Ta­ge und Recht­fer­ti­gun­gen

Die ro­ten Ne­ster von Glut, die sich noch an den Fir­sten der Dä­cher und in den Spit­zen der Pap­peln ge­hal­ten und sich in das Ge­fie­der der vor­über flie­gen­den Krä­hen ge­legt hat­ten, ver­glom­men: Dun­kel­grau und glatt schoss der Fluss, an des­sen, mit Pfla­ster­stei­nen be­fe­stig­ten, Bö­schung ich stand, da­hin, ei­ne mat­te Flä­che, die ich noch vor kur­zem, lang­sam und zäh, wie La­va, mit Wir­beln und Strö­mun­gen, da­hin flie­ßen sah, sil­bern, iri­sie­rend in al­len Ab­stu­fun­gen von Rot, Gelb und Oran­ge, von ei­nem Aus­bruch her­rührend, weit, weit, ent­fernt: Ein Tag wie vie­le an­de­re, ver­fiel und doch war er von ei­nem Reich­tum ge­we­sen, wie man ihn sel­ten ge­winnt. Aus den Bü­schen und dem Was­ser kroch be­reits die Küh­le und von der Er­de stieg das Dun­kel hoch, aber mein Wohl­wol­len blieb: Wie der Tag so die Nacht, dach­te ich, setz­te mich auf die Bank, die ei­ni­ge Schrit­te weit ent­fernt stand, zog die Bei­ne an und schmieg­te mich an die Leh­ne: Was sich so lan­ge an­ge­deu­tet und hin­ge­zo­gen hat­te, war rasch voll­bracht: Die Gleich­för­mig­keit der Schat­ten mach­te sich über­all breit, je­ne an­de­re Welt, mit ih­ren ei­ge­nen Ge­set­zen, dem Ver­lust von Klar­heit und Form, dem Wech­sel der Sin­ne und dem Wa­chen des an­son­sten Schla­fen­den: Mit den letz­ten Strah­len des Lichts ver­fiel auch mein Stau­nen, das nie an die Wie­der­kehr des Glei­chen ge­bun­den war, die nur Teil­nahms­lo­sig­keit und Selbst­ver­ständ­lich­keit zur Fol­ge hat: Mein Stau­nen hat­te im­mer den ein­zel­nen Er­schei­nun­gen und We­sen der Na­tur ge­gol­ten, die da­durch, je­de für sich, aus ihr her­aus­tra­ten und mich an et­was, das ich im Ge­schäft der Ta­ge all­zu leicht und ger­ne ver­gaß, er­in­ner­ten: Un­ver­blümt sind sie in ih­rem Wach­sen, ih­rem Rei­fen oh­ne­hin, in ih­rem Ver­fall noch und ih­rer Wie­der­kehr: Un­ver­blümt ist das Schö­ne, das sich ver­schwen­det, weil es ist, oh­ne für, oh­ne wenn und oh­ne aber: Nicht selbst­ver­ständ­lich wie der Wech­sel der Jah­res­zei­ten oder eben je­ner von Tag und Nacht, nicht so wie das Sei­en­de oder das Le­ben für den­je­ni­gen, der mit­ten in ihm auf­wächst: Un­ver­blümt ist ein Werk oh­ne Plan und Schöp­fer, oh­ne Zu­tun über­haupt.

So ist das sol­cher­art Schö­ne, wenn nicht schon un­ser Glück, dann doch ein un­ge­fragt An­ge­nom­me­nes, Keim und Voll­endung zu­gleich, Zu­frie­den­heit und ei­ne Art von Schwei­gen, das auch das Den­ken be­trifft: Wie ein Ab­glanz die­ses Un­ver­blüm­ten sind die Ta­ge, die ge­lin­gen, oh­ne dass sie ver­sucht wor­den wä­ren, Ta­ge, in sich stim­mig, oh­ne dies ge­wollt zu ha­ben, die in ih­rem So­sein eben nicht an­ders als die le­ben­di­ge Na­tur selbst sind: Ge­ge­ben, ge­setzt und un­ge­fragt; ge­kom­men oder ge­schenkt, oh­ne dass dies je­mand hät­te ver­an­las­sen kön­nen. Wo­her, möch­te man fra­gen, muss man, weil ein Über­schuss an Le­ben­dig­keit da­zu drängt, ob­wohl man weiß, dass ein je­der die Ant­wort schul­dig blei­ben muss: Wie der Tag, über des­sen Schwel­le ich ge­ra­de ge­glit­ten bin.

