Aus dem Sumpf

Nach drei Jah­ren ist end­gül­tig Schluß mit den Re­gio­nal­rei­sen. Nie­mand fin­det noch et­was da­bei, über Gren­zen hin­aus­zu­ge­hen, in an­de­re Re­gio­nen und Rei­che und Re­vie­re hin­ein. Je­der fährt hin, wo er will.

Aber will ich denn über­haupt? Nicht ein­mal die näch­sten, die eng­sten Gren­zen rei­zen mich. Im Zim­mer rei­sen, im ei­ge­nen Kopf… Was ist da­bei? En­de der Re­gio­nal­rei­sen, des Re­gio­na­lis­mus an sich, En­de der Kraft, der Ent­deckungs­lust. En­de der Schwel­len­for­schung. Den Auf­stieg zu dem klei­nen ame­ri­ka­freund­li­chen Zen-Klo­ster an ei­nem der Hän­ge des Aras­hi­ya­ma, weit hin­ten im Tal des Flus­ses Oi, wür­de ich heu­te nicht mehr schaf­fen. Wo­zu auch? Ich ken­ne das schon, ha­be al­le Er­fah­run­gen ge­macht, er­löst will ich nicht mehr wer­den. Je­de Ge­gen­wart ist ein Es-war-ein­mal.

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Ne­ben­bah­nen

Im rum­peln­den Zug das Tal hin­un­ter, das zu­erst ein­mal ei­ne Schlucht ist, be­vor es sich wei­tet und die Ge­bäu­de zu­neh­men, woll­te ich die Land­schaft und was dar­in vor­kommt, al­ler­lei Din­ge und We­sen, mit den Au­gen mei­ner Toch­ter be­trach­ten, die hier täg­lich au­ßer sonn­tags ih­ren Schul­weg hin­ter sich bringt, aber dann wur­de mir be­wußt, daß sie ihr Smart­phone bei sich hat und si­cher die mei­ste Zeit dar­auf starrt wie die an­de­ren Schü­ler auch, wenn sie nicht ge­ra­de schla­fen, aber das eher nicht, denn die Plät­ze sind zu die­sen Zei­ten, mor­gens und abends, be­setzt, da müß­te sie schon im Ste­hen schla­fen. Es ist der ge­wohn­te Blick der Pend­ler, den­ke ich, der ober­fläch­li­che Smart­phone­blick, der die Bil­der fort­wischt, so­fern sie sich nicht von selbst be­we­gen, die be­weg­ten und un­be­weg­ten Bil­der, fort- und her­bei­bug­siert im Nu; oder der schwar­ze Blick des Schlafs, der graue des Dö­sens; oder der Blick nach in­nen, wo die Träu­me hau­sen. Bloß kei­ne Wirk­lich­keit! Die sich so­wie­so in ei­nem Satz be­schrei­ben läßt: grü­nes Ge­wu­cher, grau­er Be­ton, Blin­ken von Was­ser, Ka­ros­se­rien und Licht­re­fle­xen. Punkt. Am En­de doch wie­der das­sel­be wie die Bil­der­flut am Dis­play.

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Eight-Six

Im Zug die üb­li­chen Sams­tag­nach­mit­tag-Base­ball­fans in ih­ren ro­ten T‑Shirts, ro­ten Kap­pen, ro­ten Car­di­gans, ro­ten Ta­schen, ro­ten Socken, ro­ten Schlap­fen, al­les rot, nur die Ho­sen nicht, bei den Ho­sen ist grün in Mo­de, das merkt man auch hier. Ah, mein Buch paßt da­zu, die Fahrt­lek­tü­re, ein Ro­man von Phil­ip Roth, na­tür­lich in Rot. Dann Stra­ßen­bahn, Ein­kaufs­stra­ße, Shou­ten­gai, Par­co, das Kauf­haus für jun­ge Leu­te, wo ich frü­her oft ein­kau­fen war, als ich mich noch halb­wegs jung fühl­te, plau­dern mit mei­ner Lieb­lings­ver­käu­fe­rin, die ich neu­lich vor ei­nem Ca­fé ge­trof­fen ha­be, sie ar­bei­tet schon lan­ge nicht mehr in der Bou­tique.

