Aus dem Sumpf

Nach drei Jah­ren ist end­gül­tig Schluß mit den Re­gio­nal­rei­sen. Nie­mand fin­det noch et­was da­bei, über Gren­zen hin­aus­zu­ge­hen, in an­de­re Re­gio­nen und Rei­che und Re­vie­re hin­ein. Je­der fährt hin, wo er will.

Aber will ich denn über­haupt? Nicht ein­mal die näch­sten, die eng­sten Gren­zen rei­zen mich. Im Zim­mer rei­sen, im ei­ge­nen Kopf… Was ist da­bei? En­de der Re­gio­nal­rei­sen, des Re­gio­na­lis­mus an sich, En­de der Kraft, der Ent­deckungs­lust. En­de der Schwel­len­for­schung. Den Auf­stieg zu dem klei­nen ame­ri­ka­freund­li­chen Zen-Klo­ster an ei­nem der Hän­ge des Aras­hi­ya­ma, weit hin­ten im Tal des Flus­ses Oi, wür­de ich heu­te nicht mehr schaf­fen. Wo­zu auch? Ich ken­ne das schon, ha­be al­le Er­fah­run­gen ge­macht, er­löst will ich nicht mehr wer­den. Je­de Ge­gen­wart ist ein Es-war-ein­mal.

Vor ge­nau drei Jah­ren war ich das letz­te Mal hier, und ich dach­te, et­was von der al­ten En­er­gie könn­te wie­der auf­le­ben. Irr­tum. Kyo­to mit all sei­ner Schön­heit, neu­er­lich von Be­su­cher­mas­sen be­fal­len, er­regt nur Über­druß. Mü­dig­keit über­zieht je­de Wahr­neh­mung mit ih­rem zä­hen Film. Au­ßer­dem ist das Fu­ku­da-Mu­se­um mit den Nihon-ga, neu­en Bil­dern in alt­ja­pa­ni­scher Ma­nier, we­gen ei­nes Aus­stel­lungs­wech­sels ge­schlos­sen. Das Mu­se­um wur­de im Ok­to­ber 2019 er­öff­net, dann kam Co­ro­na, bis­her hat­te ich kei­ne Ge­le­gen­heit, es zu be­su­chen. Über­druß an­ge­sichts der vie­len Cos­play­er am Ufer­weg, im Grun­de ge­nom­men sind sie al­le­samt nichts an­de­res, egal ob sie sich ja­pa­nisch oder eu­ro­pä­isch klei­den, die Ein­zel­nen der Mas­se, lau­ter Ko­stüm­spie­ler, fürs Fo­to für die In­sta­gram-Freun­de Po­sie­ren­de, das Ge­sicht ver­wischt, wie von ei­ner Gra­na­te weg­ge­fetzt, ein Sich-Ent­zie­hen im Sich-Zei­gen. Über­druß an­ge­sichts der am Zug vor­bei­zie­hen­den Städ­te, der an den Städ­ten vor­bei­zie­hen­den Zü­ge, der Städ­te und Zü­ge zwi­schen den Groß­städ­ten, wo in die­sen drei Jah­ren wie­der ein paar neue drei­ßig oder vier­zig Stock­wer­ke ho­he Wohn­tür­me auf­ge­schos­sen sind, um die Cos­play­er nachts zu be­hau­sen, nach­dem sie ih­re Ko­stü­me in den Schrank ge­hängt oder im Ver­leih zu­rück­ge­ge­ben ha­ben. Und die al­ten Häu­ser, die ent­sorgt wur­den, die plum­pen Schul­häu­ser, die ver­kom­men, die Men­schen, die ver­schwin­den wie Mäu­se in Bo­den­rit­zen.

