In einem Gespräch aus dem Jahr 1993 mit Carsten Gansel, das im neulich vom Verbrecher-Verlag herausgegebenen Gesprächsband »Literatur im Dialog« abgedruckt wurde, hatte Christoph Hein sich selber als »Chronisten« bezeichnet, der nur das beschreiben könne, was er mit seinen Augen gesehen habe. Seinen Chronistenstatus hat Hein auch danach nie aufgegeben, obwohl er zwischenzeitlich mit zahlreichen anderen Etiketten wie »politischer Autor« versehen oder gar unsinnigerweise als Ostalgiker bezeichnet wurde. Seine Helden seien allesamt »Trotzköpfe« hieß es einmal (als sei dies schon ein literaturkritisches Kriterium); ein andermal verortete man sie im intellektuellen Milieu. Letzteres stimmt nicht, denn »Willenbrock« war ein braver Autohändler, in »In seiner frühen Kindheit ein Garten« portraitiert Hein in einer Mischung aus Verklärung und Kitsch den RAF-Terroristen Wolfgang Grams und in »Landnahme« wird das Leben eines Unternehmers erzählt, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hatte.
Abgesehen von einem sich erst im weiteren Verlauf erschließenden kurzen Prolog begegnet man in Christoph Heins neuem Buch »Glückskind mit Vater« der Hauptfigur Konstantin Boggosch zunächst als 69jährigen Rentner in der (ost-)deutschen Provinz mit seiner zweiten Frau Marianne, die infolge einer Hüftoperation gehandicapt ist. Boggosch ist dort als ehemaliger Lehrer und Schuldirektor bekannt und geschätzt. Ein rundes Gründungsjubiläum des Gymnasiums steht an und eine junge Journalistin der Lokalzeitung möchte ein Interview mit ihm. Es sollen alle noch lebenden ehemaligen Schuldirektoren zu Wort kommen und auf einem Bild posieren. Aber Boggosch ist mürrisch und weist die Journalistin nach kurzer Bedenkzeit ab. Seine Welt sei untergegangen, sagt er in einer Mischung aus Resignation und Verbitterung. Gleichzeitig geht ein Brief vom Finanzamt an einen gewissen Konstantin Müller ein.
Aber es ist alles ganz anders, als man zunächst vermutet. Der Brief ist, wie sich bald herausstellt, ein Irrtum, aber beide Ereignisse werfen die Erinnerungsmaschine an, die Erzählung beginnt und es wird vom »Er« zum »Ich« gewechselt. Als Konstantin am 14. Mai 1945 geboren wird, ist der SS-Brigadeführer Gerhard Müller, Konstantins Vater, bereits von einem polnischen Standgericht als Kriegsverbrecher exekutiert worden. Sukzessive erfährt der Leser von den Verbrechen des Vaters, der eine Chemiefabrik besaß und dort Zwangsarbeiter beschäftigte. Außerdem plante er ein zusätzliches Kriegsgefangenenlager, bevor er nach Polen und Russland abkommandiert wurde und dort Massaker initiiert. Die Mutter war Fremdsprachenlehrerin und stammt aus bildungsbürgerlichem Haushalt. Sie wird als unpolitischer Mensch und etwas naiv geschildert. Konstantin erklärte sie zum »Glückskind«, denn die Schwangerschaft habe verhindert, dass sie 1945 bei der Eroberung durch die Rote Armee vergewaltigt wurde.
