Bei einer Literatur-Veranstaltung in einer Buchhandlung im Friedenauer Dichterviertel sprach die Referentin – eine berühmte Professorin übrigens – so rhetorisch brillant wie unterhaltsam über Thomas Mann und seine Familie und erwähnte dabei einen Zigeuner auf dem gelben Wagen. Das Publikum bestand ganz überwiegend aus jungen und weniger jungen Seniorinnen und Senioren besten, alteingesessenen Westberliner Bildungsbürgertums, sowie Studierenden der Literaturwissenschaften, und etliche schienen einander zu kennen. Man war eingeladen und aufgefordert, nach dem Vortrag zu diskutieren und Fragen zu stellen. Ich fragte nach dem »Zigeuner«, erfuhr, dass es sich um ein Zitat von Thomas Mann handle und erwiderte, dass es schön gewesen wäre, wenn sie das Zitat kenntlich gemacht hätte, weil der Begriff »Zigeuner« problematisch sei, worauf die Professorin sich sofort der nächsten Wortmeldung zuwandte, die ein anderes Thema betraf.
Hinterher schenkte der Buchhändler Wein aus, und eine jener bildungsbürgerlichen jungen Seniorinnen prostete mir zu mit den Worten, sie sei froh, dass ich das Zigeuner-Zitat angesprochen hätte, denn das Zitat sei falsch. In Wahrheit sei der Wagen grün und nicht gelb! Das könne man nachlesen, sie wisse es bestimmt. Wir nippten am Wein, sie trank weißen, ich roten. Auch dies sei sicher ein interessanter Aspekt, gab ich zu, jedoch sei es mir um etwas anderes gegangen, nämlich um den Begriff »Zigeuner«, der … und wurde unterbrochen damit, dass der Wagen aber wirklich grün …
Es dauerte gar nicht lange, bis die Dame von der falschen Farbe des Wagens abließ, auf den sie aber nun aufgesprungen und der in Fahrt geraten war: »Sollen wir etwa ›Der Sinti-und-Roma-Baron‹ sagen!« schleuderte sie mir kampfeslustig entgegen, darauf ich: »Um Gottes Willen!«, und wieder sie: »Na also!« und, geradezu triumphierend, »Die Zigeunerlieder, die wir in der Kindheit gesungen haben, sind nun einmal Zigeunerlieder, auch wenn Sie damit nicht einverstanden sind, und die Lieder sind wunderschön!« Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht im Traum daran dachte, sich von irgendjemand das Wort »Zigeuner« wegnehmen zu lassen, das führe nämlich auch zu einer Verarmung der deutschen Sprache. Ich hatte eine Hitzewallung. Hätte ich bloß nicht gesagt, dass das Wort »Zigeuner« eine Fremdzuschreibung ist, und hätte ich sie bloß nicht gefragt, was es eigentlich dagegen einzuwenden gebe, Leute bei ihrem Namen zu nennen, denn nun schüttelte sie den Kopf und erklärte seufzend: »Die Zigeuner haben ein Identitätsproblem. Die Juden haben doch auch nach dem Krieg weiterhin »Juden« heißen wollen. Das haben sie ausdrücklich so gesagt, und das hätten die Zigeuner auch machen müssen.«
Von den Plakaten, die zwischen den obersten Reihen der Buchregale und dem hohen Plafond an der Wand angebracht waren, blickten literarische Größen der europäischen Geistesgeschichte auf uns herab. Den Hinweis darauf, dass das Wort »Jude« keine Fremdzuschreibung, sondern eine Eigenbezeichnung wie »Sinti und Roma« ist, hielt ich nunmehr für vergeblich und erwog darum, einen Skandal in Szene zu setzen. Das Umfeld war geeignet, um die Stimme etwas zu heben und zu erklären: »Also gut, wenn Sie ›nach dem Krieg‹ sagen und auf ›Zigeuner‹ bestehen, dann sage ich ›nach der Shoa und nach dem Porajmos‹ und bestehe darauf, Sie mit jener Fremdzuschreibung zu nennen, mit der wir Deutschen damals von der Weltöffentlichkeit bezeichnet wurden, und auch ein Schimpfwort hänge ich an, weil das Wort ›Zigeuner‹ immer auch als Schimpfwort in Gebrauch ist.« Hierauf, ohne ihr Zeit für eine Entgegnung zu lassen, und noch etwas lauter, so dass alle es hören würden, würde ich mich an den wirklich charmanten Buchhändler wenden: »Entschuldigen Sie, diese Nazischlampe hier möchte noch etwas Weißwein nachgeschenkt haben«, und dann wieder zu ihr: »Wer Nazi ist, bestimme ich, nicht wahr?«