Aber die an­de­ren?, frag­te ich mich, als ich mich auf dem Rück­weg be­fand und den kies­be­streu­ten Weg ent­lang schlurf­te: Die an­de­ren, die Le­gi­on sind? Die auf ei­ne ganz an­de­re Art und Wei­se Fra­gen auf­wer­fen? Das Was­ser des Flus­ses war schwarz wie Pech, das das ge­dämpf­te Licht des Mon­des nicht be­rühr­te; ich hör­te, wie es sei­nen Lauf nahm, aber wenn je­mand dar­in ge­schwom­men wä­re, ich hät­te ihn nicht ge­se­hen: Es muss­te mein Ge­hör ge­we­sen sein, das die Be­we­gun­gen der Wel­len nach­bil­de­te und so mein­te ich dann doch, sche­men­haft, ein Auf und Ab in dem tief un­ten lie­gen­den Bett zu er­ken­nen. Am an­de­ren Ufer schrit­ten ein paar Krä­hen, die nur um Nu­an­cen hel­ler als das Was­ser wa­ren, durch das graue Gras der Ufer­bö­schung, man­che in mei­ner Rich­tung, man­che ent­gegengesetzt, aber all dies hielt mich nicht lan­ge ge­fan­gen: Nach­dem die Son­ne ih­re Bahn viel zu schnell voll­zo­gen und hin­ter den Ho­ri­zont zu­rück zu krie­chen be­ginnt, be­mer­ken wir un­se­re Un­zu­frie­den­heit mit dem Ge­we­se­nen, viel­leicht, weil die Ideen ge­gen­über der Schat­ten­welt leich­ter be­stehen?

Oder lag es an den Ta­gen selbst, an de­ren Be­dingt­hei­ten, wel­che das auch im­mer wa­ren und wo­her sie ka­men? Wa­ren sie manch­mal zu scheu, um sie mit Ideen und Wer­ken ein­fan­gen zu kön­nen? Muss­te man sie lie­gen las­sen, weil ei­ne Bän­di­gung der Stun­den und Mi­nu­ten, ein Zu­sam­men­füh­ren, ein­fach nicht mög­lich war? Ei­ne je­de ver­lang­te im­mer et­was an­de­res, ich be­kam sie nicht zu fas­sen und end­lich kau­te ich häu­fig auf ih­nen her­um, um in selbst­be­trü­ge­ri­scher Ab­sicht an der recken­den Spei­se, die man am En­de doch schlucken muss, noch die ei­ne oder an­de­re wohl­schmecken­de Nu­an­ce zu ent­decken und die­sen Teil dann als Gan­zes zu neh­men: Aber wenn die Red­lich­keit die Ober­hand be­hält, we­nig­stens im Nach­hin­ein, dann zer­fal­len all die­se Ta­ge, aber nicht ent­lang der vom Men­schen ge­ge­be­nen Ord­nung, der Re­gel­mä­ßig­keit von Stun­den, Mi­nu­ten und Se­kun­den, son­dern in Frag­men­te, die man auf zwei Hau­fen in al­ler Grö­be und Ei­le hät­te wer­fen kön­nen, ih­rer in­ne­ren An­nah­me und Ab­leh­nung nach. — Aber heu­te hat­te ich nicht ein­mal an die Mög­lich­keit die­ses Zer­falls ge­dacht.