Die Zeit nach 1945 ist entbehrungsreich, aber vor allem geprägt durch die von Beginn an spürbare Sippenhaftung. 1948 hatte die Mutter für sich und die Kinder (neben Konstantin Gunthard, den zwei Jahre älteren Bruder) ihren Mädchennamen Boggosch übernommen. Aber es half nichts: Das Stigma, Ehefrau bzw. Kind eines Kriegsverbrechers gewesen zu sein, lässt sich auch im Alltag nicht verheimlichen. Selbst an der Schule werden die Brüder gemobbt. Während Gunthard mit einem Onkel im Westen Kontakt hat, der die Verbrechen des Vaters verharmlost und sich sogar (teilweise erfolgreich) für eine Rehabilitation einsetzt, leidet Konstantin unter der Schuld, das Kind eines Nazi-Verbrechers zu sein. Die Familie bleibt existentiell bedroht, denn als Lehrerin kann die Mutter nicht mehr arbeiten und selbst Übersetzungsarbeiten verwehrt man ihr. Zu Hause werden die Kinder von ihr mehrsprachig erzogen; es gibt Tage an denen man nur russisch oder nur französisch sprechen darf. Aber die Brüder sehen keine Zukunft in der sich bildenden DDR. Trotz guter Noten dürfen sie als Söhne eines Kriegsverbrechers nicht zur Oberschule, was die Voraussetzung für ein späteres Studium wäre. Der einzige Vorteil ist, dass sie auch für den Wehrdienst ausgemustert werden.
Während Gunthard sich scheinbar mit dem System arrangiert und nur auf einen günstigen Augenblick wartet um in den Westen zu gehen und dort in der Fabrik seines nazistischen Onkels zu reüssieren, träumt Konstantin von der französischen Fremdenlegion. Tatsächlich gelingt ihm Ende der 1950er Jahre mit gerade 14 Jahren die Flucht nach Frankreich. Da der Leser aus dem Eingangskapitel weiß, dass er später einmal Lehrer und Schuldirektor sein wird, ist es offensichtlich, dass es mit der Fremdenlegion nicht klappt. Stattdessen macht Konstantin die Mittlere Reife in Frankreich und verdingt sich zum Lebensunterhalt in einem Antiquariat (der Französisch-Unterricht der Mutter zeichnet sich aus). Er freundet sich mit dem Antiquar und seinen Freunden an; fast ein väterliches Verhältnis entsteht. Und er trifft junge Franzosen, wird zum Cineasten. Aber auch hier holt ihn die Geschichte seines Vaters wieder ein. Der Antiquar und seine Freunde waren in der Résistance, hatten aktiv gegen die Nazis gekämpft. Und wieder ringt Konstantin mit seiner imaginären Schuld, die die Schönheit und Freiheit dieser Zeit trübt.
Und dann kommt auch noch das Heimweh dazu. Just in dem Moment als die Mauer im August 1961 gebaut wird und viele noch die DDR verlassen, will Konstantin wieder hinein. Es gelingt ihm mit einiger List, dies zu erreichen und auch – erstaunlicherweise – ohne langfristige Sanktionen. Hier trifft er seine geliebte Mutter wieder, entfremdet sich immer mehr von seinem Bruder, der nicht in den Westen gegangen ist, sondern beschlossen hat, sich dem System anzupassen und mitzuschwimmen. Konstantin wird Antiquar in der nächstgrößeren Stadt, lernt ein Mädchen kennen und heiratet. Eine Bewerbung an der Filmhochschule Babelsberg scheitert im letzten Augenblick (die Kraft der Akten ist derart stark, dass sie nicht durch Talent getilgt werden kann) und von nun an folgt man Konstantin Boggosch auf seinem mäandernden Lebensweg, den nicht wenigen Schicksalsschlägen, den zögerlichen Neuanfängen (zu groß die Furcht, wieder enttäuscht zu werden) und den wenigen glücklichen Augenblicken.
Konstantin gelingt es nicht die Ungnade seiner späten Geburt, die er einmal halb bitter, halb belustigt als »Vatermal« charakterisiert, zu überwinden. Er geißelt sich mit ewiger Bürde. Dennoch wird er Jahre später Lehrer und schließlich sogar Direktor an einer Schule. Aber der an sich selbst gerichtete Imperativ, »das Leben für etwas ein[zu]setzen, das das Leben lohnt«, scheitert, nicht zuletzt wieder an den Zeitläuften der Geschichte, Und so wird nach der Wende der seinerzeit so regimetreue DDR-Bonze, den Konstantin jahrelang als seinen Vorgesetzten zu ertragen hatte und der sich dann plötzlich in den Westen abgesetzt hatte, wieder sein Chef. Boggosch resigniert halbwegs, fügt sich in das Schicksal als »kleiner Kunstlehrer« und hält wacker bis zur Verrentung 2010 durch.
