Ge­denk­tag

Heu­te sit­ze ich auf drei ho­ri­zon­tal ne­ben­ein­an­der lie­gen­den lan­gen, kräf­ti­gen, grau­en und trocke­nen Bam­bus­stäm­men. Hin­ter der Haupt­hüt­te des Schreins hat man sie auf zwei Gra­nit­stei­ne ge­stützt, die sich in der Nä­he ih­rer glatt ge­schnit­te­nen En­den be­fin­den, so daß ei­ne lan­ge, freie Mit­te ent­steht (die auch bei star­ker Be­la­stung nicht durch­hängt). Die Stäm­me sind ge­nau so ...

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Moos auf den Stei­nen

Moos auf den Stei­nen, das Buch die­ses Ti­tels stand vie­le Jah­re in mei­nem Bü­cher­re­gal, aber ge­le­sen ha­be ich es nie. Da­bei stell­te ich mir vor, der Ver­fas­ser ge­hö­re zu mei­nen Ah­nen; fast so, als könn­te ich oh­ne ihn, oh­ne die Lek­tü­re sei­nes Buchs über­haupt nie et­was schrei­ben (und wie lan­ge ha­be ich nichts ge­schrie­ben, nach­dem ...

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Ka­ka­ni­en ist ab­ge­sackt

Ich blick­te vom Buch auf, um mir ein poe­ti­sches Bild aus den Fleurs du mal vor Au­gen zu füh­ren (sto­isch und oh­ne zu kla­gen ge­hen Müt­ter durch das Cha­os der wim­meln­den Städ­te) als vom Platz her durch das som­mer­abend­li­che Fen­ster ein fer­nes Stim­mens­ir­ren zu schwel­len be­gann. Vö­gel, dach­te ich zu­erst, Am­seln, ein ver­irr­ter, ver­wirr­ter Schwarm... Dann fiel mir ein, daß es da drau­ßen nur noch Spat­zen gab. Und Krä­hen, die sich im Som­mer ver­zo­gen. Aber jetzt knack­te und knarr­te es schon im Luft­ge­fü­ge. Das Sir­ren kam nä­her und ver­wan­del­te sich in ein mensch­lich-weib­li­ches Krei­schen. Ich stand auf, schob mei­ne Sil­hou­et­te in den Fen­ster­rah­men. Der Lin­den­baum ruh­te wind­still in sei­nem stau­bi­gen Grün. Zwi­schen sei­nen Wur­zeln ni­ste­ten die Au­tos der An­rai­ner. Ei­ne un­glaub­lich dicke Frau wat­schel­te auf den Kin­der­spiel­platz zu, in ei­nem fort Flü­che und Be­schimp­fun­gen aus­sto­ßend, die ziel­si­cher auf ein Mäd­chen am Rand des Sand­ka­stens zu­flo­gen. Die­se dicke Frau, jün­ger, als ich beim er­sten An­blick dach­te, noch nicht drei­ßig, stieß mit dem Bauch ge­gen die nied­ri­ge Um­zäu­nung. Das Git­ter hielt ih­ren mas­si­gen Kör­per zu­rück, wäh­rend ihr Ge­kreisch an­schwoll und an­schwoll. Von dem, was sie schrie, ver­stand ich nichts au­ßer zwei Wör­tern, die sie wie ei­nen Re­frain wie­der­hol­te, wäh­rend ein hel­les Glöck­chen an ih­rer Hand­ta­sche den Rhyth­mus be­ton­te: »...tür­ki­sche Fut, du tür­ki­sche Fut...«

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War­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be