Die Hitzewallung ließ nach. Natürlich tat ich es nicht. Ich unterließ es aus purer Feigheit, und weil ich befürchtete, dass sich alle Anwesenden mit der selbsternannten Zigeunerbaronin honoris causa in einem kollektiven Identitätsproblem solidarisieren würden, und der Skandal so zum Gegenteil seines Zwecks geworden wäre. Dieser sekundenbruchteilkurze Blick, mit dem mich vorhin die Professorin noch angesehen, bevor sie den Rentner rechts neben mir zu seinem Redebeitrag aufgefordert hatte, war bedenklich gewesen. Es hatten darin gleichermaßen das Wissen um die Problematik und eine radikale Verweigerungshaltung gelegen, so als wolle sie sagen: »Darüber reden wir nicht. Und schon gar nicht mit Leuten, die unsere Redeweise kritisieren, aber nicht einmal das Thomas-Mann-Zitat kennen.«
Sogleich sollte ich es kennenlernen, jenes Thomas-Mann-Zitat, das die berühmte Professorin offenbar auch nicht recht kannte, denn es stellte sich heraus, dass der Wagen tatsächlich grün war.
Wie einige andere Besucherinnen und Besucher der Veranstaltung auch, war ich inzwischen nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Die kalte, frische Luft tat gut. Ich bat um Feuer, und noch bevor die anderen die Bitte überhaupt registriert hatten, nickte, zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf und griff mit der Linken in die Hosentasche nach dem Feuerzeug eine jener Studentinnen der Literaturwissenschaft. Während sie mir die Flamme an die Zigarette hielt, begann sie mit ungeheurer, geradezu zungenbrecherischer Geschwindigkeit zu sprechen: »Sie haben doch vorhin nach dem »Zigeuner«-Zitat gefragt …«, und dann brach ein Redeschwall auf mich nieder, der seinesgleichen suchte.
Die Studentin war besorgt, Thomas Mann gegen den Vorwurf der Sinti-und-Roma-Feindlichkeit zu verteidigen, obgleich niemand diesen Vorwurf erhoben hatte. Es ging soweit, dass ich eine Zigarette drehte, in der Absicht, sie ihr anzubieten, um in dem Augenblick, indem sie daran zog, einzuhaken. Nichts desto trotz lernte ich, dass das Zitat vom »Zigeuner auf dem grünen Wagen« im Bajazzo und im Tonio Kröger vorkäme, im Kröger leitmotivisch; dass der »grüne Wagen« kein Wagen und der »Zigeuner« kein Mensch sei, beide seien reine Metapher. Der »Zigeuner« als Metapher. Und zwar als Metapher fürs Künstlertum, für die gefahrvolle, unordentliche Welt jenseits gesicherter und wohlgeregelter Bürgerlichkeit. Ausbruch aus Normen, Freiheit, Lust, Risiko, gespeist von tödlichen Sehnsüchten und Ängsten, die die wildesten Fantasien ins Kraut schießen lassen: Die Elite europäischen Literatentums projiziert ihre Abgründe. Das überlebt keiner, und vor allem keine von ihnen. Sie müssen alle sterben, sie haben Glück, wenn sie bloß fallengelassen werden im Text. Nationaldichter Goethe, der alte Oberzigeunerliterat, geht weit über die Schmerzgrenze primitivsten Anstandsgefühls für die Würde menschlichen Daseins hinaus. Dieser Dreck – und sie habe Goethe nur als Repräsentant genannt und ihn ausgewählt, weil er Nationaldichter sei – dieser Dreck zieht sich als Roter Faden durch die literarische Hochkultur bis in die Gegenwart und wirkt nicht nur ins soziale Leben, sondern wirkte in der Vergangenheit nachweislich auch in die Recht‑, man möchte sagen Unrechtsprechung hinein. Ich hielt ihr die Zigarette hin. Bei Thomas Mann aber gebe es keine bunten Kopftücher, keine Warzen auf der Nase und tiefschwarzen Augen, keine nackten Füße, keine Hühnerdiebe, Beutelschneider, Wahrsagerinnen und Seiltänzer, keine blitzenden Ringe an Fingern und goldenen Kettchen an braunen Hälsen. Es würden keine Kinder geraubt, es werde nicht analphabetisch gestammelt, nicht gestohlen, nicht gelogen, nicht sexuell verführt, und vor allem: nicht verschwunden. Nichts dergleichen. In Manns erzählerischen Werk träten »Zigeuner« erst gar nicht auf.