Manches am Buch befremdet. Etwa der am Ende sich in Hass steigernde, leicht manichäisch angehauchte Bruderkonflikt. Oder einige arg gewollte Wendungen, wie z. B. »Gunthard« als Vorname des Bruders, womit sich dessen spätere Gesinnung schon früh zeigt. Auch das besonders im Mittelteil additiv-betuliche Erzählen der einzelnen Lebensstationen ist zuweilen leicht monoton. Am Ende erscheint die Apostrophierung »Glückskind mit Vater« fast wie ein Hohn, denn Boggosch, der »große Schweiger«, ist ein unglücklicher Mensch, der sich dessen ungeachtet zum Überleben verpflichtet sieht: »Man..muß…leben, mehr nicht«, so lautet seine Maxime am Ende, als er sich während eines Rehabilitationsaufenthalts seiner Frau stiekum ein Karzinom entfernen lässt. Der Journalistin konnte er noch den Strom der Erinnerungen verweigern – sich selber nicht: Die »Erinnerungen überfielen mich ankündigungslos«. Aber der »Schatz der Erinnerungen«, wie es einmal heißt, erweist sich als ein Abgrund des Scheiterns. Die Hoffnung auf eine heilende Kraft des Erzählens, der Balsam der Literatur, stellt sich nicht ein. Es gibt keinen Trost. Und in Vergegenwärtigung dieser erschütternden Bilanz legt man bei Konstantin Boggoschs Geschichte (die Hein ausdrücklich als »authentisch« bezeichnet) plötzlich den literarischen Kriterienkatalog ab. Und so enervierend einem dann der zuweilen moralische Rigorismus der Hauptfigur erscheint (die Geschichte mit dem Erbe!), so sehr ist man plötzlich bereit, sich von ihrer Trost- und Gnadenlosigkeit ergreifen, womöglich sogar erschüttern zu lassen. Und erst dann geht dem Leser die Türe zu diesem Buch auf und erst dann gelingt es, den oft genug argwöhnisch beäugten Weltschmerz zu verzeihen. Und dann zeigt, ja: offenbart sich der hypersensible Kern eines Menschen, der auf sein Leben nur schicksalhaft und mit Schande zurückblicken kann.
Was versteht er denn unter »authentisch«? Heißt das soviel wie »wahr«? Vom Schluss deiner Rezension aus gelesen wären dann die Passagen, die du als weniger gelungen beschreibst (additiv-betuliches Erzählen, gewollte Wendungen, manichäisches Weltbild) Stilmittel, um dieses Leben authentisch beschreiben zu können?
Stiekum ist ein tolles Wort.
Vorne steht: »Der hier erzählten Geschichte liegen authentische Vorkommnisse zugrunde, die Personen der Handlung sind nicht frei erfunden.«
Ja, es kann natürlich dieser Authentizität geschuldet sein, dass Hein zuweilen abschweift. Eigentlich ärgern mich solche Hinweise eher, weil sie die Beurteilung erschweren. Kritik am Buch (den gewollten Wendungen) kann jetzt sofort mit der »War aber so«-Aussage gekontert werden. Damit würde ich mich zum Kritiker des Lebens der Person(en) aufspielen, was natürlich nicht meine Aufgabe ist und zudem anmaßend wäre.
Das erinnert natürlich auch an »In seiner frühen Kindheit ein Garten«. Hier stand: »Die namentlich genannten Personen des Romans sind frei erfunden«. Das stimmte natürlich überhaupt; fast im Gegenteil. Zurek, die Hauptfigur, ist praktisch Grams (die Parallelen sind frappierend). Auch das ist natürlich ein veritables Ärgernis.
