Stein und Schrift

Die fla­chen Stei­ne spre­chen nicht, sie bil­den kei­ne Zei­chen, aber sie wei­sen. Wo­hin? Zu ei­ner stei­ner­nen Schrift­ta­fel mit ge­mei­ßel­ten Zei­chen. Was ein­mal ge­sagt wer­den soll­te, ist in Stein ge­schrie­ben, da­mit es nicht mehr ver­geht. Nie­mand kann die Form der Bot­schaft, die viel­leicht schon ver­gan­gen ist, weil nicht mehr ent­schlüs­sel­bar oder un­be­deu­tend ge­wor­den, ge­gen­stands­los, der Emp­fän­ger ver­zo­gen, ver­stor­ben – nie­mand kann die Form lö­schen, we­der Feu­er noch Was­ser, al­len­falls die Er­de selbst. Die wohl­ge­wähl­ten, ge­plätteten Stei­ne, in ih­rer Fol­ge ei­ne lan­ge, schein­bar ziel­lo­se Schlei­fe be­schrei­bend, füh­ren zur Schrift. Ei­ner nach dem an­de­ren, grö­ße­re, klei­ne­re, glat­te und rau­he, Kiesel­steine jetzt, Sand­kör­ner, von leuch­ten­den Gras­hal­men flan­kiert, ei­ne Ver­en­gung des Pfads, wo Un­acht­sa­me die Ori­en­tie­rung, wenn nicht den Halt, die Haf­tung ver­lie­ren. Die Unacht­samen wer­den zu­rück ge­wie­sen, sie ge­hen ewig im Kreis. Sie be­kom­men – als Trost, als Er­satz – die Bil­der von dunk­len La­ter­nen, Wel­len wer­fen­den Dä­chern, Schaum­kro­nen, ro­ten Li­bel­len, die auf dem kreis­run­den Stein ru­hen mit zit­tern­den, gar nicht mehr durch­sich­ti­gen Flü­geln, ge­dank­lich zer­mar­ter­ten Kie­fern, fah­ri­gen Ästen, dienst­be­rei­ten und ge­sprä­chi­gen, aber spre­chen­den, aber un­ver­ständ­li­chen Laub­bäu­men (des­halb nicken sie und schüt­teln, wie zur Ab­wechs­lung, den Kopf), trä­gen Wol­ken, die den Blau­him­mel satt ha­ben, Him­mels­blau, das den Wol­ken spot­tet, hell­grü­nes Moos, das die Stei­ne re­spek­tiert, Wur­zeln, die ei­nen flüch­ti­gen Au­gen­blick lang ih­re Rücken zei­gen, mensch­liche Kör­per oh­ne Kopf, dann wie­der Köp­fe und Schul­tern oh­ne Kör­per, schlep­pen­de Fü­ße, ei­ne Rei­he von Schlap­fen mit dunk­len Schlün­den, de­ren Kup­pen ins Hel­le, ins Un­be­tret­ba­re zei­gen. Lee­re, quel­len­de Lee­re über den Mat­ten. Was für ein Reich­tum, denkt man. Die Ver­irr­ten und Ver­wirr­ten wer­den reich­lich be­lohnt, sie ha­ben ein schö­ne­res Le­ben. Sie ler­nen es, zu ver­zich­ten auf das Ge­heim­nis der Schrift.

Stein und Schrift - © Leopold Federmair

Stein und Schrift – © Leo­pold Fe­der­mair

Sie ge­hen im Kreis und mer­ken es nicht, weil sie fest­hal­ten, aus Ge­wohn­heit, an ir­gend­ei­nem vor­ge­ge­be­nen Ziel. Sie ver­ges­sen die Zei­chen. Sie ver­ges­sen die Wei­sung. Schließ­lich ge­nügt es, zu le­ben, die Au­gen of­fen zu hal­ten, die Oh­ren, die Mün­der, hier und jetzt. Sie Ver­ges­sen das Ver­ges­sen. Die Nach­fol­gen­den ver­ges­sen das Ver­ges­sen des Ver­ges­sens... Am En­de ste­hen sie un­ver­se­hens vor dem aufge­richteten Schrift­stein und fra­gen, fra­gen sich nicht ein­mal, was das be­deutet. Al­len, wirk­lich al­len spen­det er Glück, der Gar­ten des längst ver­stor­be­nen Ku­nit­a­ka Fu­ji­wa­ra, der Schrift­sein in sei­ner unauf­findbaren Mit­te. Wo die Pfa­de sich nicht mehr wei­ten oder ver­engen, son­dern zu­sam­men­füh­ren wie ein um­ge­kehrt strah­len­der, kur­ven­reich strah­len­der Stern, sind Zei­chen und Wei­sung, Schrift und An­blick wie­der­um eins.