Unternehmen Unseld ist das aktuelle Heft der Zeitschrift für Ideengeschichte überschrieben. Es gilt den 100. Geburtstag von Siegfried Unseld zu feiern. Da die Konvolute privater Korrespondenzen inzwischen zwar archiviert, aber gesperrt sind, bleibt der Leser glücklicherweise mit moralisierend verpackten Schlüssellochgeschichten verschont und man konzentriert sich im Schwelgen und Räsonieren auf das Lebenswerk, dem Verlagsimperium rund ...
Wenn jemand wie der 92jährige Jürgen Becker einen neuen Gedichtband mit dem Titel Nachspielzeit vorlegt, werde ich neugierig. Man schlägt die »Gedichte und Sätze« auf und ist binnen weniger Minuten ein- und abgetaucht in diesen von jeden Ordnungen ungestörten Strom aus Schauen, Suchen, Erinnern, ein Kaleidoskop aus Assoziationen, Flashbacks und Déjà-vus von der Kindheit mit ihren einschneidenden Kriegserlebnissen bis hinein in die Gegenwart.
»Mit jedem Tag wächst eine Entfernung, kommt etwas näher,
ganz gleich, um was es geht beim Erinnern, beim Erwarten.
Zwischen Kindheit und Sterbebett so viele Jahrzehnte, daß
es dunkler wäre am Himmel, knipste man für jeden Augenblick,
der vergeht, einen Stern aus –«
Bisweilen entladen sich die Erinnerungen eruptiv:
»der Schulweg die Kampfbahn Kaserne Kastanien
sing mit hau ab fick dich ins Knie
Büchsenfleisch Rübenkraut Muckefuck Sondermischung
Gasschleuse Jungvolkheim Schilderhäuschen Laube
Briefmarken sammeln Heilkräuter Altmaterial
Kohlenklau Feind hört mit Kopf hoch Johannes«
Um dann wieder im Jetzt anzukommen:
»seit Tagen und Tagen undicht der Wasserhahn
hört plötzlich oh Wunder zu tropfen auf
stattdessen flackert die Leuchtstoffröhre
hat Arte zu einem Kanal gewechselt den
ich nicht finden kann«
Vor zwei Jahren publizierte der Penguin Verlag mit Nachleben den vorläufig letzten Roman des britisch-sansibarischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah. Mit Das versteinerte Herz folgt jetzt der vorletzte Roman von 2017. Beide wurden von Eva Bonné übersetzt. Das versteinerte Herz spannt einen Bogen des Ich-Erzähler Salim, um 1973 herum geboren (das errechnet man sich aus dem Erzählten) ...
Zu Beginn seines Buches mit dem vielsagenden Titel Unter Beobachtung stellt der deutsche Politikwissenschaftler Philip Manow eine scheinbar einfache Frage: »Hat es eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie gegeben?« Denn man hört im politischen Diskurs immer häufiger, das die »liberale Demokratie« in Gefahr sei. Diese gehe, so Manow listig, inzwischen anscheinend »besonders oft von Wahlen aus, dem Prozess, der am engsten mit dem demokratischen System verbunden wird.« Vor allem, so möchte man ergänzen, wenn das (antizipierte) Resultat droht, das »falsche« zu sein. Verschiedentlich wird schon von der »Tyrannei der Mehrheit« gesprochen. Manow durchschaut diese Erregungen und fragt »wessen Demokratie eigentlich genau verteidigt wird, wenn ‘die’ Demokratie verteidigt wird.« Doch dazu später.
Festzustehen scheint: Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Grundrechte und freie Wahlen (»elektorale Demokratie«) greifen in ihrer »Einfachheit und Statik« nicht mehr als alleinige Kriterien einer demokratischen Verfasstheit. Die Zuschreibung »liberal« speist sich aus einem »ganzen Kranz an Werten«, wie sie beispielsweise im »Global State of Democracy«-Index oder, relevanter, dem »Liberal-Democracy-Index« des »Varieties-of-Democracy«-Projekts der EU definiert sind. Letzterer wird in einem Appendix am Ende des Buches vom Autor untersucht und als ungeeignet verworfen, »sowohl um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise der Demokratie, gerade wenn sie sich […] als Konflikt zwischen Exekutive und (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit manifestiert, als auch um ihre Ursache zu verstehen.« Am Rande wird süffisant gefragt, warum die EU sich selber »nicht auf seinem Liberal-Democracy- oder einem Electoral-democracy-Index« bewertet habe. Und Dahrendorfs Bonmot, dass, wenn die die EU um Mitgliedschaft in der EU nachsuchte, diese »wegen ihres Mangels an demokratischer Ordnung abgewiesen« würde, findet sich immerhin in den Anmerkungen. Manows Skepsis an der demokratischen Verfasstheit der EU und deren Gründungsmythen, wird noch eine Rolle spielen.