Längst waren die anderen wieder hineingegangen. Die Studentin und ich hatten die Schultern hochgezogen und traten von einem Bein aufs andere. Es war doch ziemlich kalt, wenn man so lange stand, ein wärmendes Zigeunerlagerfeuer, das wärs jetzt gewesen, stattdessen der viel zitierte Satz von Thomas Mann aus den Betrachtungen:
»Der Künstler ist und bleibt Zigeuner, gesetzt auch, es handelte sich um einen deutschen Künstler von deutscher Kultur.«
Die Studentin ereiferte sich. Es sei bezeichnend, dass von diesem Satz fast immer nur der Anfang zitiert und der zweite Teil unterschlagen werde! Mit dem zweiten Teil aber verkehre Mann das Leitmotiv deutscher Zigeunerliteratur, nämlich die Verstoßung aus der Gesellschaft, in ihr Gegenteil. Ohne Deutschtum, kein »Zigeunertum«. Das »Zigeunertum« als deutsches Kulturprodukt: Die Abgründe und Ängste der – wie wir heute sagen würden – Mehrheitskultur und eben nicht die tatsächlich hier lebenden Sinti und Roma, für die sich Mann zu seiner Zeit allem Anschein nach kaum interessiert habe.
Aus der Buchhandlung kamen die ersten Gäste heraus, um nach Hause zu gehen, zwei ältere Herren hielten noch ein Schwätzchen vor der Tür.
Das Problem sei eigentlich, fuhr die Studentin fort, dass man Roma und Sinti fälschlicherweise für Zigeuner halte, obwohl Zigeuner in Wahrheit nichts anderes seien, als unsere Leichen im Keller, kostümiert als Mignon, Zigeunerbaron oder Carmen, und bedeckt von der Asche aus den Öfen der Lager.
Die älteren Herren verabschiedeten sich, und dann ging jeder in eine andere Richtung davon.
Letztendlich müsse man sagen, so die Studentin: »Wir nennen unser Identitätsproblem ›Zigeuner‹«, nur müsse man dabei irgendwie gewährleisten können, dass es nicht wieder auf die Sinti und Roma übertragen werde, man habe ja gesehen, wo das hinführt.
Die älteren Herren waren verschwunden, jeder um ein anderes Eck.
»Ich muss jetzt auch gehen«, sagte ich, »nur eins noch, diese Dame dahinten, die in dem legeren Kostüm, ja, genau die, mit der hab ich vorhin auch ganz kurz über dieses Thema gesprochen, die ist fürchterlich interessiert, sprechen Sie die mal an.«
Weiterführende Literatur:
– »Dasein als Staffage – Zur literarischen Inszenierung der ›Zigeuner‹« Radiofeature von Beate Ziegs (PDF):
http://www.dradio.de/download/143164/
– »Inszenierung des Fremden. Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung« Hg.: Silvio Peritore und Frank Reuter:
http://www.sintiundroma.de/uploads/media/TagungsbandEnd.pdf
– »Europa erfindet die Zigeuner« von Michael Bogdahl:
http://www.suhrkamp.de/buecher/europa_erfindet_die_zigeuner-klaus-michael_bogdal_42263.html
Das habe ich jetzt interessiert gelesen, weil ich mich neulich selber darum bemüht hatte herauszufinden, ob ich in einer Erzählung Zigeuner noch „Zigeuner“ nennen durfte.
