Wer reist heute noch mit dem Schiff? Niemand. Ein paar Neureiche, die nach dem Luxus vergangener Zeiten haschen. Eine Handvoll Techniker, die die Automatik der Frachter überwachen. Scharen von Habenichtsen, die auf rostigen Kähnen die Festung Europa bestürmen (eine Festung, die sagenhafte Reichtümer birgt).
Das Jahr 1989 verbrachte ich in Sizilien. Es war das Jahr, in dem die Mauer fiel. Jeder weiß, was gemeint ist: die Mauer, die Berlin in zwei Teile teilte; und die nicht fiel, sondern überrannt, ignoriert, zerstört wurde. Eines Morgens im November nahm ich in Trapani den Bus nach Erice. Dieses Dorf liegt hoch über dem Meer, die hinführende Straße macht Serpentinen und Spitzkehren. Außer mir waren nur zwei Fahrgäste im Bus, die mit dem Chauffeur bekannt waren. Während er das Fahrzeug mit der üblichen traumwandlerischen Sicherheit die Abgründe entlang lenkte, blickte der Chauffeur in den Rückspiegel, um die Gesichter der Gesprächspartner im Augenwinkel zu behalten. Er erzählte von den Bildern in den Fernsehnachrichten am Vorabend. Er schien sehr zufrieden zu sein. Die Leute, berichtete er, hatten auf der Mauer getanzt. Das hatte ihm gefallen. Es war ein wunderbares Schauspiel gewesen. Die beiden Fahrgäste, alte, verdorrte Männer, nickten. Sie hatten das Schauspiel versäumt. Ich selbst schaute während der Fahrt auf die Muster der Meeresfläche tief unter uns; die weißen Rechtecke der Salzberge vor der Küste; die dunklen Höcker der Inseln weiter draußen. Ich dachte: Was geht mich das an, Berlin. Ich dachte: Was soll diese Hysterie. Später, abends, sah ich in Erice einen der beiden Fahrgäste still vor seiner Haustür sitzen.
Festung Europa, das war ein Begriff, den die deutschen Nationalsozialisten aufbrachten. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die europäischen Küsten, die Grenzen des deutschen Herrschaftsraums, sollten geschützt werden vor Feinden, die übers Meer kamen. Eine Kette von Bunkern wurde errichtet, die Küstenlinie mit Verteidigungsposten gespickt. Die unzerstörbaren Bunker kann der Spaziergänger heute als Kuriosa bewundern. Der beschauliche Spaziergänger wird eine ganze Betonromantik entdecken. Das Weltall ist in uns, sagte Novalis. Einige Bunker stehen so abweisend da wie eh und je. Andere dienen als Museen oder Kulturzentren. Wieder andere wurden von den Dünen verschluckt. Andere von Flechten oder Gestrüpp überwachsen. Einige sind gekippt. Paul Virilio hat ein Buch über das alles geschrieben: Bunkerarchäologie. In diesem Buch steht der Satz: »Die Bunker der europäischen Küste sind von Anfang an Grabsteine des deutschen Traums.«
Vergleiche hinken. Sie haben zwei ungleiche Beine. Ein Vergleich ist eigentlich ein Ungleich. Nichts ist gleich; alles ist Vergleich. Machen Sie sich Ihren eigenen Reim. Man sagt, die europäische Küste sei Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, nach dem Fall der Mauer, erneut befestigt worden. Man sagt, die sizilianische Küste gehöre zu den bestbewachten. Der Ansturm sei an der sizilianischen, kalabrischen und apulischen Küste besonders heftig. Man sagt, nachdem die Berliner Mauer zerstört und der Eiserne Vorhang niedergemacht worden seien, habe man neue Mauern und Vorhänge errichtet, um Freiheit und Wohlstand zu schützen. Einige bezeichnen es als Ironie der Geschichte, daß die Regierenden uns Westeuropäer, die wir in Freiheit, aber auch Wohlstand leben, heute vor demselben Menschenschlag schützen, den sie (also wir) vor dem Fall der Mauer um teures Geld von der anderen Seite herübergekauft haben. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt und sind gleich geblieben.