1

Daß ich über­haupt Li­te­ra­tur­kri­tik ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht ha­be, liegt dar­an, daß ich als jun­ger Mann auf den Be­sitz von Bü­chern ver­ses­sen war, aber nicht ge­nug Geld hat­te, mir wel­che zu kau­fen. Als Re­zen­sent hat man ein Recht auf sein Re­zen­si­ons­exem­plar, man läßt sich nicht mit lo­sen Druck­fah­nen ab­spei­sen. Spä­ter dann, als ich nach Ar­gen­ti­ni­en und von dort nach Ja­pan ging, trenn­te ich mich von mei­ner mitt­ler­wei­le statt­li­chen Bi­blio­thek. Schon vor­her wa­ren mir die Bü­cher mehr und mehr zur Last ge­wor­den: die Woh­nung ver­staub­te, und es wur­de im­mer schwie­ri­ger, ei­ne Ord­nung auf­recht­zu­er­hal­ten. Ich sag­te mir, das We­sent­li­che die­ser Ge­brauchs­ge­gen­stän­de, ih­ren In­halt so­zu­sa­gen, hät­te ich oh­ne­hin in mei­nem Kopf ge­spei­chert, und so ver­kauf­te ich die ge­sam­te Bi­blio­thek zu ei­nem Spott­preis (ab­ge­se­hen von ei­ni­gen Aus­nah­men wie der Plé­ia­de-Werk­aus­ga­be von Bor­ges). Ich fühl­te mich er­leich­tert und ha­be die­sen Schritt nie be­reut.

Mit mei­ner kri­ti­schen Tä­tig­keit fuhr ich fort, aus Träg­heit und an­hal­ten­der Neu­gier. Hat­te ich die Bü­cher ge­le­sen, ver­schenk­te ich sie oder ließ sie ir­gend­wo zu­rück. Das di­gi­ta­le Zeit­al­ter hat­te in­zwi­schen be­gon­nen, und ich war froh, daß mir die Ver­la­ge pdf-Da­tei­en schick­ten an­stel­le von Bü­cher­pa­ke­ten. Sie ta­ten es an­fangs mit ei­nem ge­wis­sen Miß­trau­en, ganz so, als kön­ne man mit di­gi­ta­lem Gut mehr Schind­lu­der trei­ben als mit ana­lo­gem. Daß ich auf die Zu­sen­dung ei­nes »ech­ten« Buchs ver­zich­te­te, ver­stan­den sie nicht; hart­näckig schick­ten sie mir das Re­zen­si­ons­exem­plar, das mir zu­stand.

Ei­gent­lich woll­te ich im­mer schon Schrift­stel­ler wer­den, aber es man­gel­te mir am nö­ti­gen Selbst­be­wußt­sein. So war ich über­rascht und glück­lich, als mir ge­gen En­de mei­nes Stu­di­ums, als ich no­lens vo­lens ir­gend­wel­che be­ruf­li­chen Schrit­te un­ter­neh­men muß­te, wo­zu ich gänz­lich un­fä­hig war, der Lei­ter ei­ner Li­te­ra­tur­sen­dung im Ra­dio auf mei­ne An­fra­ge zu­rück­schrieb, er wol­le mich un­ter sei­ne frei­en Mit­ar­bei­ter auf­neh­men. Kurz dar­auf er­gab sich für mich, nach­dem zwei an­de­re Be­wer­ber ab­ge­sagt hat­ten, die Mög­lichkeit, als Lek­tor an ei­ne Uni­ver­si­tät nach Frank­reich zu ge­hen, und ich ließ sie nicht ver­strei­chen. Erst ei­ni­ge Jah­re spä­ter, als ich im­mer­hin schon ei­nen Ro­man in der Schub­la­de hat­te und ein we­nig aus dem Fran­zö­si­schen über­setz­te, be­gann ich wirk­lich, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben, aus dem ein­gangs er­wähn­ten Grund, denn mein Brot­be­ruf war nie be­son­ders ein­träg­lich. Da­mals ging man noch per­sön­lich in Re­dak­tio­nen, um Text zu lie­fern, an­fangs tat­säch­lich noch auf Pa­pier, dann auf ei­ner Dis­ket­te, die ich in ei­nen Schlitz am Haupt­com­pu­ter der Zei­tung, für die ich schrieb, stecken muß­te.