Dann gibt es aber auch noch den fantastischen Coen-Film Fargo der mit dem Vorspann
Dies ist eine wahre Geschichte. Die in diesem Film dargestellten Ereignisse beruhen auf einem Verbrechen, das im Jahr 1987 in Minnesota geschah. Auf Wunsch der Überlebenden wurden die Namen geändert. Aus Respekt vor den Toten wurde der Rest der Geschichte genau so erzählt, wie sie sich zugetragen hat.
beginnt. Natürlich alles Quatsch.
Wieso alles Quatsch? Frage ich mich gerade. Die Grenzen sind doch da überall mittlerweile arg ver/fließend (oder sonst wie unsicher).
Namen / Persönlichkeitsrechte sind das Eine. Das andere sind poetische oder handwerkliche Distanz (oder Notwendigkeiten). Oder oft schon die bloß unwägbare Erinnerung. Oder alles anders herum: Man holt sich Beglaubigungen aus der Wirklichkeit (die ja die besseren Plots bereit hält) oder arbeitet mit potenzierten Unschärfen um der Sache mehr künstlerischen oder interpretatorischen Spielraum zu verschaffen.
Ich frage mich, ob die am Anfang der Besprechung angesprochene Chronisten-Rolle heute nicht „nachhaltiger“ (oder anderswie weiterführender) ist, als die Freiheit der Unterhaltungs-Fiktionen (die eh oft zu wünschen übrige lassen – die braven Freiheiten wie die unzureichende Kraft der Erfindungen).
Noch mal andererseits … ich denke gerade an „Weisskerns Nachlass“, das letzte Buch, das ich von Hein gelesen habe, und aus dem ich so gut wie fast nichts erinnere. (Aus dem Klappentext: „ … ein Panorama der Gegenwart, in dem Fälschung und Lüge selbst die intimsten Beziehungen durchdringen.“)
Schafft das Gesamtergebnis von all dem, Real-Geschichte und ihre Nacherzählung, Authentizität, Fiktion, Spiel mit all dem … womöglich eine Art Entzug? Verfügen wir da noch über sichere Kriterien?
Interessante Überlegungen.
Ich neige zunächst zu ähnlichen Reaktionen wie Joseph Branco, wenn ich in Büchern oder Filmen zu offensichtlich auf den Wahrheits- oder Authentizitätsgehalt hingewiesen werde. Ein solcher Hinweis konditioniert, ja: okkupiert mich geradezu in eine bestimmte Anschauung hinein. Unversehens beginne ich nach Indizien zu suchen, um die Identität von Protagonisten herauszubekommen. Das habe ich bei Hein auch versucht (die Buna-/Schkopau-Chemieindustrie wird einmal erwähnt). Aber was wäre mit solchen Aufschlüsselungen erreicht? Würde dadurch Literatur nicht reduziert auf Übereinstimmung von historischen Fakten? Oder: Wie haben Shakespeare oder Schiller ihre »Doku-Dramen« inszeniert? Kannten sie die historischen Abläufe genau? Haben sie sie frei interpretiert oder sind die Fehler, die man ihnen nachweisen kann, gar keine »Fehler«, sondern dichterische Freiheiten? Warum überhaupt ein Rekurs auf historische Personen? Und: Warum erklärt man Lesern, Zuschauern oder Zuhörern vorab (oder nachträglich), dass es sich um »wahre Begebenheiten« handelt? (Dass man das Gegenteil macht, mag u. U. rechtliche Gründe haben, wenn Übereinstimmungen beabsichtigt sind, aber fiktionalisiert werden müssen, um Persönlichkeitsrechte nicht zu verletzen.)
Diese Überlegungen führen tatsächlich zu der Frage, nach welchen Kriterien man eine Prosa beurteilt, die sich als offensiv chronistisch versteht. Muss ein Rezensent erst einmal versuchen Fiktion von Fakten zu trennen?
Wie wär’s wie der „höheren“ Wahrheit? Im Sinne einerseits von weniger faktisch-argumentativen als gesteigert intuiv-narrativem = „künstlerischen“ Verständnis? (Wie etwa die sinn/en-reiche Eingängigkeit der Märchen, auf die etliche Generationen erzähltechnisch ja mal geeicht waren? Aber diese Erweiterung finden Trainierte heute natürlich auch in Zerrissenheiten und im „Fragment“.)
