Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑1/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

Vor bald vier Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog mei­ne Er­klä­run­gen dar­über ver­öf­fent­licht, war­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be. Da­mals be­kam ich un­er­war­tet vie­le Re­ak­tio­nen, von Au­toren, Kri­ti­kern, Le­sern, al­le stimm­ten dem von mir ge­trof­fe­nen Be­fund zu, die mei­sten zeig­ten am En­de ein Schul­ter­zucken: Was soll man denn ma­chen?

Auf die­se Fra­ge weiß ich na­tür­lich auch kei­ne Ant­wort. Viel­leicht kann man wirk­lich nichts tun ge­gen die all­ge­mei­ne Kom­mer­zia­li­sie­rung, Hy­ste­ri­sie­rung, Me­dia­ti­sie­rung, und mög­li­cher­wei­se ist es ge­schei­ter, Un­mög­li­ches erst gar nicht zu ver­su­chen, son­dern an­de­re We­ge – Schleich­we­ge – zu su­chen, um sei­ne Schäf­lein – oder wa­ren es Scherf­lein? – ins Trocke­ne zu brin­gen.

Ein Kol­le­ge, ich ken­ne ihn seit un­se­ren Stu­den­ten­ta­gen und schät­ze ihn als ge­wis­sen­haf­ten Le­ser, der seit Jahr­zehn­ten die Ge­gen­warts­li­te­ra­tur mit sei­nen Ana­ly­sen und Kom­men­ta­ren be­glei­tet, be­stand ein we­nig zer­knirscht und zu­gleich trot­zig dar­auf, wei­ter­zu­ma­chen: Er für sei­nen Teil wer­de nicht auf­hö­ren, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben. Zum Glück für uns, Au­toren wie Le­ser, fü­ge ich hin­zu. Ich woll­te mit mei­nem Text nicht sa­gen, es sei ge­ne­rell sinn­los ge­wor­den, das zu tun, und fin­de es eh­ren­wert, ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen und Stei­ne den Berg hin­auf­zu­rol­len. Ich tue es selbst, Stei­ne berg­auf, al­ler­dings seit vier Jah­ren nicht mehr auf die­sem Ge­biet, dem li­te­ra­tur­kri­ti­schen, des­sen Her­vor­brin­gun­gen ih­rer­seits li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ha­ben kön­nen. Für mei­nen Rück­zug ha­be ich auch per­sön­li­che Grün­de (die ich da­mals hint­an­hielt); nicht zu­letzt den, daß mir spät, aber doch, auf­ge­gan­gen ist, daß all­zu­viel kri­ti­sches Schrei­ben die ei­ge­ne Au­tor­schaft be­hin­dern kann. Ri­car­do Pi­glia, den ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel ge­le­sen ha­be, be­son­ders die Ta­ge­bü­cher des Emi­lio Ren­zi, die kurz vor und nach sei­nem Tod in Spa­ni­en er­schie­nen sind, aber auch die Ro­ma­ne, von de­nen ich die mei­sten schon kann­te – in die­sem Be­richt hier möch­te ich u. a. mit­tei­len, was, war­um und wie ich in die­ser »neu­en Zeit« ge­le­sen ha­be –, Ri­car­do Pi­glia al­so äu­ßer­te vor lan­ger Zeit, tief im 20. Jahr­hun­dert, Au­toren wür­den und soll­ten nicht sy­ste­ma­tisch, plan­mä­ßig, wie Aka­de­mi­ker le­sen, son­dern vom Zu­fall ge­lei­tet, ih­rer spon­ta­nen, wech­seln­den Ein­ge­bung und Neu­gier fol­gend.