Ich er­reich­te die Trau­er­wei­den und muss­te den Fluss nun ver­las­sen: Der Wind, der auf­kam, wand aus den dün­nen, her­ab­hän­gen­den Zwei­gen, die das Licht silb­rig um­spiel­te, zopf­ar­ti­ge Ge­bil­de, die nur we­ni­ge Au­gen­blicke im Gleich­ge­wicht der Kräf­te be­stan­den, und sich wie­der, nach­dem der Wind aus der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung ein­fiel, ent­flochten und aus­ein­an­der sto­ben, bloß um er­neut ein­ge­fan­gen zu wer­den: Ein Ge­wirr, Flech­ten und Ent­flech­ten, hier, dort drü­ben und her­üben: Die Schat­ten der Blät­ter und Zwei­ge spran­gen hin und her, manch­mal schau­kel­te die gan­ze Kro­ne der Wei­de, ich starr­te hin­ein und ließ mich be­reit­wil­lig ge­fan­gen neh­men: Das Trei­ben, schien sich im­mer wei­ter zu stei­gern, es kam mir merk­wür­dig und ver­rückt vor, in ei­ner Welt in der sich al­les, was sich der Nütz­lich­keit ent­zog, ver­däch­tig mach­te: Ja, al­les hat­te ei­ne Recht­fer­ti­gung zu ge­ben und als ich da vor der Wei­de und dem wind­ge­steu­er­ten Zopf­ge­flecht stand, wur­de mir klar was das von mir ge­such­te Übel war: Mei­ne Ta­ge zer­bra­chen an der Recht­fer­ti­gung, die sie zu ge­ben hat­ten und nicht ge­ben konn­ten, ja dem blo­ßen Be­trach­ten ge­gen­über schie­nen sie ins Wan­ken zu ge­ra­ten: Es hat­te Zei­ten ge­ge­ben, da konn­te ich mich nicht mehr ent­sin­nen, ob sie über­haupt je­mals ei­ne flie­ßen­de Ge­stalt ge­habt hat­ten.

Ich ging über die Brücke, blick­te auf die dunk­len Flu­ten hin­un­ter, die sich noch im­mer dem Licht und mei­ner Wahr­neh­mung ent­zo­gen, ich sah an den Bü­schen und Bäu­men, die ei­gen­ar­tig re­gel­mä­ßig und ge­ord­net da­stan­den, vor­bei schon auf die er­sten Häu­ser, die sich hell von ih­nen ab­ho­ben: Aber aus wel­chem Drang her­aus muss man sei­nen Ta­gen ei­ne Recht­fer­ti­gung ge­ben? Nur um zu se­hen, dass sie nicht stand­hal­ten, dass sie sich als un­ge­nützt, als un­nütz er­wei­sen? Ich blieb ste­hen und ver­eng­te mei­ne Au­gen, von den Rän­dern her wuch­sen die Schat­ten, fie­len auf die kalk­wei­ße Wand ei­nes Hau­ses zu, dann leg­ten sich Rau­schen und Re­fle­xe über al­les und lösch­ten es rasch aus: Ir­gend­wann ver­ebb­ten auch sie, mei­ne Wahr­neh­mung von Licht, von Form und Ge­stalt war er­stor­ben, so stand ich da, Au­gen­blicke von al­lem be­freit, bis es wie­der­kam, boh­ren­der und drän­gen­der als zu vor: War­um?, schoss es mir durch den Kopf, als hät­ten mei­ne Ge­dan­ken mich für kur­ze Zeit ver­lo­ren ge­habt, als hät­te sie das Schlie­ßen mei­ner Au­gen ein Stück weit von mir fort ge­lockt: Nen­ne mir zwei Din­ge, die du er­reicht hast, zwei Din­ge! Un­ter hef­ti­gem Blin­zeln fuhr das Licht des Mon­des in mei­ne Au­gen, der nun klar und