Jetzt aber, am schö­nen und kal­ten Sonn­tag, trip­peln sie oder ste­hen mit ein­wärts ge­dreh­ten Fü­ßen vor der Sze­ne­rie – wie einst die Schwe­stern Ma­ki­o­ka un­ter blü­hen­den Kirsch­bäu­men (mit­ten im Win­ter knos­pen die er­sten Pflau­men­bäu­me). Rich­tig, Aras­hi­ya­ma ist für mich ein Ort der Li­te­ra­tur, nicht nur, weil die Schwe­stern im Ki­mo­no in Ta­ni­zakis Ro­man zum Blü­ten­an­schau­en und Plau­dern und wohl auch zum Po­sie­ren hier­her­kom­men, son­dern weil ich selbst oft zum Le­sen hier­her­ge­kom­men bin, oben am Berg­pfad hoch überm Fluß oder som­mers auf der an­de­ren, dicht­be­wal­de­ten schat­ti­gen Sei­te, wo sich au­ßer ein paar Zen-Ame­ri­ka­nern kaum je­mand hin­wagt, oder im Ca­fé Ranz­an ne­ben dem Han­kyu-Bahn­hof, wo man zwar kei­ne be­rühm­te Aus­sicht hat, da­für aber Ru­he im spär­lich be­setz­ten Saal, und da­zu viel­leicht so­gar ein biß­chen Wie­ner Kaf­fee­haus­nost­al­gie mit Lin­zer Tor­te, de­rer ich jetzt eben­so über­drüs­sig bin, Wien und Linz und das Hin und Her ver­sinkt im all­um­fas­sen­den Ne­bel der Mü­dig­keit – an die­sen Or­ten las ich und las zu­letzt Wil­liam Faul­k­ners The Sound and the Fu­ry, ehe die­ser Le­bens­zweig ab­ge­bro­chen wur­de, und jetzt ver­su­che ich, ei­nen al­ten Zweig neu zu be­le­ben und le­se Ma­ria Mes­si­na, Un fio­re che non fiorì, ei­ne Blu­me, die nicht blüh­te wie die ei­ne der vier Schwe­stern Ma­ki­o­ka (Na­me ver­ges­sen), die kei­ne Lie­be für sich fin­det, und ich weiß nicht, was ich da­von hal­ten soll, die weib­li­che Sen­si­bi­li­tät, wenn ei­ne Frau sie als wirk­lich er­fah­re­ne dar­zu­stel­len weiß – auch Zau­be­rer wie Ta­ni­zaki kön­nen das! –, den Blick auf und den Um­gang mit den Din­gen, nei­gen Frau­en un­wei­ger­lich zum Kitsch oder soll sich ein Mann, der die Men­schen­mög­lich­kei­ten ken­nen will, ein­fach be­rüh­ren las­sen? Am En­de glei­tet noch die Li­te­ra­tur in den Sumpf des Über­drus­ses und ver­sinkt im per­fek­ten Nir­gend­wo.

Nicht an­ders er­ging es mir in der Stadt, den Ka­mo­ga­wa ent­lang, durch die en­gen Gäß­chen zwi­schen Ka­nal und Fluß: Pon­to-cho, die ehe­ma­li­ge oder im­mer-noch Gei­sha-Gas­se, die ich frü­her auf dem Weg zur Ar­beit und abends in um­ge­kehr­ter Rich­tung durch­quer­te, um dann in der Tie­fe des End­bahn­hofs Ka­wa­ra­ma­chi zu ver­schwin­den. Kein ein­zi­ges Mal in die­sen fer­nen Jah­ren nahm ich den Bus, auch nicht wenn es reg­ne­te, aus pu­rer Au­gen­lust, oder eher: Spür­lust, wie ein schnup­pern­der Hund, im­mer die Pon­to-cho ent­lang bis zur näch­sten, über­näch­sten Brücke, Shi­jo-San­jo. Ein­mal folg­te ich ei­ner in ei­nen wun­der­schö­nen Ki­mo­no ge­hüll­ten Frau mit auf­ge­steck­tem Haar, ver­nahm das Ge­klap­per der Holz­san­da­len, ver­sucht, in das weiß ge­schmink­te Ge­sicht zu blicken. In ih­rem Schlepp­tau trot­te­te ein Mann in grau­em An­zug, ir­gend­ein Ma­na­ger, dach­te ich und blieb vor dem Süß­wa­ren­ge­schäft ste­hen, wa­gas­hi­ya, wo die Frau ei­ne Men­ge die­ser bun­ten Kü­chel­chen aus­wähl­te, sorg­fäl­tig eins nach dem an­de­ren, wohl­über­legt, so daß al­les zu­sam­men ei­ne Kom­po­si­ti­on auf ei­nem Rund­ta­blett er­gab, der Ma­na­ger mit ge­senk­tem Haupt im­mer schräg hin­ter ihr, end­lich durf­te er die Brief­ta­sche zücken, wäh­rend die Gei­sha wie des­in­ter­es­siert knapp an mir vor­bei auf die von Näs­se blin­ken­den Stein­qua­der der Pon­to-cho hin­aus­schau­te.