Wie al­le Men­schen, die sich die Li­te­ra­tur zur Ach­se ih­res Le­bens er­wählt ha­ben, le­se ich mei­stens meh­re­re Bü­cher gleich­zei­tig, in un­ter­schied­li­chem Tem­po und Rhyth­mus und mit un­ter­schied­li­chem En­ga­ge­ment, man­che nicht bis zum En­de – auch ei­ne Än­de­rung, seit ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be: Ich füh­le mich nicht mehr, ei­ner ne­bu­lo­sen Ge­rech­tig­keit hal­ber, ver­pflich­tet, le­send ab­zu­war­ten, ob ich dem Buch nicht doch noch et­was ab­ge­win­nen kann. Der­zeit al­so Pa­ve­se, Mo­dia­no und viel­leicht, falls ich zu ihm zu­rück­fin­de, Faul­k­ner. Mo­dia­no ha­be ich heu­te wie­der auf­ge­nom­men, ich ha­be ei­nes sei­ner eher schma­len Bü­cher ins eher leich­te Ge­päck für die Rei­se nach Osa­ka und den Auf­ent­halt dort ge­steckt, weil ich et­was Ver­gnüg­li­ches da­bei­ha­ben woll­te; et­was, das mein Herz er­freut. Mag selt­sam klin­gen bei ei­nem Ro­man, der mit ei­ner Ver­miß­ten­an­zei­ge in Pa­ris En­de 1941 be­ginnt, und der Na­me der Per­son lau­tet noch da­zu Do­ra Bru­der. Ich le­se die­ses Buch im Ori­gi­nal, auch dies für mich ein Ver­gnü­gen, nicht bei al­len fran­zö­si­schen Bü­chern, doch im­mer bei Mo­dia­no. Ei­ne mir be­freun­de­te spa­ni­sche Über­set­ze­rin schreibt mir, sie kön­ne kei­ne li­te­ra­ri­schen Über­set­zun­gen mehr le­sen (kei­ne aus dem Deut­schen oder Eng­li­schen, die­se Ein­schrän­kung un­ter­schlägt sie), sie sei miß­trau­isch ge­gen­über dem Wort­laut, hin­ter­fra­ge ihn, kon­trol­lie­re und kri­ti­sie­re die Über­set­zung. Da wä­re es wohl bes­ser, gleich die Ori­gi­na­le zu le­sen; wo­ge­gen na­tür­lich nichts spricht. Ab und zu hö­re ich ir­gend­ei­nen Snob be­haup­ten, er le­se oh­ne­hin nur in der Ori­gi­nal­spra­che; auf mein Nach­fra­gen stellt sich dann im­mer her­aus, daß die­ser ori­gi­nel­le Le­ser nur in ei­ner, höch­stens zwei Fremd­spra­chen zu le­sen im­stan­de ist (nur bei zwei­spra­chi­gen Ly­rik­aus­ga­ben tut er so, als kön­ne er im­mer al­les »sa­vou­rie­ren«), mei­stens in der eng­li­schen. Der Rest der Welt­li­te­ra­tur soll ihm ver­schlos­sen blei­ben? Das will der ori­gi­nel­le Le­ser dann auch wie­der nicht zu­ge­ben.

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Pe­ter Hand­kes An­ti­fa­schis­mus

Im Ju­li 1989 schrieb Pe­ter Hand­ke ei­ne »Epo­pöe«, ei­ne ganz kur­ze Er­zäh­lung, die am Bahn­hof Per­rache in Ly­on spielt. So wie Hand­ke es ge­braucht, be­deu­tet das ur­sprüng­lich grie­chi­sche Wort »klei­nes Epos« (ob­wohl dies nicht den Aus­künf­ten der Wör­ter­bü­cher ent­spricht). Wir be­geg­nen hier dem Er­zäh­ler in ei­nem Ho­tel­zim­mer und er­fah­ren, was er beim Blick aus dem Fen­ster sieht: ein gro­ßes Gleis­feld, die blas­se Mond­schei­be, Schwal­ben, ei­nen Wohn­block, zu­letzt ei­nen blau­en Fal­ter. We­ni­ge Men­schen, al­le­samt Ei­sen­bah­ner mit Ak­ten­ta­sche auf dem Heim­weg. Nach ei­ner Wei­le fällt dem Er­zäh­ler ein, daß es das Ho­tel Ter­mi­nus ist, in dem er sich ein­ge­mie­tet hat, und er er­in­nert sich, daß Klaus Bar­bie sei­ner­zeit hier sein Un­we­sen ge­trie­ben hat­te. Es war noch nicht so lan­ge her, daß in Ly­on ein Pro­zeß ge­gen den deut­schen Fol­ter­herrn statt­ge­fun­den hat­te, bei dem er we­gen Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit an­ge­klagt war. Hand­ke hat­te die Un­ta­ten, über die 1987 viel be­rich­tet wor­den war, zwei­fel­los noch frisch im Sinn.