Ich verweise aber auch auf den Effekt, dass mit je mehr Info-Overload die Fakten faktisch immer weniger relevant werden, weil eh alle einander widersprechen bis tendenziell überschreiben und aufheben – der gewissenhafte Leser (a la Keuschnig, der dann auch tatsächlich im Web sucht, seine Spuren zu versifizieren) ist, glaube ich, war und bleibt wohl die Ausnahme. Es blieben dann wiederum Lesarten, die je nach Neigung / Bedürfnis sich am angebotenen Gewebe aus Weltvergewisserung bedienen.
Ich selber habe lange „gut erfunden“ höher eingeschätzt als „schlecht nacherzählt“. Ich merke aber, da hat sich etwas geändert, und ich weiß nicht genau, was und warum.
Ich dachte bei der „Nachhaltigkeit“ eigentlich daran, dass „spätere“ Leser immerhin Spuren des Faktischen = eine Zeitgenossenschaft „zitiert“ finden könnten, dazu Perspektiven, Mentalitäten, soziologische Kristalle … Details (das „authentifizierende Detail“) aus dem sich schnappschussartig Wirklichkeit oder als solch analog angenommene Gehalte konstituieren. (So wie Friedrich Kittler teilweise der Odyssee nachgereist ist um Physik UND Poetisierungen etwa der Sirenen am Ort überprüfen. Kunst PLUS Wirklichkeit als „höherer“ Wirkungszusammenhang.)
Jedenfalls stelle ich heute beim Lesen einen größeren Genuss fest, je mehr ich darauf vertrauen kann, dass mir mit (neben der Unterhaltung) etwas an solchen Realien (= Zeugenschaften, Wissen) geboten wird, statt „nur“ willkürliche Erfindungen (die mich verzaubern sollen oder poetisieren – aber das versucht heute jeder Wald- und Wiesenpoet).
Ob der Rezensent dann berufen ist, neben dem ästhetischen Werkgelingen auch die Fakten zu prüfen, weiß ich gerade nicht. Man käme da aber mit Gegenreden womöglich rasch in eine Endlosschleife der Behauptungen und Quellenlagen, und dafür gibt es schon Disziplinen. Anderseits denke ich sofort, dass auch in hoher Faktendichte (und Glaubwürdigkeit) ein Teil an ästhetischem Genuss stecken kann. „Durchdringung“ und Bearbeitung erhöhten, mit Alexander Kluge, in dürftigen Zeiten den Schwierigkeitsgrad der Kunst.
Tja, »höhere Wahrheit«. Aber was ist das? Wenn es um historische Stoffe geht (Schiller) – wieviel Erfindung darf man bewusst setzen? Darf man es überhaupt?
Ein Beispiel: Es gab diesen Sinti-Boxer Trollmann, über den Stephanie Bart ein Doku-Fiktion-Buch geschrieben hat. Bart hatte hierfür in Archiven recherchiert und wo es möglich war Zeitzeugen befragt. Niemand käme auf die Idee, dass die Dialoge in dem Buch »wahr« sind. Das brauchen sie auch nicht zu sein. Aber die faktischen Abläufe sind präzise erläutert; es ist nichts beschreiben, was nicht belegt ist.
Und dann gibt es diese Sache mit dem eingepuderten Oberkörper. In früheren Darstellungen und in einem Film vor einigen Jahren wurde gezeigt, dass sich Trollmann für einen Revanchekampf, den er nicht gewinnen durfte die Haare blond gefärbt und den Oberkörper weiß eingepudert hat. Er wollte damit gegen die Rassenpolitik der Nazis protestieren. Die Färbung der Haare hat er tatsächlich gemacht; das Einpudern nicht. Es wäre gar nicht möglich gewesen, da der Puder nicht am Körper verblieben wäre. Die Rezeption dieses Romans in einigen Kritiken rekurriert nun ausgerechnet darauf. Das zweigt zwei Dinge: Erstens haben die Rezensenten das Buch nicht (vollständig) gelesen. Und zweitens verfestigen sich Legenden und Lügen durch entsprechende Fiktionalisierungen im Nu.