voll am Him­mel stand: Ich sprang her­um, sah zum Ufer des Flus­ses zu­rück, um dem Ur­sprung der un­barm­her­zi­gen Stim­me, die ich so gut kann­te und doch nicht zu­ord­nen konn­te, aus­fin­dig zu ma­chen: Ich sah, die Krä­hen, die un­be­ein­druckt ih­rer Tä­tig­keit nach­gin­gen, durchs Gras schrit­ten und dann und wann ein we­nig nach­läs­sig hin­ein pick­ten, und plötz­lich aus dem Au­gen­win­kel, wie er fei­ge in die Schat­ten der Bü­sche und Bäu­me zu­rück­trat. In dem nun hell­grau­en Gras la­gen ein­zel­ne Trop­fen von Tau: Es ist ei­ne Fra­ge des Selbstbewusst­seins, nichts wei­ter, zisch­te ich, wohl wis­send, dass die Ant­wort ei­ne Aus­flucht war und dass ich sie schon ein­mal ge­ge­ben hat­te: Die Krä­hen er­starr­ten in ih­rem Tun und rich­te­ten ih­re Köp­fe dann ruck­ar­tig in mei­ne Rich­tung, aber er ließ nicht locker: Wenn da nicht wie aus der Pi­sto­le ge­schos­sen, zu­min­dest ei­ne Sa­che kommt, dann lie­gen die Din­ge im Ar­gen, dann hat da ei­ner, im be­sten, im wirk­lich be­sten Fall, sei­ne Träu­me ein Le­ben lang mit sich spa­zie­ren ge­tra­gen, da­mit er sie am En­de mit ins Grab nimmt, von nie­man­dem, als ihm selbst ge­se­hen: Ich woll­te ihm wi­der­spre­chen, aber er don­ner­te wei­ter: Ich weiß schon was du willst, dei­ne Be­quem­lich­keit, die du mit Zwei­fel und Be­denk­lich­kei­ten recht­fertigst, ei­ne fei­ne Hal­tung, das ist mut­los, ja fei­ge, mein Freund, du ver­rätst und be­trügst dich selbst! Ich biss die Zäh­ne zu­sam­men, na war­te knurr­te ich, lief los, zu­rück Rich­tung Brücke, ball­te mei­ne recht Hand zur Faust, glitt aber kurz da­vor in ei­ner schlam­mi­gen Lacke aus und knall­te ge­gen das Ge­län­der: Ein me­tal­li­scher Laut hall­te durch die Luft, Schmer­zen fuh­ren mir durch Knie und Ober­schen­kel, ste­chend zu­erst und dann lang­sam, wie ein schwe­len­des Feu­er in al­le Rich­tun­gen krie­chend, die Krä­hen sto­ben aus­ein­an­der und zo­gen über mei­nen Kopf, knau­ernd, wie von ei­ner ir­ren Stim­me ge­pei­nigt: Mir war übel, ich saß ei­ni­ge Zeit lang da, stöhn­te, keuch­te und kon­zen­trier­te mich dann auf das sanf­te Rau­schen des Flus­ses, bis mir zu frö­steln be­gann: Ich zog mich am Ge­län­der hoch, wisch­te mir Schmutz und Kies von den Hand­flä­chen und mei­ner Klei­dung und hink­te lang­sam heim­wärts. Mei­ne Ge­dan­ken, Träu­me­rei­en und Über­le­gun­gen wa­ren ver­schwunden, am Rea­len zer­schellt, ich war zu­rück und al­les er­schien mir leer und hart, vor al­lem aber das, was mich vor ei­ni­gen Mi­nu­ten noch un­wi­der­steh­lich fest­ge­hal­ten und be­schäf­tigt hat­te, als pein­li­che Spin­ne­rei, de­ren in­ne­re Not­wen­dig­keit ent­rückt war und so wen­de­te ich mich nicht ein­mal mehr nach der Brücke und den Bü­schen um.