Ich habs dann getan, nicht nur, weil „Sinti und Roma“ die ganze Sache in einen falschen Anklang zu dieser Korrektheitshölle gebracht hätte, in der irgendwelche Alttäter anscheinend zurecht schmoren neben den Neuen, die es besser machen wollten (etwa entsprechend der Aly-These mit den Nazis und der RAF). Sondern auch, weil ich dabei meine eigenen – ich bin unschuldig!, nach den eingängigen Dialektik-Pirouetten also umso schuldiger obwohl mir mit diesem Gedanken erlaubt wird, ihn scheinbar zu durchblicken – weil ich also in der Geschichte meinen eigenen Abgrund mal kurz aufklaffen lassen wollte. Ja, ich brauchte mal kurz den Zigeuner als das Andere meiner selbst! (Ich habe es dann aber auch wieder zurückdrehen müssen, weil es gewisse andere, nicht mehr kontrollierbare Effekte im Text gehabt hätte. Interessant!)
Kleine Abschweifung: Die meisten der Zeitgenossen haben sich so sehr daran gewöhnt, dass die Sprache lügt – „die Politiker“ lügen, die Eliten lügen, die Reklame lügt, die Nachrichten lügen… und eigentlich jeder, der ein Interesse zu überzeugen hat, lügt sowieso –, dass es manchmal so einen Rückgriffseffekt gibt auf die alte, vermeintlich unverfälschtere Sprache. Die ist natürlich nicht wahrhaftiger und nie gewesen, sie scheint nur durch Gebrauch und Beharrung geklärter. Aber der Effekt wirkt trotzdem.
(„Haut mir bloß ab mit diesem Verdreher-Scheiß: Ich werde einen Drecksack einen Drecksack nennen.“ Das kann in einer Kneipe dann schon mal eigene Überzeugungskraft haben, obwohl es nach allen Regeln der Höflichkeit und besseren Einsicht falsch ist. Ich selber gehe übrigens fast nie in Kneipen, auch wegen solcher Vergemeinschaftungseffekte. Zu einem solchen Professorinnen-Vortrag würde ich allerdings auch nicht gehen. Vielleicht müsste man überhaupt so manches Wissen wieder schließen.)
Dem Volk also eins aufs Maul? Das wäre fatal. „Die Wahrheit“ – gedacht als „Referenz“ (etwa auch: sich in einem sprachlichen Werk darauf zu beziehen) – , die Wahrheit also und nicht deren pathetischen Konstruktionen, wird immer noch zwischen Menschen ausgehandelt und wie sie reden. (Was natürlich seinerseits etwas pathetisch, das heißt auch wieder ein bisschen Lüge ist. Aber ohne die kleinen Falschheiten kämen wir ja zu nix – nicht einmal an Annäherungen, was sie denn meinte, erreichten wir sie. Und so, mit der Anstrengung, wird sie dann immer öfter egal.)
Diese Konstruktionen des Eigenen aus dem Anderen, aus Projektionen und Zuschreibungen sind natürlich eine schicke Selbstläufermaschinen. Jeder braucht seinen Zigeuner (seinen Neger, seinen Deutschen, die jüdische Weltverschwörung etc.) – man dankt es denen nur nicht. Will sagen, das Andere kann eh nie zu Ende bestimmt werden. Nur werden diese dialektischen Pirouetten dahin auch nie so richtig gängig, sie laufen und laufen… und nicht zuletzt, weil es bald neue gibt, macht man sie irgendwann nicht mehr mit. Die Leute, die untereinander unbeirrt „Zigeuner“ sagen, wissen alle, was gemeint ist, und das hilft soweit. Die Komplizierungen brächten ihnen keine Verbesserung. Nur neue Sprachregelungen, deren Sinn nicht nachvollzogen wird.