Das ist natürlich keine große Sache, zeigt aber die Gefahr, die in solchen Fiktionalisierungen liegt. Geschichtsschreiber arbeiten ja auch daran, die kolportierten Irrtümer oder auch einfach nur Zuschreibungen in Schiller- oder Büchner-Dramen herauszuarbeiten.
Und dann kommt mir so ein Buch wie »Finale Berlin« in den Sinn: Da fragt man sich überhaupt nicht, ob das alles faktengenau ist und ist einfach stellenweise nur überwältigt...
Meine Frage ist: Wie verändert das Wissen um Authentizität die ästhetische Rezeption?
Um direkt auf die Frage zu antworten: Vielleicht als ein gewisser Ernüchterungseffekt (gegenüber der Verführungsbereitschaft durch Fiktion), der einen andere Fragen stellen lässt, andere Gewichtungen im ästhetischen Koordinatennetz aufruft? Umgekehrt aber auch mit einem stärkeren Anspruch an Widerspruchsfreiheit? (Üblicherweise hält man ja auch das Wirkliche für widerspruchsfrei, trotz laufender Gegenbeweise – dabei ist es eben nur höher komplex, oder, wie Rilke im Malte sagt: unbeschreiblich ausführlich.)
Eine meiner Fragen, die mir in den Kopf kam (weil ich das neulich irgendwo behauptet fand), war, ob man Wahrheit als ‚Fetisch’ abtun kann.
Aber: Gehorcht Rezeption nicht sowieso einer ‚höheren’ Freiheit und Komplexität? (Einer noch einmal durch das Subjekt transponierten.) Vielleicht ist es aber auch Teil eine Doppeltbewegung. So, wie Unterhaltungsbereite oft so etwas wie ‚scripted reality’ gar nicht durchschauen (und auch keinen Bedarf dazu sehen), sind andere dauernd auf der Suche nach mehr, nach der höheren Raffinesse, um die ästhetischen Grenzlinien da auszuloten.
In dem von Ihnen gegebenen Beispiel wäre das Puder das authentifizierende Detail, das zugleich eine Erfindung wäre. Ist eigentlich eine schöne Pirouette, die das Problem (wenn es denn eines ist) auf den Punkt bringt.
Was aber, wenn Fiktion und Faktum nicht unterscheidbar sind? Die Tatsache, dass Hein von authentischen Abläufen spricht bedeutet ja nicht das alles stimmen muss. Worin soll der »Mehrwert« für den Leser liegen, wenn er weiss, dass diese Geschichte »so ungefähr« eingetroffen ist. Reicht es nicht schon, wenn eine Fiktion möglich ist? Warum glaubt man mit der Authentizität etwas zu gewinnen?
Und wie ist das mit der » ‘höheren’ Freiheit und Komplexität«? Ist es dann nicht gleichgültig, ob mir da etwas »vorgemacht« wird oder nicht? Wenn die Unterhaltung zählt, dann ist auch Scripted Reality auf irgendeine Art und Weise satisfaktionsfähig, weil es eben so sein könnte?
Ich fühle mich dann an das sogenannte Regietheater erinnert. Ich habe einmal eine Vorstellung von »Woyzeck« gesehen (»von Georg Büchner« stand auf dem Plakat und im Programm), indem dann vielleicht drei oder vier Sätze von Büchner waren und am Ende die Figuren kopulierten. Wenn jemand wahrheitsgemäß geschrieben hätte, das das Stück nicht von Büchner sondern vom Regisseur X ist, hätte man einen ganz anderen Maßstab angelegt. Ich aber kann das nicht unter künstlerische Freiheit verbüßen, weil sich jemand hinter den berühmten Namen Büchner versteckt.
Ähnlich ist es mit diesen Realbezügen in Fiktionen. Wenn es denn so sein sollte, möchte ich das nicht wissen. Wobei dann freilich das Argument »das kann nicht so gewesen sein« nie mehr gelten dürfte.