»Und jetzt?«

»Hier in der Ge­gend.«

»Da gibt es doch nichts.«

Sie hat sich schon frü­her für schicke Au­tos in­ter­es­siert, und hier, wo es nichts gibt, gibt es nicht we­ni­ge Zu­lie­fe­rungs­fir­men für Mat­su­da, auf deutsch Maz­da.

Wir lach­ten, gin­gen un­se­rer We­ge. Die Bou­tique im Par­co ist nicht mehr das, was sie war. Die Ge­schäfts­lei­tung der Ket­te, zu der sie ge­hört, woll­ten sie noch mehr ver­jün­gen, jetzt ste­hen dort däm­li­che Jungs mit tou­pier­ten Fri­su­ren als Ver­käu­fer her­um, le­ben­de Schau­fen­ster­pup­pen, we­nig Kun­den. Ich muß oh­ne­hin in den zehn­ten Stock, den letz­ten. Club Quat­tro, hät­te ich im Kel­ler er­war­tet, Goog­le Maps spe­zi­fi­ziert das nicht, ist aber oben über den Dä­chern der Stadt. Was man dann gar nicht merkt, wenn man ein­mal drin ist in der Bu­de. Fen­ster­lo­se Sä­le die­ser Art ha­ben al­le­samt et­was von den al­ten Beat-Kel­lern, Gott hab sie se­lig. Kühl, ge­dämpft, nicht zu groß nicht zu klein, vor­ne Steh­pu­bli­kum, hin­ten Sitz­plät­ze an zwei lan­gen The­ken. An den Sei­ten­wän­den drei ver­grö­ßer­te Fo­tos, die wie Vor­hän­ge wir­ken, rechts die Sze­ne­rie des zer­stör­ten Hi­ro­shi­ma im Au­gust 1945, dar­un­ter ein neu­es Fo­to des­sel­ben Orts, die Dä­cher der Stadt, wie man sie vom Par­co aus sieht, links ein so­fort als sol­ches er­kenn­ba­res Kunst­werk, ei­ne Col­la­ge, die lin­ke Hälf­te des Fo­tos sehr bunt, die rech­te dun­kel, über­wie­gend schwarz we­gen der al­ten Leu­te, die da in Trau­er­klei­dung auf dem Bo­den lie­gen, sich da­bei aber, nach ih­rer Mi­mik zu schlie­ßen, recht gut amü­sie­ren. Auf der lin­ken Hälf­te ste­hen und lie­gen und krab­beln fast nack­te, nur mit Win­deln be­klei­de­te Ba­bys auf der grü­nen Wie­se, ein paar Tie­re sind auch da, ei­ne gro­ße Schild­krö­te, ein Fuchs, ein klei­nes Nas­horn, und in der Mit­te des Gan­zen, schwarz-weiß oder grau-weiß, der Atom­pilz, das Zen­tral­mo­tiv der gan­zen An­ord­nung. Le­ben und Tod? Le­ben und Le­ben. Oder Le­ben und Tod und noch im­mer Le­ben.

Ach ja, das Kon­zert fin­det am 6. Au­gust statt, nicht um 8 Uhr 15, son­dern am Abend. Ab­ge­se­hen von den Vor­hang­fo­tos, die bald im Dun­kel ver­schwin­den wer­den, ist nicht viel da­von zu mer­ken. Der Mo­de­ra­tor sagt pflicht­schul­dig ein paar Wor­te, auch die Jün­ge­ren, auch die Al­ter­na­ti­ven sol­len an die­sem Tag dar­an er­in­nert wer­den und nicht ver­ges­sen, daß es im­mer noch Atom­waf­fen gibt und Krie­ge ge­führt wer­den.