Pe­ter Hand­ke, in Grif­fen ge­bo­ren, Sohn ei­nes deut­schen Wehr­machts­sol­da­ten, ver­brach­te als Klein­kind ei­ni­ge Zeit in Ber­lin und er­leb­te Bom­ben­an­grif­fe auf die Stadt so­wie die Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg. Ei­gent­lich hat­te er so­gar zwei deut­sche Vä­ter; über den Zieh­va­ter, mit dem er in Kärn­ten auf­wuchs, kann man in Wunsch­lo­ses Un­glück ei­ni­ges nach­le­sen (das nicht voll­stän­dig der bio­gra­phi­schen Wirk­lich­keit ent­spricht, wie Mal­te Her­wig in sei­ner Hand­ke-Bio­gra­phie zei­gen konn­te). In sei­ner Ju­gend stell­te sich Hand­ke ge­gen die­sen Va­ter, er war ihm schon früh gei­stig über­le­gen und ver­ach­te­te ihn. Die spä­te­re Be­geg­nung mit dem er­sten, dem leib­li­chen Va­ter, im Ver­such über die Juke­box ge­schil­dert, ver­lief an­ge­spannt, die bei­den konn­ten nichts mit­ein­an­der an­fan­gen. Als Pe­ter dann be­rühmt wur­de – »weltbe­rühmt«, wie er es vor­hat­te, wur­de er et­was spä­ter –, ging er aus Öster­reich nach Deutsch­land, doch schon da­mals lieb­äu­gel­te er mit Pa­ris als Wohn­ort. Erst nach sei­ner sprach­ex­pe­ri­men­tel­len und pop­li­te­ra­ri­schen Pha­se be­gann Hand­ke, sich mit sei­ner slo­we­ni­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­set­zen. Die­se Wen­dung oder Rück­wen­dung zum Slo­we­ni­schen ist nicht zu­letzt be­dingt durch sein schwie­ri­ges und küh­les Ver­hält­nis, das er zu Deutsch­land hat­te, auch und be­son­ders zur na­hen deut­schen Ver­gan­gen­heit, zum so­ge­nann­ten Drit­ten Reich. Die pro­non­cier­te Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die ih­rer­seits iden­ti­täts­bil­den­de Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der Vä­ter für die Ver­bre­chen teil­te Hand­ke frei­lich mit den mei­sten jun­gen Leu­ten sei­ner Ge­ne­ra­ti­on, sie spielt bei vie­len deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lern ei­ne wich­ti­ge Rol­le; bei Hand­ke je­doch auf ei­ne ei­gen­tüm­li­che Wei­se, we­ni­ger in po­li­ti­schen State­ments als in ei­ner tief­grei­fen­den li­te­ra­ri­schen Re­ak­ti­on auf die krie­ge­ri­sche Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts.