Der zu­stän­di­ge Re­dak­teur frag­te mich da­mals, was ich sonst so tä­te. Ich wuß­te kei­ne rech­te Ant­wort, von mei­nen Schub­la­den woll­te ich nicht er­zäh­len, und so lau­te­te der Kom­men­tar des Re­dak­teurs zu mei­nem Ge­stot­ter: »Aber vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man doch nicht le­ben.« Dan­ke für die Aus­kunft, dach­te ich und war zu per­plex, um zu ant­worten. Auf die Idee, mir ir­gend­wel­che Hin­wei­se, ei­ne klei­ne Hand­rei­chung zu ge­ben, kam der Mann nicht. Um­ge­kehrt kam ich nicht auf die Idee, die mir auf ab­strak­ter Ebe­ne durch­aus be­kannt war, daß man näm­lich sei­ne Ell­bo­gen ein­set­zen muß, um sich im Me­di­en­be­trieb ein sei es auch noch so klei­nes Plätz­chen zu ver­schaf­fen (im Literatur­betrieb gilt das­sel­be, auch un­ter Über­set­zern). Bei der Wo­chen­end­bei­la­ge der­sel­ben Ta­ges­zei­tung be­kam ich nach an­nä­hernd zehn Jah­ren frei­er Mit­ar­beit Schwie­rig­kei­ten, weil ich in an­de­ren Or­ga­nen zu ver­öf­fent­li­chen be­gon­nen hat­te. Man er­war­te­te von uns Schrei­ber­lin­gen, daß wir dem Blatt treu blie­ben – so sah die Frei­heit aus. Aus­nah­men wur­den bei so­ge­nann­ten Be­rühmt­hei­ten ge­macht, die durf­ten ver­öf­fent­li­chen, wo sie woll­ten.

Die­se Ge­schich­ten spie­len in Öster­reich, ei­nem en­gen Länd­chen mit so­ge­nann­ter Pres­se­kon­zen­tra­ti­on, wo Ei­fer­süch­te­lei­en und Miß­trau­en gang und gä­be wa­ren. An­de­rer­seits: Vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man nicht le­ben – vor al­lem nicht, wenn man nur für ein Or­gan schreibt. Ich ver­such­te zu wech­seln, was mir auch nicht recht ge­lin­gen woll­te, und war froh, als sich die Mög­lich­keit er­gab, re­gel­mä­ßig für ei­ne Schwei­zer Zei­tung zu schrei­ben, die über sol­chen Klein­kram er­ha­ben war und ist, ob­wohl ja auch die Schweiz, nach dem Be­kun­den ei­ni­ger von dort stam­men­der Au­toren, ein en­ges Länd­chen ist: wahr­schein­lich doch, trotz der ver­bin­den­den Al­pen, mit et­was wei­te­rem Ho­ri­zont.

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Der Frie­dens­kai­ser (3)

Teil 2

Ju­dith wohn­te al­lein in ei­ner Zwei­zim­mer­woh­nung, recht ge­räu­mig für ei­ne Stu­den­tin. Mar­tha, ih­re Freun­din, eben­falls Psy­cho­lo­gin, über­nach­te­te häu­fig bei ihr, sie wohn­te bei ih­ren El­tern in Brau­nau und der letz­te Zug ging früh am Abend. Wenn sie über Nacht blieb, schlie­fen die bei­den im Dop­pel­bett. In die­ser Nacht wa­ren wir zu dritt, Mar­tha ku­schel­te sich von hin­ten an mich, was mein auf Ju­dith fi­xier­tes Be­geh­ren – »Mutter­komplex«, er­klär­te Mar­tha am näch­sten Mor­gen beim Früh­stück – dros­sel­te. »Dann bin ich auch ein Zwangs­cha­rak­ter?«, sag­te ich mit Blick auf Ju­dith. Die­se Art Iro­nie, die den Spre­cher vor je­dem Ge­fühls­aus­druck schützt, hat­te ich von An­drás über­nom­men, ob­wohl sie nicht recht zu mir paß­te. »Du nicht«, sag­te sie sanft nach ei­ner Schwei­ge­pau­se, als hät­te sie sich die Fra­ge ernst­haft über­le­gen müs­sen. Sie leg­te mir die Hand auf den Nacken, schob sie un­ter das halb­lan­ge Haar. Ju­dith und Mar­tha ver­heim­lich­ten nicht, daß sie »ei­ne Be­zie­hung« hat­ten. Sie be­zeich­ne­ten sich als les­bisch, aber ich glau­be, das traf im ei­gent­li­chen Sinn nicht zu. (Zu­ge­ge­ben, ich hat­te und ha­be kei­ne Ah­nung, wor­in das ei­gent­lich Les­bi­sche be­steht; bei der männ­li­chen Ho­mo­se­xua­li­tät scheint die De­fi­ni­ti­on leich­ter zu fal­len.)