»Wart ihr um acht Uhr schon wach? Habt ihr die An­spra­chen ge­hört? Im Fern­se­hen, ja? Nein? Macht nichts.«

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Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin
Saya­ka Mu­ra­ta:
Die La­den­hü­te­rin

Über den Ro­man »Die La­den­hü­te­rin« von Saya­ka Mu­ra­ta

Mit ei­ni­ger Ver­spä­tung – aber wenn es um Li­te­ra­tur geht, ist es be­kannt­lich nie zu spät – ha­be ich Die La­den­hü­te­rin von Saya­ka Mu­ra­ta ge­le­sen. Das Buch ist in Ja­pan 2016 er­schie­nen, Ur­su­la Grä­fes deut­sche Über­set­zung 2018; ich ha­be den klei­nen Ro­man in der 5. Auf­la­ge der Ta­schen­buch­aus­ga­be von 2021 ge­le­sen. Der zeit­li­che Ab­stand zur Erst­pu­bli­ka­ti­on und den Re­ak­tio­nen dar­auf gibt dem Ver­lag die Mög­lich­keit, über den Er­folg zu ju­beln und da­mit Wer­bung zu trei­ben (was ihm durch­aus nicht zu ver­den­ken ist): »Be­ein­druckend leicht und ele­gant«, das Buch ha­be die deut­schen Le­se­rin­nen und Le­ser »im Sturm er­obert« – ob­wohl es gar nicht stür­misch, son­dern so sym­pa­thisch zu­rück­hal­tend wie die Ich-Er­zäh­le­rin und Haupt­fi­gur ist. Aber sei’s drum, wenn Li­te­ra­tur die Men­schen er­obert, soll’s mir recht sein.

Der Ti­tel des Ori­gi­nals ist üb­ri­gens, wört­lich über­setzt, »Kon­bi­ni-Men­schen«, wo­bei im Ja­pa­ni­schen oh­ne Kon­text zu­nächst nicht zu ent­schei­den ist, ob Sin­gu­lar oder Plu­ral, es könn­ten auch Kon­bi­ni-Men­schen sein, ein gan­zer Men­schen­schlag, zu dem ich mich dann auch zäh­len wür­de, weil ich wie fast al­le in Ja­pan Le­ben­den häu­fig ei­nes der zahl­lo­sen Kon­bi­nis – con­ve­ni­ence stores – auf­su­che. Ur­su­la Grä­fe hat den Ti­tel nicht kon­ge­ni­al, son­dern in­ge­ni­ös über­setzt: Die La­den­hü­te­rin, und sie hat das Wort so­gar ein- oder zwei­mal in sei­ner zwei­ten Be­deu­tung in den Text ein­ge­streut: Die Ver­käu­fe­rin im Kon­bi­ni ist ei­ne un­ver­hei­ra­te­te Mitt-Drei­ßi­ge­rin, die an­schei­nend nie­mand hei­ra­ten will und die selbst auch nie auf die Idee ge­kom­men ist, sich dem an­de­ren Ge­schlecht se­xu­ell an­zu­nä­hern. Die Ich-Er­zäh­le­rin, Kei­ko Fu­ru­ku­ra, be­müht sich nach Kräf­ten, nor­mal zu sein, das heißt so wie al­le an­de­ren zu sein, aber sie schafft es nicht, schafft es al­len­falls am Rand der Nor­ma­li­tät als un­ver­hei­ra­te­ter free­ter, der schlecht be­zahl­te Teil­zeit­ar­beit ver­rich­tet und in ei­ner win­zi­gen Woh­nung haust. Zieht man da­zu auch die kurz re­ka­pi­tu­lier­te Vor­ge­schich­te die­ser Frau in Be­tracht, Au­ßen­sei­te­rin seit der Grund­schu­le, fällt die Nä­he zu ei­ner an­de­ren Sym­bol­fi­gur der heu­ti­gen ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft auf, dem hi­ki­ko­m­ori, der sich in sei­nem Zim­mer ver­bar­ri­ka­diert und zur Welt kaum noch Be­zie­hun­gen un­ter­hält.1

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  1. Die österreichisch-tschechisch-japanische Autorin Milena Michiko Flašar hat dieses Thema in ihrem Roman Ich nannte ihn Krawatte aufgegriffen. 