Als Hand­ke im Zug sei­ner Wen­de zum Klas­si­schen, zu Goe­the, Cé­zan­ne und Stif­ter, zur ge­las­se­nen Er­for­schung der For­men und schließ­lich zu dem fand, was Scho­pen­hau­er als »rei­ne An­schau­ung« be­zeich­ne­te, stell­te das »Neun­te Land« aus dem slo­we­ni­schen Mär­chen für ihn ei­ne kon­kre­te Uto­pie dar, und es zog ihn wie selbst­ver­ständ­lich nach Sü­den, über die Gren­ze, nach Slo­we­ni­en, das zu Ju­go­sla­wi­en ge­hör­te, ein po­li­ti­sches Ge­bil­de, für das Hand­kes Groß­va­ter bei der Kärnt­ner Ab­stim­mung 1920 op­tiert hat­te. Noch in dem In­ter­view, das Ul­rich Grei­ner un­längst für die ZEIT ge­führt hat, be­tont Hand­ke die­se slo­we­ni­sche Her­kunft: »Ich bin Ju­go­sla­we von mei­ner Mut­ter her und vom Bru­der mei­ner Mut­ter, der in Ma­ri­bor stu­diert hat­te«, und er er­in­nert an die Hal­tung des Groß­va­ters nach dem er­sten Welt­krieg, als das Kö­nig­reich Ju­go­sla­wi­en ge­grün­det wor­den war. Der Weg des jun­gen Filip Ko­bal im Ro­man Die Wie­der­ho­lung (1986), der ihn auf den Spu­ren sei­nes äl­te­ren Bru­ders (der On­kel in Hand­kes Bio­gra­phie) in den slo­we­ni­schen Karst und nach Ma­ri­bor führt, hat in­so­fern sinn­bild­li­che, sinn­stif­ten­de Be­deu­tung. Die ju­go­sla­wi­sche Tra­di­ti­on in der Fa­mi­lie Hand­ke bzw. Si­utz bzw. Sivec reicht al­so weit zu­rück, bis zu den An­fän­gen des in­zwi­schen ver­flos­se­nen Staa­ten­bun­des. Beim jun­gen Schrift­stel­ler Hand­ke ver­bin­det sie sich dann mit ei­ner en­er­gi­schen Kri­tik am Deutsch­tum der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te. Die Deut­schen hat­ten Ju­go­sla­wi­en er­obert, aus Sa­lo­ni­ki hat­ten sie quer durch den Bal­kan Ju­den nach Ausch­witz trans­por­tiert; Hand­kes Be­kennt­nis zu Ju­go­sla­wi­en, das in spä­te­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Tei­len des deut­schen und fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus in ei­nem Kampf wie von Da­vid ge­gen Go­li­ath auf ei­ne kaum zu mei­stern­de Pro­be ge­stellt wur­de, die­ses Be­kennt­nis ist zu­gleich Aus­druck sei­nes An­ti­fa­schis­mus. Als er 2006 zum Be­gräb­nis von Slo­bo­dan Mi­lo­se­vic ging und dort ei­ne kur­ze, zu­rück­hal­ten­de, de­zi­diert »schwa­che« Re­de hielt, war das für ihn we­ni­ger das Be­gräb­nis ei­ner Per­son als das ei­ner Ära, ei­ner Idee, ei­nes nun­mehr ver­flos­se­nen Ide­als. Aus­ge­hend von der Kriegs­er­fah­rung, die die Ab­leh­nung je­des Mi­li­ta­ris­mus und be­son­ders der Deut­schen Wehr­macht be­wirkt hat­te, die sei­nen idea­li­sier­ten, im Feld ge­fal­le­nen On­kel Gre­gor in den Krieg gewun­gen hat­te, ent­wickel­te er im Zug sei­ner klas­si­schen Wen­de das Kon­zept ei­ner Frie­dens­epik, die, auch wenn sich die Fi­gu­ren, oft­mals Rei­sen­de, weit von der deut­schen Ge­schich­te ent­fer­nen, an­ti­fa­schi­stisch grun­diert bleibt und so et­was wie ei­nen äs­the­ti­schen »Bal­kan« – mit al­len Am­bi­va­len­zen, die die­sem Wort durch die Ge­schich­te sei­nes Ge­brauchs an­haf­ten – zu er­rich­ten trach­te­te.

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Die Mo­na Li­sa von Tai­pei

Ei­ne Rei­se­ge­schich­te

Von Hi­ro­shi­ma über Tai­pei nach Wien zu flie­gen, lag ei­gent­lich na­he; ich weiß nicht, war­um ich nicht frü­her auf die­se Idee ge­kom­men war. Viel­leicht we­gen der Ani­mo­si­tä­ten ge­gen Chi­na – nur die Chi­na Air­lines bie­ten die­se Flug­ver­bin­dung an –, die in der ja­pa­ni­schen Be­völ­ke­rung im­mer noch ver­wur­zelt sind, so auch bei mei­ner Frau, und die von ent­spre­chen­den Ani­mo­si­tä­ten auf der chi­ne­si­schen Sei­te ge­nährt wer­den (und um­ge­kehrt). Ge­sprä­che mit ei­ner aus Tai­wan stam­men­den Stu­den­tin, die mei­nen Un­ter­richt an der Uni­ver­si­tät Hi­ro­shi­ma be­such­te, weck­ten mein bis da­hin al­len­falls la­ten­tes In­ter­es­se an dem Land.