Ungefähr ein Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg spielt Leonardo Sciascias Erzählung Die lange Reise. Es ist eine fast anonyme Geschichte, die hier erzählt wird: nur der Bösewicht, der Betrüger, erhält einen Namen, während die betrogenen sizilianischen Bauerntölpel als Gruppe auftreten, aus denen sich kaum ein Individuum löst. Diese Männer aus Dörfern in ausgedörrten Landstrichen verkaufen ihr geringes Hab und Gut, um nach Amerika auszuwandern, wo sie, wie sie glauben, so viele Dollars verdienen werden, daß sie sich das Geld lässig in die Hosentaschen stopfen können. Sie zahlen zweihundertfünfzigtausend Lire an Signor Melfa, der wie eine Art Handelsvertreter aussieht und sie übers Meer zu bringen versprochen hat. An einem Strand zwischen Gela und Licata gehen sie nachts an Bord. Schon nach elf Tagen Fahrt (anstelle der angekündigten zwölf) erreichen sie, wiederum nachts, eine Küste, die sie für die amerikanische halten, so reich funkeln in ihren Augen die Städte. Im Schutz der Dunkelheit marschieren sie landeinwärts. Die Fiat 500 und 600, die sie auf der Straße vorüberfahren sehen, halten sie für Spielzeugautos, die die reichen Amerikaner ihren Kindern schenken. Auch als sie auf das Straßenschild mit den Ortsangaben Santa Croce Camarina – Scoglitti stoßen, schöpfen sie noch keinen Verdacht. Erst nachdem sie ein Auto angehalten haben, um rascher nach »Trenton« zu kommen, und vom Fahrer beschimpft werden, wird ihnen klar, daß sie sich nur wenige Kilometer vom Ort ihrer Einschiffung entfernt haben. Die lange Reise hat sie zurück an die sizilianische Küste gebracht, und Signor Melfa hat sich in der Zwischenzeit samt ihrem Geld aus dem Staub gemacht.
Sciascia ist ein arabischer Name. Vom neunten bis zum elften Jahrhundert war Sizilien arabisches Herrschaftsgebiet, zahlreiche Orte wurden von Nordafrika aus kolonisiert. Tausend Jahre später begann die Auswanderungsgeschichte der Sizilianer, sie fällt mit der weltweiten Industrialisierung und der Schaffung eines italienischen Nationalstaats zusammen. Die Habenichtse der großen Bauernfamilien gingen nach Nord- oder Südamerika, sie landeten in New York oder Buenos Aires. Im zwanzigsten Jahrhundert setzte die innereuropäische und inneritalienische Migration ein. Als ich in Sizilien, es war im selben Jahr 1989, wenige Monate vor dem Mauerfall, eine Verletzung erlitt und operiert werden mußte, rieten mir meine sizilianischen Bekannten, den Eingriff im Norden vornehmen zu lassen. Ich fuhr nach Bergamo, wurde dort von einem Arzt aus Racalmuto, dem Heimatort Sciascias, operiert. Einige meiner Studenten an der Universität Catania waren Kinder von Auswanderern, die aus Deutschland oder Belgien zurückgekehrt waren. Sie sprachen Deutsch oder Französisch mit dem Akzent des Orts, an dem sie aufgewachsen waren. Italien, selbst Sizilien, war inzwischen zu einem Einwanderungsland geworden. An der Via Etnea, der Straße, die zum Ätna hin ansteigt, boten dunkelhäutige Männer ihre billige Ware zum Verkauf.
Die folgende Geschichte, sie spielt im Juli 2001, hat einen anonymen Erzähler. Vielleicht würde Sciascia sie hören und weitererzählen, wäre er noch am Leben.
Am Strand von Santa Croce Camarina, zwischen Scoglitti und Punta Secca, entdeckten sizilianische Fischer noch vor Sonnenaufgang zwei leblose Körper. Sie verständigten die Küstenwache, die drei weitere Leichen und elf überlebende Ankömmlinge aufspürten. Etwas später hielt eine Polizeistreife auf der Straße nach Santa Croce Camarina zwei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder an. Tags darauf wurde ein weiterer Schiffbrüchiger festgenommen und in ein Flüchtlingslager gebracht. Dieser Mann hatte eine Gehirnerschütterung erlitten und war eine Zeitlang bewußtslos im Meer getrieben, ehe er sich an den Strand retten konnte. Er war ein Berber aus Algerien, sprach leidlich Englisch und berichtete, daß er zusammen mit einer Gruppe junger Männer aus seinem Dorf das Land verlassen habe. Ein Geschäftsmann aus Tunis habe sie mit einem Schiffsbesitzer zusammengebracht, der sie für fünfhundert Dollar nach Malta übergesetzt habe. In Malta hätten sie mit einer Gruppe von Italienern Kontakt aufgenommen, die sie zusammen