Was ist also »liberale Demokratie«? Hilfsweise wird sie »in der Verbindung aus Parteienwettbewerb, Meinungsfreiheit, Wohlfahrtsstaatlichkeit und LGBTQ+-Rechten […] oder in Verbindung von freien Wahlen und Klimaschutz« definiert. Sie wird schließlich als »End- oder Kompromissprodukt zweier Strömungen verstanden, des Liberalismus einerseits: also Beschränkung von Herrschaft durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, subjektive Rechte […] und des Mehrheitsprinzips und der Volkssouveränität andererseits. […] Oder noch eine Abstraktionsstufe höher, nicht als Idee oder Ideologie, sondern als Wert: Freiheit vs. Gleichheit. Liberale Demokratie ist dann die Verbindung aus oder der Kompromiss zwischen beidem.«
Ohne das kleine Nachwort von Thomas Stadler sind es noch nicht einmal siebzig Seiten, diese drei Erzählungen, die den (vorläufigen?) Nachlass der im Januar verstorbenen österreichischen Schriftstellerin Helena Adler ausmachen und die jetzt bei Jung und Jung, ihrem Verlag, erscheinen. Sie waren als Teile eines Erzählbandes vorgesehen und eine davon, Miserere Melancholia, wollte Helena Adler beim Bachmannpreis 2023 lesen, aber dazu kam es nicht mehr, denn bei der Schriftstellerin wurde ein Gehirntumor diagnostiziert, der sofortige Behandlung verlangte.
Lange soll Adler geschwankt haben, Miserere Melancholia als Beitrag auszuwählen oder die Erzählung, die zu Beginn abgedruckt wird, Ein guter Lapp in Unterjoch, dieses herrlich komponiertes Schelmenstück aus der österreichischen Provinz, über einen Josef, von Beruf Maurer, der auch Hochzeitslader ist, eine Art Zeremonienmeister. Josef hat seit geraumer Zeit Kopfschmerzen, bisweilen Gleichgewichtsprobleme und vor einigen Wochen seine ersten Bestrahlungen im »Kalksteinsarkopharg« erhalten. Er ist »einer, der nicht widerspricht«, seine Aufgaben gewissenhaft erfüllt, und so wird es auch sein, als die Hochzeit des Bürgermeistersohnes mit einer Maria ansteht, die schwanger ist. Josefs Verpflichtungen sind klar und doch hat er neben seinem Tumor »einen Plan« im Kopf. Zunächst gibt es aber noch ein paar deftige Schilderungen des »Brueghel’schen Hochzeitspanoramas«; es ist eine Freude, dies zu lesen, vor allem beim zweiten oder dritten Mal. Und das, obwohl man dann die wunderschöne Pointe schon kennt, die hier natürlich nicht verraten wird.
Zwischen den beiden größeren Erzählungen findet sich mit Über die Erde eine noch nicht einmal dreiseitige, stark expressionistische Skizze von hoher Könnerschaft, in der ein »Nachtschattengewächs im Uterus der Mutter« von ihrer Totgeburt (oder ist es eine Abtreibung?) erzählt, die sofort »unter die Erde« führt und sie »verfault…und doch in aller Munde« führt.
Und dann das Husarenstück, das Zentrum dieses Bandes, Miserere Melancholia, eine Erzählung, die in Klagenfurt für einen historischen Moment gesorgt hätte (wie zuletzt vielleicht Maja Haderlap, oder, sehr lange zurückliegend, Hermann Burger), ein Text »wie ein Unglück, das…schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns«, eine Prosa, die man mit Enthusiasmus und Demut und im Wissen um das Schicksal der Autorin mit Trauer und Wehmut lesen wird und gleichzeitig immer wieder neu anfängt, gar nicht aufhören möchte, immer neue Nuancen entdeckt.
Wessen ist nun der Schmerz bei der Lektüre? Eine Ich-Erzählerin, sich selbst charakterisierend als »abartige Sünderin«, ist besessen oder, besser: wird beherrscht von einem Dämon, einer Mischung aus Wolpertinger, Gnom und Mephisto (er zitiert immerhin Homer und Dante). Er dominiert sie »schlimmer als der Vater und die Mutter zusammen«, zwingt sie, ihr Leben zu rekapitulieren, auch ihre Laufbahn als Schriftstellerin, und dabei stellt sie fest, dass der Elfenbeinturm ein »Faulturm« gewesen war, »dort gärte alles vor sich hin« und sie wurde »träge und schwach«. Aus ihrem Mund ergießt sich einmal »Brackwasser«, sie wacht auf »mit dem Meer in mir, das mich verwässert«. Kafkas Axt findet danach kein Eis mehr vor, aber zugleich bekennt sie, in den »großen Texten« daheim zu sein.