Selbst wenn das aktuell Richtige tatsächlich besser wäre als das gestrige Richtige: Wir müssen ja auch noch bedenken, dass nicht schon wieder die Deutschen die Korrektheits-Klassenbesten sein w/sollen daran zu genesen, und die eigenen besseren Einsichten aufzuzwingen. Wohlgemerkt, die mögen vernünftig erscheinen, aber – siehe etwa „die Energiewende“ -, indem wieder die Lügner, also längst diskreditierte Verdächtige darüber bestimmen, wer sie bezahlt, läuft daran wieder etwas falsch. Und wer kann die behandelten Kompliziertheiten je wirklich durchblicken?
Alle Kritik am Menschen läuft darauf hinaus, ihn „an sich“ zu ändern. Wahrscheinlich ist dafür in einer Gesellschaft wie unserer sogar höchste Zeit. Aber natürlich gebiert der richtige Gedanke dann wieder x falsche. Und man weiß ja auch, dass das Bessere das Schlimmere mit sich bringt und wer kann das wollen? Und so weiter.
Wenn wir Thomas Mann umschreiben, werden wir ihn auch nicht mehr haben, um daran unser früheres falsches Selbst zu erkennen. Meine eigene Verdächtigkeit behält ihn dann lieber, sozusagen als einen ihrer Lieblingszigeuner.
@ en-passant: Ich möchte nur kurz etwas zu der Korrektheitshölle sagen, die Sie in Ihrem Kommentar namentlich erwähnen. Es ist überaus angenehm dort, aus dem einfachen Grunde, weil man vor Diskriminierungen sicher ist, und das sogar dann, wenn man dem herrschenden Teil der Mehrheit angehört. Besuchen Sie uns doch einmal. Sie werden es genießen.
Auch wenn ich nicht gemeint bin: Nein, ich möchte der Einladung in die Korrektheitshölle nicht folgen. Neulich habe ich ein Kritikergespräch über James F. Coopers »Der letzte Mohikaner« gehört. Das Buch ist neu übersetzt erschienen und wie nebenbei lobte der Kritiker, dass die neue Übersetzung Begriffe wie »Halbblut« nicht mehr verwende. Das ist natürlich sehr korrekt. In der schriftlichen Besprechung ist dieser Hinweis leider nicht enthalten. Es ist ja bekannt, dass Mark Twain in den USA jeglicher N‑Wörter entledigt wurde, obwohl gerade diese Diskriminierungen in seinem »Huckleberry Finn« eine nicht geringe Rolle spielen (einfach als Chronik der Zeit).
Als Handke in »Langsame Heimkehr« 1979 seinen Protagonisten auf der ersten Seite mit einem »Bedürfnis nach Heil« auf die Reise schickte, stöhnte das Feuilleton damals ob der Verwendung dieses Begriffs auf. Wie kann man nur dieses durch die Nazis inkriminierte Wort sozusagen positiv verwenden? Handkes Gedanke ist der Umgekehrte: Er will die Begriffe denjenigen, die sie für ihre Verbrecherideologie mißbraucht haben, wieder entreissen in dem er sie neu und anders »besetzt«. Das ist natürlich anstrengender als einfach nur Wörter streichen. Wenn man Klemperers »LTI»gelesen hat, fällt dies zunächst schwer, aber mit Verbotslisten durch die Welt zu gehen, empfinde ich irgendwann nur noch lächerlich. Der Sprachgebrauch muss im jeweiligen Kontext beurteilt werden.
Da kann dann natürlich auch »Jude« pejorativ gemeint sein, obwohl es vielleicht formal stimmt. Mein Vater (Jahrgang 1913) spielte immer dieser sprachlichen Kippfigur. Wenn er im Fernsehen jemanden sah und bemerkte, dass dieser ein Jude sei und dann meine Mutter einschritt und meinte, das sei doch unwichtig, heuchelte er, uns nur eine Information gegeben zu haben.