Schwar­ze Blu­men? Wei­ße Blu­men? Blaue Blu­men!

»Das Licht spielt auf je­der Haut an­ders; bei je­dem Men­schen, in je­dem Mo­nat und an je­dem Tag.« (Yo­ko Ta­wa­da)

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Phil­ip Roth hat das al­les kom­men se­hen, als er ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts Der mensch­li­che Ma­kel schrieb. In die­sem Ro­man, dem drit­ten Teil sei­ner »ame­ri­ka­ni­schen Tri­lo­gie«, gibt sich ein jun­ger, re­la­tiv hell­häu­ti­ger Afro-Ame­ri­ka­ner na­mens Co­le­man Silk 1944 bei der US-Ar­mee als Wei­ßer aus und bleibt bis zum En­de sei­nes Le­bens bei die­ser Lü­ge. Im ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch be­zeich­net man ei­nen sol­chen Schritt, der in der Wirk­lich­keit gar nicht so sel­ten vor­kam, als pas­sing. Nach sei­nem Tod im Jahr 1998 be­merkt Co­lem­ans (dun­kel­häu­ti­ge­re) Schwe­ster im Ge­spräch mit dem Er­zäh­ler, daß En­de des 20. Jahr­hun­derts »kein in­tel­li­gen­ter Ne­ger aus der Mit­tel­schicht« die ras­si­sche Selbst­zu­ord­nung wech­seln wür­de. »Heu­te ist es nicht vor­teil­haft, so et­was zu tun, so wie es da­mals eben sehr wohl vor­teil­haft war.«

Wenn schon pas­sing , dann in die an­de­re Rich­tung. Aus Weiß mach Schwarz oder ei­ne an­de­re Far­be, war­um nicht Rot – das könn­te doch vor­teil­haft sein, wenn es dar­um geht, ein Uni­ver­si­täts­sti­pen­di­um oder Wäh­ler­stim­men zu be­kom­men. So mach­ten es die de­mo­kra­ti­sche Po­li­ti­ke­rin Eliza­beth War­ren, die be­haup­te­te, in­dia­ni­sche Vor­fah­ren zu ha­ben, oder die Hi­sto­ri­ke­rin Jes­si­ca Krug, die sich un­ter an­de­rem als Afro-Pu­er­to­ri­ka­ne­rin aus­gab, oder die Künst­le­rin und Po­lit­ak­ti­vi­stin Ra­chel Do­le­zal, die mitt­ler­wei­le als Fri­sö­rin jobbt, nach­dem ihr Be­trug als »schwar­ze« Stu­den­tin an der tra­di­tio­nell afro-ame­ri­ka­ni­schen Ho­ward Uni­ver­si­ty auf­ge­flo­gen war. Wenn man es als Be­trug auf­fas­sen will, denn Do­le­zal selbst meint, ras­si­sche Zu­ge­hö­rig­keit – den Ame­ri­ka­nern geht das Wort »race« leicht über die Lip­pen – sei kei­ne bio­lo­gi­sche Fra­ge, son­dern ei­ne der per­sön­li­chen Ent­schei­dung und der So­zia­li­sie­rung.