Anfang des Jahres konnte man in einem britischen Artikel einiges über die Ursachen des Bedeutungsverlusts der deutschen Gegenwartsliteratur lesen. Ein Argument war, dass es kaum noch zeitgenössische deutsch(sprachig)e Autoren gebe, die übersetzt würden (gemeint war natürlich die Übersetzung ins Englische). Nachträglich stellt sich heraus, dass mindestens eine deutsche Autorin übersehen wurde, die seit Jahren fleißig übersetzt wird. Der englische Wikipedia-Artikel weist 22 Sprachen aus, was höchst beachtlich ist. Nahezu alle Prosa von und ihre vier Theaterstücke sind zeitnah ins Englische übersetzt worden.
Die Autorin heißt Jenny Erpenbeck, wurde 1967 in Ost-Berlin geboren und gewann vor einigen Wochen für ihren 2021 erschienenen Roman Kairos den International Booker-Prize. Es ist nicht so, dass Erpenbeck in Deutschland unbekannt wäre – die Reihe ihrer Preise und Auszeichnungen ist ansehnlich, darunter der Thomas-Mann- und der Internationale Stefan-Heym-Preis. 2015 stand Erpenbeck auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass das Feuilleton bisher nicht unbedingt sehnsüchtig ihre neuen Romane und Erzählungen erwartet hat. Die Ausnahme ist Volker Weidermann, der seit mindestens vier Jahren regelmäßig erklärt, dass Erpenbeck bald den Literaturnobelpreis erhalten wird. Ansonsten sind die Rezensionen zumeist wohlwollend bis freundlich; Verrisse gab es selten. Die aufmerksamkeitsfördernden und allseits angesehenen deutschen Literaturpreise hat Erpenbeck allerdings noch nicht bekommen.
Gilt also abermals, dass die Prophetin nichts im eigenen Land gilt? Und ist es ein deutsches Spezifikum, dass eine Autorin, die international Erfolge vorweisen kann, nicht gefeiert, sondern mit selbstgefälliger Arroganz, in der auch eine gewisse Portion Neid mitschwingen dürfte, bedacht wird? So verfasste Ilko-Sascha Kowalczuk einen diffus anklagenden, fast zornigen Text, der vermutlich entstand, weil sich Erpenbeck in Interviews über ihre mangelnde literarische Anerkennung in Deutschland beklagt hatte (den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhielt sie immerhin bereits). Es würden, so soll sich Erpenbeck geäußert haben, zu wenige ostdeutsche Juroren in den Jurys sitzen. Kowalczuk bekennt mit gönnerhafter Attitüde, er lese Erpenbecks »Schreibe« »nicht ungern«, um dann seine Vorbehalte mit Erpenbecks Sozialisation in der DDR zu begründen. Etliche »ostdeutsche« Preisträger würden zudem der These widersprechen, dass es nicht an den Jury-Besetzungen liegen würde und suggeriert zwischen den Zeilen, dass die Zurückhaltung mit einer gewissen »Ostdeutschtümelei« in Erpenbecks Literatur zu tun haben könnte, einer »Sehnsucht nach dem Gestern«. Dass auch andere preisgekrönte Autoren aus der ehemaligen DDR gibt, die ostalgisch schreiben, wird nicht thematisiert.
Erpenbeck sei in eine kommunistische Familie hineingeboren worden, Eltern und Großeltern hätten für DDR-Verhältnisse in einer »Parallelwelt« Privilegien gehabt, so Kowalczuk, der auch noch gleich eigene Erlebnisse einbringt, die einen großen Kontrast zu denen der Erpenbecks darstellen. Weil Erpenbecks DDR-Bild nicht dem (wohl begründbaren) Verdammungsurteil entspricht und sich die Autorin entgegen den Usancen des Literaturbetriebs über mangelnde Wertschätzung beklagt hat, sieht sich ein seriöser Autor genötigt, eine Schriftstellerin – ja, was?, zu maßregeln? Es geht also nicht um Literatur, sondern um eine abstruse Form von Sippenhaft. Grund genug für mich, der außer Erpenbecks Text vom Bachmannpreis 2001 noch nie etwas von ihr gelesen hatte, jetzt Kairos, das ausgezeichnete Buch, zu lesen.
Natürlich ist das Cover eine Provokation. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Symbole der »Gendersprache« – Stern, Unterstrich, Doppelpunkt. Entweder oder. Hier alles auf einmal. »Für die Freiheit der Literatur« lautet der Untertitel. Dem Buch vorangestellt ist ein Auszug aus Kafkas Brief an Oskar Pollak, jene berühmte Stelle, in der er erklärt, wie ein Buch ...
Mit den drei Stücken Reich des Todes, Baracke und Lapidarium, die im soeben erschienenen Band Lapidarium versammelt sind und der parallel dazu publizierten Textsammlung wrong beendet der Schriftsteller Rainald Goetz seine sechsteilige Schlucht-Reihe, jenen 2007 begonnenen »Versuch der Erkundung der Dunkelzeit der Nullerjahre«, bestehend aus »Klage, Tagebuchessay; loslabern, Bericht; Johann Holtrop, Abriß der Gesellschaft, Roman; ...