Natürlich sind Begriffe wie »Zigeuner« oder »Neger« noch stärker kontaminiert, weil sie zumeist die Verächtlichmachung in sich tragen. Die USA zeigen aber, dass Verbote die Gesinnung der Gesellschaft nicht ändern. Die rassistischen Vorbehalte sind dort nur an der Oberfläche verschwunden; es schwelt weiter, wie man am Wahlkampf um die US-Präsidentschaft ein bisschen sehen konnte. Auch sonst kommt man mit Amerikanern (auch den vermeintlich progressiven New Yorkern) im Gespräch schnell auf stereotypische Aussagen. Die Afro-Amerikaner sind zum Teil längst weiter und spielen mit den Wortzählern (das hier ist ja auch inzwischen fast berühmt).
Also in der Korrektheitshölle gibt es keine verbotenen Wörter, sondern das Gebot der Aufmerksamkeit für die Wortwahl, bei der natürlich der Kontext mit entscheidend ist. Und wenn jemand in der Korrektheitshölle sagt: »Leute, seid so gut, nennt mich nicht Zigeuner, Neger, etc..« dann hält man sich halt dran, und das tut auch gar nicht weh. Es geht eigentlich nur darum, niemand zu kränken. Das ist alles.
Ob man alte Werke umschreiben soll oder nicht, wird in der Korrektheitshölle leidenschaftlich diskutiert. Gut, dass man darüber mal redet. Ich persönlich fände es am schönsten, wenn man sie lassen würde und etwas Liebe darein steckte, sie so zu präsentieren, dass kein Raum für Missverständnisse bleibt. Ob das aber nun in jedem Fall das richtige, oder wenigstens sinnvoll wäre, kann ich nicht beurteilen.
Interessant, dass in dem Text eigentlich alle an einander vorbeireden, sich kein Konsens ergibt, auf dem ein Gespräch in seinem Wortsinn stattfinden kann, obwohl oder gerade weil alle Personen von der Thematik (in einer anderen Weise) betroffen sind.
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Beleidigung oder Beleidigtsein kann, wie Herr Mangold unlängst im Deutschlandradio sehr richtig bemerkt hat, in einem absoluten Sinn (!) nur für Kinder Geltung haben: Von einem Erwachsenen darf man annehmen, dass er (wenigstens) in einem Fall von Zweifel reflektieren kann, dass Wörter von verschiedenen Personen in verschiedentlicher Absicht gebraucht werden und ihre Bedeutung keineswegs festgesetzt ist. Nicht nur achtgeben was man sagt, das sollte man eigentlich immer, fast immer jedenfalls, sondern auch darauf, was wie verstanden wird (und werden kann).
Manchmal kommt mir diese Art der Korrektheit schon fast wie Verdrängung vor, etwa historischer Gegebenheiten oder, dem Beispiel in der Kneipe folgend: Ist es nicht selbst in der Öffentlichkeit manchmal besser zu wissen was jemand tatsächlich denkt? Zu bedenken wäre, dass das weder Narrenfreiheit noch Konsequenzlosigkeit für dessen Tun bedeutet.
mir ist, als wäre ich dabei gewesen.
Ein sehr schöner Text.
Es ist inzwischen gut belegt, wie Sprachgebrauch (u.a. die Wortwahl) das Denken und Handeln beeinflusst. Hier ein bisschen sensibel zu sein, schadet also nicht. Derzeit scheint das Pendel aber gerade nach der anderen Seite auszuschlagen – in Richtung eines überkorrekten (und meistens ultrafeministischen) Sprachgebrauchs. »Neger« kommt ja hierzulande kaum vor und auch um den Gebrauch des Wortes »Jude« drückt man sich (bzw. ich mich) nach Kräften. Aber dass an der Uni an meinem Heimatort »Studenten« ein Unwort ist und nur noch »Studierende« genehm sind, das hat schon reichlich skurrile Züge.