Do­le­zal ist üb­ri­gens jü­di­scher Her­kunft. In Eu­ro­pa, be­son­ders in Deutsch­land und Öster­reich, wur­den Ju­den aus ras­si­schen Grün­den ver­folgt und schließ­lich er­mor­det. In den USA gel­ten sie als »weiß«, und sie selbst se­hen sich wohl mei­stens auch so. Co­le­man Silk, der Held in Phil­ip Roths Ro­man, gibt sich nicht als ir­gend­ein Wei­ßer aus, son­dern als Ju­de. Und zu­fäl­lig hat auch er an der Ho­ward Uni­ver­si­ty stu­diert, wenn­gleich nur ei­ne Wo­che lang, vor sei­nem Ein­tritt in die Na­vy. Er hielt den Ras­sis­mus im da­ma­li­gen Wa­shing­ton D. C. nicht aus und ent­zog sich dem bren­nen­den Wunsch sei­nes Va­ters, ei­nes »be­ken­nen­den« Schwar­zen, an die­ser Uni­ver­si­tät zu stu­die­ren. In sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren wird Co­le­man auf pa­ra­do­xe Wei­se von sei­ner Her­kunft ein­ge­holt. Nach­dem er lan­ge Zeit De­kan ei­ner klei­ne­ren Uni­ver­si­tät ge­we­sen ist, wird ihm der Vor­wurf des Ras­sis­mus ge­macht, und dar­über ver­liert er sei­ne (jü­di­sche) Frau und sei­ne Stel­lung am Col­lege. Iro­nie des Schick­sals, Iro­nie der ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te. Der sy­ste­mi­sche An­ti­ras­sis­mus ist ras­si­stisch ge­wor­den und bringt ei­nen Mann mit afro-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln zu Fall.

Who­o­pi Gold­berg, die dun­kel­häu­ti­ge Schau­spie­le­rin, ist nicht ras­si­stisch, sie ist nur et­was na­iv und viel­leicht, im Un­ter­schied zu Co­le­man Silk, nicht sehr ge­bil­det. Die Ver­fol­gung der Ju­den durch die Na­zis sei ein Pro­blem un­ter Wei­ßen ge­we­sen, sag­te sie An­fang 2022 in ih­rer TV-Show. Nun ja, vie­le Ju­den ha­ben ei­ne eher hel­le Haut­far­be – und für Gold­berg ist »Ras­se« gleich­be­deu­tend mit Haut­far­be. Ihr Fa­mi­li­en­na­me klingt deutsch-jü­disch, doch ih­re Vor­fah­ren, so­weit man et­was über sie weiß, wa­ren Afro-Ame­ri­ka­ner. Fünf Jah­re zu­vor ko­ket­tier­te sie in ei­nem In­ter­view mit ih­rem Jü­disch-Sein; sie spre­che oft zu Gott, sag­te sie, ließ aber of­fen, zu wel­chem.

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Ei­ne klei­ne Sticho­my­thie

Li­te­ra­tur­dis­kus­sio­nen im di­gi­ta­len Zeit­al­ter

Ge­le­gent­lich, in ver­schie­de­nen Tex­ten und Kon­tex­ten, wei­se ich dar­auf hin, daß ich die seit ei­ner Rei­he von Jah­ren welt­weit ver­brei­te­te Ge­wohn­heit zahl­lo­ser Pri­vat­per­so­nen oder viel­leicht auch – man kann es nicht wis­sen – öf­fent­li­cher Per­so­nen, sich nur un­ter so­ge­nann­ten nick­na­mes oder ganz oh­ne Na­men öf­fent­lich, al­so im In­ter­net, zu äu­ßern, für ei­ne Un­sit­te hal­te, die al­les in al­lem ne­ga­ti­ven Ein­fluß auf die Ent­wick­lung des ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­bens aus­übt. Ich selbst äu­ße­re mich in so­ge­nann­ten Fo­ren und Kom­men­tar­spal­ten grund­sätz­lich nur un­ter mei­nem so­ge­nann­ten Klar­na­men. Das tat ich un­längst im On­line­fo­rum ei­ner öster­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tung, nach­dem ich dort ei­ne Er­zäh­lung ei­nes öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers ge­le­sen hat­te, die sich auf die ge­gen­wär­ti­ge Pan­de­mie be­zog. Die mei­sten Re­ak­tio­nen der On­line­le­ser die­ser Er­zäh­lung wa­ren ne­ga­tiv und nicht son­der­lich klug, ge­schrie­ben von Leu­ten, die we­nig Ah­nung ha­ben von Li­te­ra­tur.

