu phan­ta­sie­ren. Und das ist mög­lich, weil Ki­to Lo­renc’ Ge­dich­te of­fen sind, mir hier oder da ei­nen Platz an­bie­ten, den ich ger­ne an­neh­me. Nur da­von ver­mag ich Mit­tei­lung zu ma­chen. An­son­sten sei emp­foh­len: Le­sen.

Die kur­siv ge­setz­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus den Ge­dich­ten von Ki­to Lo­renc.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ah, die­ser Hin­weis auf Lo­renc freut mich! Das Gu­te soll nicht ver­ges­sen sein!

    Weil ich mich bis­her aus An­ti­qua­ria­ten ver­sorgt ha­be – ich bin eher ein Fan von Lo­renz frü­he­ren, we­ni­ger al­ters-ab­ge­klär­ter Ge­dich­te – , bin ich auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se ein biss­chen arg un­be­dacht auf die ar­me Frau von Stand ge­stürzt, als ich um Um­schau­en den Na­men Ki­to Lo­renc las. Es war dann aber ein Buch mit ge­sam­mel­te Auf­sät­zen. (War’s Die Un­er­heb­lich­keit Ber­lins? Trotz des sym­pa­thi­schen Ti­tels weiß ich es nicht mehr ge­nau.)

    Die Da­me wich je­den­falls zu­rück und muss­te mich für die Ge­dich­te auf Suhr­kamp ver­wei­sen.

    Platz x auf mei­ner Nächst-zu-Le­sen-Li­ste ir­gend­wo in dem Zet­tel­wust in mei­nem Kopf­kis­sen.

  2. Aus »Die Un­er­heb­lich­keit Ber­lins« (wirk­lich ein schö­ner Ti­tel) sind 16 Ge­dich­te im Band.

    Ich mag mich ir­ren, aber die Lo­renc-Ge­dich­te hat­te ich in Leip­zig am Suhr­kamp-Stand nicht ge­se­hen. Wä­re scha­de.

  3. Ich hof­fe, Sie ken­nen die­sen klei­nen Ar­ti­kel mit ei­nem Trai­ler zur Pe­trar­ca-Preis­ver­lei­hung von 2012 noch nicht. Nach obi­ger Lek­tü­re kam mir der Be­richt so­fort wie­der in den Sinn, weil ich mir »Die Bucht der Aphro­di­te« von Miod­rag Pav­lo­vic auf die Le­se­li­ste ge­setzt hat­te ( ha­be Pav­lo­vic aber bis heu­te noch nicht ge­le­sen). Der Buch­sta­pel ist ein­fach zu hoch.
    Ih­re vor­ge­stell­ten klei­nen Ly­rik-Skiz­zen von Lo­renc ver­locken. Dan­ke, für die fei­ne Buch­be­spre­chung!
    Und an herr. je­der­mann: »Das Gu­te soll nicht ver­ges­sen sein!« ... da schlie­ße ich mich aber so was von so­fort an!

    Pe­trar­ca-Preis:

    http://www.petrarca-preis.de/preisverleihung/preisverleihung/preisverleihung-2012/

  4. Die­se Be­spre­chung hat mich ganz sehr ge­freut (zu­mal ich mit Blick auf Czor­ne­boh und Bie­le­boh auf­ge­wach­sen bin), auch der Link zum sehr gu­ten Vor­wort von Pe­ter Hand­ke – ich wuss­te bis­her nicht, dass er die Land­schaft kennt und liebt und sich für die Sor­ben in­ter­es­siert. Das Buch wer­de ich auf je­den Fall le­sen und freue mich dar­auf. – Zur »Quel­le« fiel mir – ne­ben dem von Ih­nen an­ge­spro­che­nen Ur­sprung, der Na­tur – spon­tan der sor­bi­sche Brauch des Oster­was­ser­ho­lens ein: Die Mäd­chen und Frau­en ho­len in der Oster­nacht Quell­was­ser, dem ei­ne hei­len­de Wir­kung zu­ge­schrie­ben wird (und dür­fen da­bei nicht spre­chen). – Der Ge­dan­ke ist aber viel­leicht ein biss­chen sehr weit her­ge­holt.