Die Sit­zun­gen der Par­al­lel­ak­teu­re wur­den zä­her und kür­zer, nach­dem An­drás und Ju­dith uns ver­las­sen hat­ten; auch die Zahl der Teil­neh­mer schrumpf­te. Mi­chel­an­ge­lo ver­such­te, die Lei­tung zu über­neh­men. Er schlug Ta­ges­ord­nun­gen vor, die von Franz und vom Jüng­ling durch­kreuzt wur­den. »Wir brau­chen hier kei­nen Füh­rer«, hör­te ich ein­mal, wäh­rend der an­de­re zi­tier­te: »Der Lei­ter ist ein Ab­strak­tum, das sich von selbst auf­löst«. In letz­ter Zeit hat­te Mi­chel­an­ge­lo auf Ver­mitt­lung von An­drás bzw. des­sen Va­ter an Aus­stel­lun­gen in Ga­le­rien teil­neh­men kön­nen, ein­mal so­gar wäh­rend der Fest­spiel­zeit. We­nig spä­ter hat­te er ei­nen ei­ge­nen Ga­le­ri­sten, und er ver­kauf­te ein paar von sei­nen in­frarea­li­sti­schen Öl­ge­mäl­den zu recht gu­ten Prei­sen an Samm­ler. Von Ame­ri­ka aus hat­te An­drás so­gar ei­ne neue Kunst­rich­tung er­fun­den, den In­frarea­lis­mus, ei­ne Art La­bel, un­ter dem Mi­chel­an­ge­lo Ober­may­er be­rühmt wer­den soll­te. Aufs gan­ze, al­so im nach­hin­ein, be­trach­tet, schei­ter­te das Vor­ha­ben. Die Samm­ler ver­lo­ren das In­ter­es­se, Mi­chel­an­ge­lo sei­nen Ga­le­ri­sten, die von ihm ge­mal­ten Bil­der wa­ren und blie­ben ein­falls­los, ra­di­kal nett auch und ge­ra­de dann, wenn sie sich um ei­nen ag­gres­si­ven – »hap­ti­schen« – Ge­stus be­müh­ten. Ja, rich­tig, Kon­trol­le der Ag­gres­si­on war ei­ner der Ti­tel, die sich das Ge­nie da­mals von An­drás ein­flü­stern ließ.

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Der Frie­dens­kai­ser (2)

Teil 1

Ju­diths Hund, war­um fällt er mir jetzt wie­der ein? Als wä­re er die heim­li­che Haupt­fi­guer je­ner Jah­re. Ich se­he ihn vor mir, bes­ser ge­sagt: ne­ben mir, wie er still in ei­ner Ecke des Hör­saals liegt und manch­mal die Oh­ren be­wegt, als lausch­te er den mehr oder min­der klu­gen Dis­kus­sio­nen im Se­mi­nar. Da­mals reg­te sich kein Mensch dar­über auf, daß Hun­de oder Klein­kin­der an die Uni­ver­si­tät mit­ge­nom­men wur­den. In man­chen Se­mi­na­ren war es er­laubt zu rau­chen, und es war über­haupt kein Pro­blem, die Räum­lich­kei­ten am Wochen­ende für Fe­ste zu nut­zen (die Por­tie­re fei­er­ten mit). Ich will nicht sa­gen, daß es da­mals bes­ser war, die Luft in den Zim­mern war wirk­lich ver­pe­stet, aber . . . Nun ja, der Hund hör­te zu und dach­te mit, we­nig­stens sah es so aus, wäh­rend wir uns in end­lo­se Gedanken­gefechte ver­strick­ten. Ju­dith hat­te ihm ei­nen ty­pi­schen Hun­de­na­men ge­ge­ben, Bel­lo oder Wal­di oder Ajax, et­was in die­ser Art, ei­nen Na­men, der über­haupt nicht zu sei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­müt paß­te. Sie selbst hat­te ei­nen ähn­li­chen Blick, vor al­lem, wenn sie An­drás an­schau­te, der sie so we­nig be­ach­te­te. Da­bei war sie ei­ne schö­ne Frau, die schön­ste weit und breit, dar­an zwei­fel­te nie­mand. Aber das schien An­drás nicht zu jucken; er ver­gnüg­te sich lie­ber mit Haus­frau­en, die un­ter sei­ner An­lei­tung das sich ab­zeich­nen­de Über­ge­wicht ih­res Kör­pers be­kämpf­ten.