Ich ver­spür­te kein Be­dürf­nis, da­zu selbst et­was zu äu­ßern, bis ich auf ei­nen – na­tür­lich pseud­ony­men – Kom­men­tar stieß, der mir das Pro­blem die­ser Er­zäh­lung zu be­rüh­ren schien. Jetzt griff ich doch noch zur Fe­der, ließ mei­ne Fin­ger über die Ta­sta­tur des Com­pu­ters glei­ten. Aus­drück­lich schrieb ich, daß ich die ab­schät­zi­ge Wer­tung die­ses Le­sers nicht tei­le, und ver­such­te, die von ihm ver­mu­te­te per­sön­li­che Pro­ble­ma­tik auf ei­ne li­te­ra­ri­sche Ebe­ne zu he­ben: Ich stell­te die Fra­ge, ob ei­ne vor­sätz­lich und ra­di­kal ab­strak­te Li­te­ra­tur, bei der man nicht ein­mal die ge­schlecht­li­che Zu­ord­nung (»El­tern­tei­le«), ge­schwei­ge denn ir­gend­wel­che – sei es auch fik­ti­ve – Na­men und erst recht kei­ne Ge­füh­le er­fährt, denn funk­tio­nie­ren kön­ne. Soll­te Li­te­ra­tur nicht ge­ra­de das Kon­kre­te, Be­son­de­re, Ein­zig­ar­ti­ge im Au­ge ha­ben?

Die­se Fra­ge kann man so oder so be­ant­wor­ten. Es gibt Au­toren, auch sehr be­rühm­te, die vor­wie­gend mit Ste­reo­ty­pen, de­ren Kon­struk­ti­on und De­kon­struk­ti­on ar­bei­ten. Mit sol­cher Li­te­ra­tur ha­be ich zu­ge­ge­ge­be­ner­ma­ßen Schwie­rig­kei­ten. Ich se­he aber nicht, was dar­an eh­ren­rüh­rig sein soll­te, die­se Fra­ge am Bei­spiel ei­nes kon­kre­ten (und zwar ab­strak­ten) Er­zähl­tex­tes auf­zu­wer­fen.

Kurz nach der Ver­öf­fent­li­chung mei­nes Kom­men­tars er­hielt ich im Mes­sen­ger mei­nes »Face­book-Ac­counts« (so nennt man das wohl) ei­ne Nach­richt die­ses Au­tors. Er woll­te wis­sen, ob ich der­je­ni­ge sei, der un­ter dem Na­men »Leo­pold Fe­der­mair« in je­nem On­line­fo­rum »ge­po­stet« hat­te. Die Fra­ge wirk­te selt­sam, zu­mal der Au­tor bei sei­ner Auf­for­de­rung zur Ant­wort das Wort »Mut« ge­brauch­te und da­mit im­pli­zit die Mög­lich­keit von Feig­heit in den Raum stell­te. Ich ant­wor­te­te frei­mü­tig: Ja, klar, so hei­ße ich, so po­ste ich.

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Der Weg vom Ir­gend­wer zum Ge­walt­tä­ter