Dies­mal ging ich je­doch auf der an­de­ren Sei­te, nicht nach Nor­den, son­dern nach Sü­den. Dort ist man ein paar Jahr­zehn­te oder Jahr­hun­der­te mo­der­ner, mit Ne­on­licht und gün­sti­gen Prei­sen für ei­ne hal­be, ei­ne vol­le Stun­de in Ge­sell­schaft ei­ner der Frau­en, de­ren Kon­ter­feie wie in ei­ner Po­li­zei­sta­ti­on am Ein­gang aus­hin­gen. Wei­ter süd­lich und in den Sei­ten­gas­sen Love-Ho­tels, Re­stau­rants, Bars, an­ein­an­der­ge­reih­te Hüt­ten mit Ter­ras­sen zum Fluß, und am En­de der Rot­licht­zo­ne das Fluß­ca­fé, ka­wa-kis­sa­ten, wo ich sit­ze und schrei­be, von mensch­li­chem Ge­schäfts­geist und eben­sol­cher Ero­tik ver­schont.

Was hat mich und die Or­te und ih­re Fik­tio­nen, was hat die rea­len und die Vor­stel­lungs­bil­der noch ein­mal aus dem Sumpf ge­zo­gen? Ich glau­be, es war der Grau­rei­her, der da an­ge­flo­gen kam und sich fürs er­ste aufs Ge­län­der setz­te, be­vor er mi­nu­ten­lang be­däch­tig, als wür­de er Fi­schen auf­lau­ern, auf den Holz­bret­tern der Ter­ras­se hin und her stak­ste, ums sich schließ­lich den Ca­fé­gä­sten zu­zu­wen­den, die er, wie­der­um mi­nu­ten­lang, be­trach­te­te wie ein Schau­spiel drü­ben auf der an­de­ren Sei­te, im Ka­bu­ki-Thea­ter na­he der Shi­jo-Brücke. Ihr seid das Thea­ter, mei­ne Lie­ben! Er­ken­net euch selbst, in­dem ihr spielt, was ihr zu sein glaubt in eu­rem ach so ab­wechs­lungs­rei­chen Wer-liebt-mich-Stück!

Am Abend, nicht weit von hier ent­fernt, er­fuhr ich in ei­nem Cous­cous-Re­stau­rant, das ein Ma­rok­ka­ner und ei­ne Ja­pa­ne­rin be­trei­ben, noch nicht fünf­zig­jäh­ri­ge Leu­te, die mir von ih­rer ei­ge­nen Mü­dig­keit er­zähl­ten, was es mit den thea­ter­lie­ben­den Grau­rei­hern auf sich hat. Die Be­sit­ze­rin des Fluß­ca­fés stellt täg­lich um die­sel­be Zeit – ja, es war et­wa 17 Uhr ge­we­sen, schon in der Abend­däm­me­rung – ei­ne Schüs­sel mit le­ben­den klei­nen Fi­schen aufs Hüt­ten­dach, die die Rei­her gern na­schen. Auf der Ter­ras­se ver­trei­ben sie sich die War­te­zeit, ih­re bio­lo­gi­sche Uhr ist so ge­nau wie un­se­re ma­the­ma­ti­sche. Der Ge­schäfts­geist, so die klei­ne Mo­ral der Ge­schich­te, macht vor ei­nem un­schul­di­gen Fluß­ca­fé nicht halt.

© Text + Bil­der: Leo­pold Fe­der­mair

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