Ju­dith hat­te kei­ne Pro­ble­me die­ser Art. Kein Wun­der, sie war zehn, fünf­zehn Jah­re jün­ger als die­se Frau­en. Wenn ich an Mu­sils Ro­man den­ke, fällt mir auf, daß Ul­rich über­haupt kei­ne ernst­zu­neh­men­den Ge­schlechts­part­ne­rin­nen hat, je­den­falls kei­ne, die er von sich aus ernst­nimmt, ernst­neh­men will. All die­se Diot­imas und Ger­das und Bo­na­de­as – hö­he­re Haus­frau­en der Jahr­hun­dert­wen­de. Und dann, als der Strang der Frau­en­ge­schich­ten durch­zu­hän­gen be­ginnt, plötz­lich die ei­ge­ne Schwe­ster, die an­geb­lich ver­ges­se­ne. War­um aus­ge­rech­net die ei­ge­ne Schwe­ster? Gibt es in der ka­ka­ni­schen Groß­stadt un­ter den zwei Mil­lio­nen Ein­woh­nern wirk­lich kei­ne ein­zi­ge schö­ne Frau, die vom Al­ter und vom gei­sti­gen Ni­veau her zu ihm pas­sen wür­de? Viel­leicht hat An­drás Ju­dith ver­schmäht, weil sie nicht in das An­ders-Sche­ma paß­te. Oder weil die­ser Ul­rich-Ty­pus, den er wil­lent­lich oder, was wahr­schein­li­cher ist, un­wil­lent­lich ver­kör­per­te, für sol­che Frau­en kei­nen Sinn hat, weil er nichts mit ih­nen an­fan­gen kann. Weil sie ihn öff­nen, lockern wür­den? So sah es Ju­dith selbst, in manch­mal nacht­lan­gen Ge­sprä­chen ver­trau­te sie es mir an. »Sei­ne Pan­ze­run­gen wer­den ab­fal­len, wenn er sich erst ein­mal auf mich ein­läßt.« Das war der Stil, den wir da­mals pfleg­ten. An­drás hat sich aber nicht auf sie ein­ge­las­sen. Ob er nicht woll­te oder nicht konn­te, wer will die­se Fra­ge ent­schei­den? Am we­nig­sten er selbst . . . Er ließ sich nicht auf Ju­dith ein, nicht ein­mal durch die Hei­rat, die er auf dem Stan­des­amt wie ei­nen mit­tel­mä­ßi­gen Scherz ab­sol­vier­te (ich war Trau­zeu­ge). Ju­dith wein­te, und der, der seit ein paar Se­kun­den ihr Mann war, mach­te ir­gend­ei­ne iro­ni­sche Be­mer­kung. Kein ein­zi­ger Ver­wand­ter war zu­ge­gen, auch nicht der Mu­si­ker-Va­ter, nur ei­ne klei­ne Schar Pa­ralel­l­ak­tio­ni­sten in ih­rem üb­li­chen Auf­zug. An­drás hat­te die Hei­rat ak­zep­tiert, da­mit Ju­dith ein Vi­sum für die USA be­kä­me, wo er ein Jahr lang stu­die­ren oder for­schen soll­te, post­gra­dua­te, ein für mich da­mals neu­es Wort. Und Ju­dith, die New York für das Mek­ka der Psy­cho­ana­ly­se hielt, brann­te auf die Rei­se. Sie führ­te nicht nach New York, son­dern in die Pro­vinz, nach Ma­ry­land.

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Der Frie­dens­kai­ser (1)

Er hieß An­drás mit Vor­na­men...