Das Lächeln des Maskottchens
Das Lä­cheln des Mas­kott­chens (© Leo­pold Fe­der­mair)

Wir fuh­ren al­so, mei­ne elf­jäh­ri­ge Toch­ter und ich, ei­nes Mor­gens zum Flug­ha­fen, mit dem Ta­xi, da schwe­re Un­wet­ter und Erd­rut­sche die Bahn­ge­lei­se weg­ge­schwemmt hat­ten, und stie­gen ins Flug­zeug der Chi­na Air­lines, wo­bei ich vor der Tür noch ein­mal zwei Schrit­te zu­rück mach­te, um mir ei­ne der auf dem Ser­vier­tisch­chen lie­gen­de eng­lisch­spra­chi­ge Zei­tung zu neh­men: die Tai­pei Times. Das Flug­zeug war spär­lich be­setzt, die Flug­zeit be­trug zwei­ein­halb Stun­den, ich hat­te al­le Ru­he und Zeit der Welt, um das nicht son­der­lich um­fang­rei­che Druck­werk durch­zu­le­sen. Auf Sei­te 3, tai­wa­ne­si­sche In­nen­po­li­tik, stieß ich auf ei­nen Ar­ti­kel mit der Über­schrift ‘Oce­an’ Bra­vo the Bear ma­s­cot draws cri­ti­cism. In­nen­po­li­tik?, dach­te ich. Das Fo­to da­ne­ben zeig­te ei­nen weiß­bär­ti­gen kahl­häup­ti­gen Mann, der ne­ben zwei an­de­ren Per­so­nen mehr oder we­ni­ger fort­ge­schrit­te­nen Al­ters an ei­nem lan­gen Tisch mit wei­ßem Tisch­tuch saß und in ein ro­tes Mi­kro­phon hin­ein­sprach. Auf dem Tisch, am lin­ken Fo­to­rand, wa­ren vier bläu­lich-schwar­ze Plüsch­bä­ren auf­ge­häuft, sie tru­gen ei­nen gel­ben Knopf an ei­nem wei­ßen Strei­fen, Hals­band oder Fell, das war nicht aus­zu­ma­chen. Ich be­gann zu le­sen, und es stell­te sich her­aus, daß es ein höchst ernst­haf­ter Ar­ti­kel war. Das Pro­blem, von dem er han­del­te (Zei­tungs­ar­ti­kel han­deln na­tur­ge­mäß von Pro­ble­men), be­stand dar­in, daß die Kul­tur­ab­tei­lung der Stadt­re­gie­rung von Tai­pei be­schlos­sen hat­te, das De­sign des Mas­kott­chens »Bra­vo the Bear« zu än­dern. Die­ses Mas­kott­chen – das vom Fo­to, der Knopf an sei­nem Bauch stell­te ei­ne Gold­me­dail­le dar – war bei der Be­völ­ke­rung von Tai­pei sehr be­liebt, wie Shih Ying, der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­stic Edu­ca­ti­on Foun­da­ti­on, be­ton­te. Stif­tung für hu­ma­ni­sti­sche Er­zie­hung, dach­te ich, was für ein ehr­wür­di­ger Na­me! Sol­che Än­de­run­gen, sag­te Shih Ying der Zei­tung zu­fol­ge, wür­den nicht hin­ge­nom­men wer­den, wür­de man sie an der Mo­na Li­sa vor­neh­men. Er mein­te die ech­te Mo­na Li­sa, die im Pa­ri­ser Lou­vre aus­ge­stellt ist. Der­sel­be Na­me, Mo­na Li­sa, wur­de vom tai­wa­ne­si­schen Volks­mund Bra­vo the Bear ver­lie­hen, weil er ein so schö­nes Lä­cheln zei­ge; Mo­na Li­sa war ge­wis­ser­ma­ßen zum Spitz­na­men – oder Künst­ler­na­men – des Bä­ren ge­wor­den. Aber war­um hat­te die Stadt­re­gie­rung das Aus­se­hen der Mo­na Li­sa von Tai­pei ver­än­dert? Der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­sti­schen Ge­sell­schaft sprach von Ver­blen­dung und Ar­ro­ganz der Mäch­ti­gen. Ei­ne wei­te­re Er­klä­rung, so­zu­sa­gen der Hin­ter­grund der Ge­schich­te, den die Ar­ti­kel­schrei­ber bei­steu­er­ten, lag dar­in, daß es Pro­ble­me mit den Mar­ken­rech­ten gab, die die Kul­tur­ab­tei­lung durch klei­ne Än­de­run­gen – ein oze­an­blau­es Näs­chen an­stel­le des schwar­zen – ele­gant zu um­ge­hen ver­such­te. Ei­nen sol­chen An­griff auf ihr gei­stig-künst­le­ri­sches Ei­gen­tum, dach­te ich den Ge­dan­ken Shihs fort­spin­nend, ei­nen sol­chen An­griff wür­de sich die ech­te Mo­na Li­sa nie­mals ge­fal­len las­sen. Die Ge­sell­schaft zur Ret­tung der Uni­ver­sia­de-Ver­si­on von Bra­vo the Bear hat­te ei­ne Pe­ti­ti­on ver­faßt, die nicht nur von zahl­lo­sen Bür­gern der Stadt, son­dern auch von be­kann­ten tai­wa­ne­si­schen Spit­zen­sport­lern un­ter­schrie­ben wor­den war (von Künst­lern war in die­sem Zu­sam­men­hang lei­der nicht die Re­de). Das Mas­kott­chen war ur­sprüng­lich für die Som­mer­uni­ver­sia­de ent­wor­fen wor­den, die 2017 in Tai­pei statt­ge­fun­den hat­te.