@Köppnick
Hinzu kommt noch, dass die Wörter Student und Studierender semantisch nicht deckungsgleich sind.
Dies erklärt hier: http://www.scilogs.de/wblogs/blog/sprachlog/sprachstruktur/2011–12-14/frauen-natuerlich-ausgenommen der Sprachwissenschaftler A. Stefanowitsch und an dieser Stelle gibt es auch ein Video dazu
das Video: http://www.youtube.com/watch?v=vOMlvVgPKaM
Um dann noch ein paar Links mehr zu setzen: Hier der zum Logoklasten Stefanowitsch auf diesem Blog. Und hier zu einem provokativen Text von Alban Nikolai Herbst.
(Das alles erinnert mich ein bisschen an die Sendungen von Radio Tirana in deutscher Sprache in den 1970er Jahren.)
Da habe ich auch noch einen.
Erstmal: Eine sehr schöne erzählende Berichterstattung. Sie wirft ein Licht auf die Frage, wie einen alle Kultur, Sensibilität und Klugheit nicht per se zum Menschenfreund macht.
Ähnlich ist es auch mit den Wörtern und den Bezeichnungen. Der Wettlauf gegen die Assoziationen geht immer verloren, solange die Gemeinheit anhält. In den USA gibt es inzwischen eine regelrechte Traditionskette der Umbenennungen: von nigger zu negroe zu black zu coloured people zu diversified ... doch auch das diversified wird irgendwann nicht mehr nichtssagend genug sein und man sucht ein neues, noch allgemeineres Bedeutungsneutrum. Das hilft nur nichts, wenn die alten Assoziationen sich nicht auflösen, sondern sich immer bald wieder an die neuen Wörter anheften. »Er ist ethnisch diversifiziert« ist dann das neue »He’s a black person«. Wenn wir alle die Sinti bis in unsere Träume hinein nur noch Sinti nennen würden – was hilft es, wenn wir immer noch denken, der Künstler sei doch so eine Art Sinti und »die Liebe ist ein Sintikind, nie hat sie ein Gesetz gekannt«? Das macht den Sprachkampf einerseits zu etwas, das dem Kampf des Oberlehrers um das korrekte Deutsch ähnelt, anderseits – und das haben sie schön geschildert – darf man nicht aufhören, den Schutzzaun um diese Assoziationen zu stören, denn erst dann werden »wir« (als Sprachgemeinschaft) uns der Barbareien bewusst, die hier und dort mehr oder minder offen mitgeschleppt werden durch die Jahrhunderte. Aber das eigentliche Elend sind nicht die Wörter, sondern die Assoziationen, die Vorurteile, die Automatismen. Das heißt auch, dass 2 Leute Zigeuner sagen können und dabei ganz unterschiedliche Vorstellungen haben. Jemand wie Thomas Mann erträumt sich darin Wesensfreunde des unbürgerlichen Künstlers, ein anderer denkt »schmutzig, Bettler, Betrüger, Taschendiebe«. Ähnlich ist es mit dem Begriff »schwul«, der inzwischen gleichermaßen menschenfeindlich wie ganz neutral und anti-menschenfeindlich gemeint sein kann. Gibt viele solcher Wörter, die heftig oszillieren können. Für Schriftsteller —die Kernaufgabe beim Schreiben, die Assoziations(ge-)schichten ständig im Auge zu haben.
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A propos Mark Twain:
Der wurde in seinem Leben zweimal in Sachen »N.« zensiert (und 100 Jahre nach seinem Tod zum dritten Mal).
Lustig und vor allem: entlarvend! ist, dass die Zensur damals zuerst sein offensichtliches Wohlwollen dem »Nigger« gegenüber ganz ganz pöse fand. Später dann war’s umgekehrt: Der N. wurde der Zensur nicht positiv genug dargestellt und überhaupt darf man ja nicht mehr »Nigger« schreiben.
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Oder war’s zeitlich andersrum?
Egal. Hauptsache die Stefanowitschs dieser Welt haben was zu meckern, sorry: zu tun.