Ja, irgendwann läuft es leer. (Und das Büchner-Beispiel ist natürlich extrem.)
Oder es sind unsere Bewertungen bei einem Stau längst von vorgängiger Kultur einer kulturellen DNA verhaftet, die eigentlich schon veraltet ist (und das in ihrem Zerbröckeln auch zeigt)? Vielleicht war sogar so jemand wie Pessoa, der mit seinen multiplen Autoren-Ichs dieses Unsicherwerden bediente, da schon wieder weiter? Was ist mit dem schon seit einem halben Jahrhundert proklamierten „Tod des Autors“, der mangelnden Befriedigung aber bislang an solchen Dingen wie „kollaborierendes Schreiben“? Was ist mit Mashups und dem parallelen Poröserwerden des Urheberrechts? Und so weiter.
Zurück auf Hein gewendet könnte ich mir auch denken (ohne ihm Ostalgie oder so etwas unterstellen zu wollen), dass er von etwas, bei dem er Zeuge war, und das dabei ist, vollständig vergessen zu werden, überliefernde Kunde geben wollte. (Und wäre es nur Anwandlungen von Themen und Alter.)
Dass er auf einen Chronisten-Authentizismus setzt, ist bei ihm, meine ich, auch früher schon deutlich geworden. Er bekommt aber natürlich auch mit, dass auch das heutzutage nicht mehr so ohne Weiteres geht und liefert die eigene Frage an die gehabten Bedenken gleich mit. Und tastet so die ihm Freiheiten UND Auferlegungen liefernden Zwischenbereiche dahin aus und arbeitet mit an ihrer Aufrechterhaltung wie ihrer Verwischung.
Was die Frage nach dem „Vorgemachten“ betrifft, müsste man sie wohl zweimal stellen: dem, der vormacht und dem, der sich vormachen lässt: Die Ausgangs- und Bedürfnislagen scheinen mir in mehr als einer Beziehung verschieden. (Und die Frage nach der „Wahrheit“ als Paradigma aller Befragungen ist damit wohl auch nicht vom Tisch.)
Ja, natürlich, Hein ist immer Chronist geblieben. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn da nicht die fast schon provokative literarische Unambitioniertheit wäre. Das bedeutet nicht, dass seine Bücher »trivial« geschrieben sind oder Kolportageromane. Und es ist auch nicht gefordert, dass man besonders kunstvoll schreiben muss. Aber irgendwie ist mir hier die Geschichte zu sehr »dominant«. Vielleicht liegt darin der Grund, dass Hein beim Publikum immer ganz beliebt war, bei der Kritik aber eher nicht.
Als Gegenpart fällt mir da – pardon! – Grass ein, der noch so eindeutig politischen Unsinn in seinen Romanen ausdrücken konnte, aber dies immer mit einer dem Leser fordernden Sprachkraft. Das ist bei Hein überhaupt nicht der Fall.
Äh, kleines Missverständnis. Der Vorspann in Fargo ist schlicht unwahr, hebt damit aber die Aussage in die Metaebene. Kann man als Spielerei abtuen oder interessant finden.
Eine weitere Spielart ist mir noch mit Ecos Baudolino eingefallen. Eco lässt einfach die historisch mehr oder weniger belegten Stellen stehen und ergänzt die fehlenden Teile, um die Geschichte auf seine Weise »rund« zu machen.
Eco lässt einfach die historisch mehr oder weniger belegten Stellen stehen und ergänzt die fehlenden Teile, um die Geschichte auf seine Weise »rund« zu machen.
Das ist genau seine Methode, auch beim »Friedhof von Prag«. Ich mag das nicht.
Beim Lesen fand ich die Idee ganz interessant, habe mich dann aber später Ihrer Sichtweise angeschlossen. Es ist (wie schon angedeutet) zu einfach tendenziös zu werden und eine abwägende Erörterung könnte ich mir literarisch gar nicht vorstellen (Gegenbeispiele?). Also besser Sachbuch mit Ross und Reiter.