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Als im Mai 2018 die­se un­gu­stiö­se Ge­schich­te mit der Öko­po­li­ti­ke­rin und dem Bier­wirt in der Wie­ner Jo­sef­stadt be­kannt wur­de, schie­nen mir der Fall und die Per­son nur ein wei­te­rer Be­leg für die Pro­ble­ma­tik der Iden­ti­täts­ver­wi­schun­gen im In­ter­net und die da­durch be­gün­stig­te mo­ra­li­sche Ver­ro­hung. Je­mand hat­te der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten der öster­rei­chi­schen Grü­nen Si­gi Mau­rer ob­szö­ne, be­lei­di­gen­de, mit se­xu­el­ler Ge­walt dro­hen­de Nach­rich­ten ge­schickt. Die jun­ge Frau ging da­mals oft in der Stroz­zi­gas­se im 8. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk an ei­nem Bier­lo­kal vor­bei, und vom Face­book-Ac­count die­ses Lo­kals stamm­ten die un­er­wünsch­ten Emails. Mau­rer mach­te sie öf­fent­lich, weil sie auf die­se Art von Ge­walt im In­ter­net auf­merk­sam ma­chen woll­te. Sie nann­te da­bei auch das Lo­kal und sei­nen Be­trei­ber. Der Mann be­haup­te­te, die ob­szö­nen Nach­rich­ten nicht ge­schrie­ben und ab­ge­schickt zu ha­ben; sein Com­pu­ter und der Ac­count sei­en sei­nen Kun­den zu­gäng­lich, die Emails kön­ne »ir­gend­wer« ge­schrie­ben ha­ben. Er ver­klag­te die Ab­ge­ord­ne­te we­gen Eh­ren­be­lei­di­gung, in der Fol­ge kam es zu Ge­richts­ver­hand­lun­gen, bei de­nen nun Mau­rer als Tä­te­rin da­stand. Als dem Bier­wirt die ju­ri­sti­schen Fel­le da­von­zu­schwim­men be­gan­nen, zog er sei­ne Kla­ge zu­rück. Knapp drei Jah­re spä­ter wur­de be­kannt, daß eben­die­ser Mann sei­ne Freun­din und Mut­ter sei­ner zwei min­der­jäh­ri­gen Kin­der in de­ren Woh­nung im 20. Be­zirk er­schoß. Er be­fin­det sich der­zeit (2021) in der Jo­sef­stadt in Un­ter­su­chungs­haft, nicht weit von sei­nem ehe­ma­li­gen Lo­kal.

Den Streit um die se­xi­sti­schen Emails führ­te ich 2018 in ei­nem Es­say an, der die­ser Pro­ble­ma­tik nach­spür­te und ver­such­te, ihr et­was ent­ge­gen­zu­set­zen, frei­lich im Be­wußt­sein, daß ich mit der Ein­mah­nung über­lie­fer­ter hu­ma­ni­sti­scher Wer­te auf ver­lo­re­nem Po­sten stand; ab­ge­se­hen da­von, daß ich da­mit oh­ne­hin nur ein ex­qui­si­tes Pu­bli­kum er­rei­chen konn­te, ge­nau­er, die Le­ser­schaft der Ti­ro­ler Kul­tur­zeit­schrift Quart. Der Mann oder die Frau, nicht ein­mal die ge­schlecht­li­che Iden­ti­tät schien ge­si­chert, wel­che oder wel­cher der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten Si­gi Mau­rer auf Face­book mit se­xu­el­ler Ge­walt droh­te und sie übel be­schimpf­te, er­schien mir als ar­mes Schwein, das sei­ne Ag­gres­sio­nen vir­tu­ell aus­le­ben muß, weil er sich im wirk­li­chen Le­ben nicht traut.

Die Re­dak­teu­rin der Zeit­schrift äu­ßer­te vor der Pu­bli­ka­ti­on Be­den­ken, weil sie ver­ständ­li­cher­wei­se kei­ne ge­richt­li­che Kla­ge ris­kie­ren woll­te, wie sie Mau­rer in­zwi­schen er­eilt hat­te, nach­dem sie den Ab­sen­der je­ner Ver­ba­l­ag­gres­sio­nen iden­ti­fi­ziert zu ha­ben glaub­te und öf­fent­lich be­nann­te. Der Bier­wirt, von des­sen Ac­count die Emails aus­ge­gan­gen wa­ren, be­haup­te­te da­ge­gen, sie we­der ge­schrie­ben noch ab­ge­schickt zu ha­ben, und warf Mau­rer Ver­leum­dung vor. Jetzt war er das Op­fer und ver­lang­te vor Ge­richt ei­ne Ent­schä­di­gung von 50.000 Eu­ro. Ne­ben­bei nütz­te er die Ge­schich­te als Wer­bung für sein Ge­schäft, in­dem er für den Ku­rier da­vor po­stier­te und sich ab­lich­ten ließ. Ich wun­der­te mich, war­um im Ver­lauf des Pro­zes­ses kein Lin­gu­ist zu­ra­te ge­zo­gen wur­de, denn ich war mir si­cher, daß ein Fach­mann durch ei­nen Ver­gleich der in­kri­mi­nier­ten Emails mit an­de­ren Tex­ten des Bier­wirts, die eben­falls öf­fent­lich wa­ren, auf die Iden­ti­tät des Ag­gres­sors schlie­ßen konn­te. Be­stimm­te sti­li­sti­sche und or­tho­gra­phi­sche Merk­ma­le schie­nen mir ganz klar auf sei­ne Iden­ti­tät hin­zu­wei­sen.