Spon­tan grei­fe ich zum Im­per­fekt, doch be­stimmt trägt er den Na­men im­mer noch mit sich her­um, von ei­nem Ab­le­ben ist mir nichts zu Oh­ren ge­kom­men. Im Lauf der Jah­re ver­schwand er aus mei­nem Blick­feld, mach­te sich rar, ver­brach­te ein For­schungs­se­me­ster oder zwei in den USA, über­sie­del­te in ein an­de­res Land, ließ im­mer we­ni­ger von sich hö­ren, zu­letzt, seit ei­ner Rei­he von Jah­ren, gar nichts mehr. Er hieß An­drás, be­stand auf dem Ak­zent über dem zwei­ten A und konn­te bis­sig wer­den, wenn ihn je­mand An­dre­as nann­te. Die paar Ar­ti­kel aus sei­ner Fe­der, die mir zu Ge­sicht ge­kom­men sind, zeich­ne­te er, wenn über­haupt, dann mit »An­ders Schwarz«, im­mer am En­de des Tex­tes. Auch auf dem Ge­dicht­band, den er in Ita­li­en ver­öf­fent­lich­te, stand die­ser für Ita­lie­ner schwer auszu­sprechende Na­me. An­ders, wie der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten. Die­se Par­al­le­le ist mir erst vie­le Jah­re spä­ter be­wußt ge­wor­den. Mu­sil nennt sei­nen Hel­den ja nie beim Nach­na­men, und die Fi­gu­ren des Ro­mans tun es auch nicht.

Erst kürz­lich, beim Nach­den­ken über das Schick­sal des Mul­ti­ta­lents, ist mir ein­ge­fal­len, was ich ver­ges­sen oder ver­drängt hat­te, näm­lich daß wir ei­ne Art Zeit­schrift her­aus­ga­ben, ein paar hek­to­gra­phier­te, mit Bü­ro­klam­mern zu­sam­men­ge­hef­te­te Blät­ter, meist un­ter dem Ti­tel Die Par­al­lel­ak­ti­on, manch­mal auch nur Die Ak­ti­on, oder ganz oh­ne Ti­tel. Ei­ne von An­drás’ Theo­rien be­sag­te, daß Mu­sil sei­ne Par­al­lel­ak­ti­on als Ge­gen­un­ter­neh­men zur Ak­ti­on ver­stand, der von Franz Pfem­fert her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift, die in den Jah­ren, als sich Mu­sil an sein Groß­pro­jekt mach­te, kom­mu­ni­sti­sche Pro­pa­gan­da trieb. An­drás, im vor­letz­ten Kriegs­jahr ge­bo­ren, mein­te, es ge­he heut­zu­ta­ge dar­um, Ak­ti­on und Parallel­aktion mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen, al­so in­di­vi­du­el­le Frei­heit und Ge­mein­schafts­sinn. Er war 1956 mit sei­nem Va­ter, ei­nem Kla­ri­net­ti­sten, der spä­ter ins Mo­zar­te­um-Or­che­ster auf­ge­nom­men wur­de, aus Un­garn nach Öster­reich ge­kom­men und hat­te sich 1968, als er sein Stu­di­um be­gann, für den Pra­ger Früh­ling be­gei­stert. Un­se­re Zeit­schrift ver­trie­ben wir an der Uni­ver­si­tät, nur An­drás ging in die Ca­fés und Bier­kel­ler und ver­kauf­te »das Or­gan«, wie er es nann­te, zu wech­seln­den Prei­sen und mit be­trächt­li­chem Er­folg. Manch­mal nahm er Mi­cha­el mit oder Franz, sei­nen Schü­ler – als sol­chen se­he ich ihn vor mir, ob­wohl er äl­ter war und auf den er­sten Blick mehr Ein­druck mach­te als sein Men­tor. Franz war der ein­zi­ge von uns, der zu ei­ner ge­wis­sen, wenn auch pro­ble­ma­ti­schen und kurz­fri­sti­gen, Be­rühmt­heit ge­lan­gen soll­te.