Das Problem ist noch etwas anderes: Leserinnen und Leser, die sich mit der jeweiligen Thematik nicht so genau auskennen (und auch keine Lust haben, dies zu ändern), übernehmen die fiktionalen Anteile als wahr. So entstehen Legenden (im positiven Fall wie Schillers Wilhelm Tell – aber es gibt auch negative Entwicklungen).
Und tatsächlich kenne ich auf Anhieb keine »abwägende Erörterung«... Seltsam.
Wahrscheinlich haben Sie recht. Robert Harris, immerhin Historiker aus Cambridge und arrivierter Journalist, schreibt im Nachwort von Titan (Historienschmöker über das Leben von Cicero. Ich habe übrigens ein Faible für die Endphase der römischen Republik):
Dies ist ein Roman, kein Geschichtswerk: Wo immer sich die beiden Ansprüche im Weg standen, habe ich mich, ohne zu zögern, für Ersteres entschieden. Dennoch habe ich so weit wie möglich versucht, die Fiktion in Einklang mit den Tatsachen und Ciceros eigenen Worten zu bringen – von denen uns glücklicherweise, zum Großteil dank Tiro, so viele erhalten geblieben sind.
Bei der Auflage der Bücher liegt die Deutungshoheit über das Leben von Cicero jetzt wahrscheinlich bei Harris.
Interessant an einem solchen Fall ist, dass die Tertiärquelle womöglich für das Original »ersetzt«. Irgendwann wird dann aus Harris zitiert als wäre es Cicero...
Ich habe Ihre Kritik vom 10.3.2016 zu Christoph Heins »Glückskind mit Vater« gelesen. Ihre Kritik finde ich nur in Teilen gelungen. Man kann dieses Gefühl der Scham der Hauptfigur sicherlich aber auch nur nachvollziehen, wenn man selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hat — dies zu Ihrer Entschuldigung. Kind oder Enkel eines Nazis zu sein, oder mit einem in einem Atemzug genannt zu werden, der zu einen der größten Verbrecher gehört — zum Beispiel mit Reinhard Heydrich — führt zu Erlebnissen und Emotionen, wie sie Christpoh Hein nicht hätte besser beschreiben können. Das, was Sie als befremdlich empfinden, wie den Bruderkonflikt, habe ich in meiner Famile ähnlich erlebt. Die Familiengeschichte zwischen Ost und West haben sich in sehr ähnlicher Weise in meiner Familie abgespielt. Ich erlebte als »unschuldiger« Deutscher wegen meiner Familiengeschichte während meines Studiums in den USA in einem jüdischen Labor Ähnliches wie Konstantin Boggosch in Frankreich.
Es ist ein wunderbares Buch, das für mich durchaus auch tröstende Aspekte hat.
Sicherlich nur nachvollziehbar für jemanden, der Ähnliches erlebt hat.
[gepostet vom Absender 28.12.2016, 12.24 Uhr an anderer Stelle – G. K.]
@Jens Heidrich
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich habe versucht auf die Problematik zwischen Authentizität und Fiktion einzugehen und am Ende konzediert, dass der literarische Bewertungsapparat vor der Kraft der erzählten Geschichte womöglich kapitulieren oder mindestens zurückstehen muss. So kann ich natürlich mit Ihrer Betroffenheit nicht konkurrieren. Das man daher aufgrund mangelnder Erfahrung ein literarisches Werk nicht beurteilen kann, ist ein schwieriges Argument.
So habe ich nicht den Bruderkonflikt als befremdlich bezeichnet, sondern eher den Stil, mit dem dieser erzählt wird. Dass es so etwas gibt, sich womöglich sogar zugetragen hat – das mag durchaus sein, war und sollte nicht Gegenstand meiner Kritik sein. Ich sehe allerdings ein, dass eine persönliche Betroffenheit eine andere Bewertung erzeugt als der vielleicht kühle Blick eines Nachgeborenen.
Über die Problematik von Literatur und Dokumentation verweise ich auch auf die Diskussion weiter oben.