mit etwa vierzig anderen Personen auf einem Schnellboot nach Italien bringen sollten. Italien, habe es geheißen, aber die meisten hätten immer wieder Deutschland gesagt, Germany, und einige hätten auch Amerika! gerufen. Er habe sich mit diesen Leuten, die einen Teil ihrer Koffer und Bündel in Malta zurücklassen mußten, nur schlecht verständigen können, weil ihr Dialekt ein ganz anderer sei als der ihm bekannte. Sie stammten aus dem Irak, die meisten von ihnen seien Kurden. Die Überfahrt habe nicht sehr lange gedauert, einige Stunden, die halbe Nacht. Sie hätten sich beim Sitzen abwechseln müssen, weil das Boot überfüllt war. Vor der Abfahrt hätte jeder noch einmal tausend Dollar bezahlen müssen. Eine Familie, die fast kein Geld mehr hatte, habe zurückbleiben müssen. Der Mann habe gedroht, sich ins Meer zu stürzen. Die Italiener hätten gelacht. Er selbst, sagte der Berber, habe sich auf eine lange Reise vorbereitet gehabt. Proviant für zwei oder drei Tage, sonst kein Gepäck, seinen Besitz habe er in Algerien verkauft. Er habe vierhundert Dollar in einen Gurt eingenäht mit sich geführt. Den Gurt und das Geld habe ihm später das Meer gestohlen. Nachdem sich das Boot von Malta entfernt hatte, habe der Kapitän den Motor aufheulen lassen wie bei einem Motorrad. Das Boot sei von Welle zu Welle gesprungen, als würde es fliegen. Manchmal habe es heftig gerumpelt, dann hätten sich die Passagiere aneinander festgehalten, es habe Gefahr bestanden, daß einer von ihnen über Bord geht. Nach mehreren Stunden, vor Sonnenaufgang, sei der Motor plötzlich verstummt. In der Ferne habe man das Funkeln der Lichter einer kleinen Stadt ahnen können. Italien! Europa! Amerika! haben einige geschrien, aber die meisten waren mißtrauisch und schwiegen. Das Boot lag minutenlang reglos. Man hörte die Stimmen der drei Besatzungsmitglieder aus der Kabine. Womöglich hatten sie einen Streit. Junge Burschen, in meinem Alter, sagte der Mann (zur Veranschaulichung deutete er auf seinen Kopfverband). Nach einer Weile kam einer von denen heraus und verlangte, daß alle ins Meer gehen sollen. Es ist nicht mehr weit, sagten sie, Ende der Reise. Es gab zwei kleine Schlauchboote, die ausschließlich Frauen und Kinder benützen durften. Die Männer, die mit den Frauen und Kindern verwandt waren, protestierten. Der Anführer der Italiener sah sich bedroht und zog eine Pistole. Erst als er in die Luft schoß, wichen die aufgebrachten Männer zurück. Die beiden anderen Italiener stießen die Schlauchboote ab; als die Boote beinahe außer Sichtweite waren, stürzten sich die meisten Männer ins Meer, um schwimmend das Ufer zu erreichen. Ich selbst und etwa die Hälfte meiner Freunde weigerten uns, von Bord zu gehen. Von einem weiß ich mit Bestimmtheit, daß er nicht schwimmen konnte. Ich sage konnte, weil ich nicht glaube, daß er noch am Leben ist. Wir wehrten uns, aber die beiden Italiener trieben uns mit Rudern an den Bootsrand, während der Anführer mit der Pistole auf uns zielte. Ein Kleinkind war allein an Bord geblieben; es schrie und schrie; bestimmt saß die Mutter in einem der Schlauchboote. Der mit der Pistole brüllte das Kind an, bevor er die Nerven verlor. Er packte es und warf es ins Meer. Kurz darauf spürte ich einen dumpfen Schlag an meinem Kopf. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, war es schon hell. Ich lag rücklings im Wasser. Ich sah den Hügel hinter der Bucht. Ich habe Glück gehabt. Ich stellte fest, daß mich die Wellen trugen. Dabei kann ich nicht schwimmen, ich war nie im Leben am Meer. Italien oder Amerika, das ist mir egal. Meinetwegen Sizilien. Hier waren schon meine Vorfahren? Ich bin ein politischer Flüchtling, schreiben Sie das! Zu Hause bringen sie mich um. Ich habe keine Papiere. Das Meer hat die Papiere geschluckt wie das Kind und das Geld.
Diesen Text habe ich, L. F., 2001 geschrieben, vor fast fünfzehn Jahren. Er stieß damals auf wenig Interesse. Inzwischen nehmen sich die Massenmedien und in ihrem Gefolge einige Schriftsteller des Themas an, oft mit guten Absichten. Die historische, in die Gegenwart hereinwirkende Konstellation, die der Text beschreibt, hat sich seit der Jahrtausendwende nicht geändert.
© Leopold Federmair