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Aus ei­nem Kran­ken­haus­ta­ge­buch

Au­gust-Sep­tem­ber 2021

In den Spi­tals­bet­ten ne­ben mir Grei­se oh­ne Le­bens­wil­len, mit hin­fäl­li­gem Kör­per, der für je­de klein­ste Ver­rich­tung auf As­si­stenz an­ge­wie­sen ist, selbst­stän­dig kön­nen sie nichts mehr tun, auch wenn noch ein Fun­ken Wil­le da sein soll­te. Ist es ih­nen recht, daß sie noch ei­ne Zeit­lang im Le­ben ge­hal­ten wer­den, wol­len sie das wirk­lich? Wo sie das Es­sen und das We­ni­ge, was sie ver­dau­en, nicht mehr be­hal­ten kön­nen, sich an­schei­ßen (in die Win­del, selbst kön­nen sie sich nicht säu­bern) und an­kot­zen (selbst kön­nen sie sich nicht säu­bern). Die Hilf­lo­sig­keit, in viel ge­rin­ge­rem Aus­maß, er­le­be ich jetzt an mir selbst, mit gu­ten Aus­sich­ten auf Wie­der­her­stel­lung.

Un­ter den Fin­ger­nä­geln der Schmutz der Pfüt­ze, in der ich saß, und das ge­trock­ne­te schwärz­lich-röt­li­che Blut, das da­mals, vor­ge­stern, aus mei­ner Wun­de an der Stirn tropf­te.

Ei­ner der Grei­se nimmt den Schmerz vor­weg, er stößt im vor­aus, so­bald sich die Pfle­ge­rin­nen nä­hern, die klei­nen Schreie aus, wahr­schein­lich spürt er den Kör­per­schmerz tat­säch­lich vor je­der Be­we­gung. Phan­ta­sie oder Phy­sio­lo­gie, es kommt aufs sel­be hin­aus. Er brüllt nicht, son­dern teilt be­hut­sam-rou­ti­niert sei­ne Ge­füh­le mit, in­dem er das längst ein­ge­üb­te Lied­chen vom Schmerz zum Be­sten gibt. Er weiß ge­nau, wie die Kran­ken­schwe­stern, die ihn im Bett an­he­ben und um­dre­hen, re­agie­ren wer­den: Sie fin­den ihn süß wie ei­nen hüb­schen klei­nen Jun­gen. Die­ses Sing­spiel wie­der­holt sich je­den Tag mehr­mals: itai-itaika­waii­neitaitaika­waiiii . . . Der Greis ge­nießt es wie ein jun­ger Geck, er wird wie­der zum ver­wöhn­ten Kna­ben auf der Schwel­le zum Man­nes­al­ter, der im­mer aufs neue die Kunst der Ver­füh­rung ent­deckt. Und trotz­dem lei­det er Schmer­zen, sie wer­den ihn nie mehr ver­las­sen.

Zwei Ta­ge oh­ne Bü­cher und zum Nichts­tun, zum reg­lo­sen Lie­gen ver­ur­teilt – ei­ne schreck­li­che Zeit, auch wenn ich kaum im­stan­de ge­we­sen wä­re, zu le­sen. We­nig­stens die Bü­cher ne­ben mir zu wis­sen, den Blick auf ir­gend­ei­ne Sei­te ge­hef­tet, wä­re mir ein Trost ge­we­sen.

Wei­ter­le­sen ...