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Ein viel­sei­ti­ger Kunst­schrei­ber

Ma­rio Var­gas Llosa wird acht­zig

Es war fast ein biß­chen spät für die­se Aus­zeich­nung, als Ma­rio Var­gas Llosa 2010 den No­bel­preis für Li­te­ra­tur zu­ge­spro­chen be­kam. Nicht weil er zu alt da­für ge­we­sen wä­re, son­dern weil sein Le­bens­werk da­mals be­reits ei­ne be­ein­drucken­de Zahl an Bü­chern um­faß­te, von de­nen vie­le aus der Ge­schich­te der la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur und ei­ni­ge aus der Welt­li­te­ra­tur nicht mehr weg­zu­den­ken sind. We­ni­ge Wo­chen vor sei­nem 80. Ge­burts­tag er­schien nun ein neu­er Ro­man des pe­rua­ni­schen Au­tors, der in den neun­zi­ger Jah­ren in sei­nem Hei­mat­land spielt, in ei­ner Zeit, als er selbst mit gu­ten Aus­sich­ten für die Prä­si­dent­schaft kan­di­dier­te, wäh­rend sein Geg­ner Al­ber­to Fu­ji­mo­ri, heu­te Ge­fäng­nis­in­sas­se, sich an­schick­te, mit po­pu­li­sti­schen Slo­gans das Land für ein Jahr­zehnt un­ter sei­ne zwei­fel­haf­ten Fit­ti­che zu brin­gen.

Fast drei Jahr­zehn­te vor Var­gas Llosa hat­te sein ko­lum­bia­ni­scher Kol­le­ge Ga­bri­el Gar­cía Már­quez den No­bel­preis er­hal­ten, vor al­lem für ein Buch, den Best­stel­ler Hun­dert Jah­re Ein­sam­keit. Über »Gabo«, mit dem er ei­ne Zeit­lang be­freun­det war, hat­te Var­gas Llosa schon 1971 in Ma­drid sei­ne Dok­tor­ar­beit ab­ge­schlos­sen, Un­ter­ti­tel: »Ge­schich­te ei­nes Got­tes­mords«. Der ge­mor­de­te Gott ist, Var­gas’ In­ter­pre­ta­ti­on zu­fol­ge, die ver­haß­te Wirk­lich­keit, die der Ro­man­cier durch sein fik­tio­na­les Ge­bäu­de er­setzt. Die­se Idee, Wahr­heit durch die kunst­vol­le Lü­ge der Li­te­ra­tur zu ver­mit­teln, ent­wickel­te Var­gas Llosa spä­ter wei­ter, er mach­te sie zum Fun­da­ment sei­nes ei­ge­nen Schaf­fens und nahm sich da­bei un­ter an­de­rem den Uru­gu­ay­er Ju­an Car­los Onet­ti zum Vor­bild. Var­gas Llosa ist nicht zu­letzt ein her­vor­ra­gen­der Es­say­ist, der ei­ne Rei­he von Ge­stal­ten aus Kunst und Li­te­ra­tur mit sel­te­nem Groß­mut por­trä­tier­te. Fragt man, wel­ches sei­ner ei­ge­nen »Lü­gen­ge­spin­ste«, die im­mer auch ei­nen star­ken Ge­halt an zeit­ge­nös­si­scher oder hi­sto­ri­scher Rea­li­tät auf­wei­sen, im Zen­trum sei­nes Schaf­fens steht, fällt die Ant­wort bei sol­cher Viel­falt schwer. Hat man den »to­ta­len Ro­man« Ge­spräch in der Ka­the­dra­le ob sei­ner kom­po­si­to­ri­schen Kühn­heit und der Fül­le an Fi­gu­ren und Sze­nen aus der Dik­ta­tur Ma­nu­el Od­rí­as (1948–1956) be­wun­dert, wo die Haupt­fi­gur (wie Var­gas Llosa selbst) für kur­ze Zeit der kom­mu­ni­sti­schen Ideo­lo­gie an­hängt, so wird man den acht Jah­re spä­ter (1977) er­schie­ne­nen ko­mö­di­an­ti­schen Ro­man Tan­te Ju­lia und der Kunst­schrei­ber mit Stau­nen über die schwank­haf­te Leich­tig­keit le­sen, mit wel­cher ein und der­sel­be Au­tor zu schrei­ben ver­steht.

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