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Hi­ro­shi­ma 2019

Erst wenn du et­was zu ver­lie­ren be­ginnst, ent­steht ei­ne Ge­schich­te. Je mehr Ver­lu­ste, de­sto mehr Er­in­ne­rung, de­sto mehr Er­zäh­lung. Was na­tür­lich be­drückend, le­bens­hem­mend wir­ken kann.

An kei­nem Ort ha­be ich so lan­ge ge­lebt wie in Hi­ro­shi­ma. Drei­zehn Jah­re, kein Ju­bi­lä­um, kei­ne »run­de« Zahl – ich hät­te mit die­ser Er­zäh­lung war­ten kön­nen, bis es fünf­zehn oder zwan­zig Jah­re sind. Aber ob ich dann noch hier bin? Ob ich noch le­be? Der Lauf der Ge­schich­te oder des Zu­falls will es, daß die­ses Da­tum, das »Ge­ge­be­ne«, mit ei­nem an­de­ren Da­tum zu­sam­men­fällt, ei­nem En­de und Neu­be­ginn. Nach drei­ßig Jah­ren geht die Amts­zeit des al­ten Kai­sers zu En­de, ein neu­er tritt an. Es war die ver­spro­che­ne Frie­dens­zeit (»Heis­ei«), aber auch ei­ne de­pri­mie­ren­de Zeit, ei­ne ver­ewig­te Kri­se oh­ne gro­ße Hoff­nung auf ei­ne Lö­sung; die jun­gen Leu­te ha­ben mehr Angst vor der Zu­kunft als Ver­trau­en in sie. Vor kur­zem wur­de Sho­ko Asa­ha­ra ge­hängt, der Gu­ru ei­ner re­li­giö­sen Sek­te, ver­ant­wort­lich für das Gift­gas­at­ten­tat 1995 in der U‑Bahn von To­kyo, bei dem zwölf Men­schen star­ben und hun­der­te ver­letzt wur­den. Nach dem Erd­be­ben und Tsu­na­mi in To­ho­ku, mit der dro­hen­den Atom­ka­ta­stro­phe, hat­ten wir Angst, das Land könn­te zer­bre­chen. Letz­tes Jahr ging in un­se­rer Ge­gend ein schwe­rer, schier end­lo­ser Re­gen nie­der, ne­ben un­se­rem Haus rutsch­te, vom Gip­fel weg, ein gan­zer Berg­hang her­un­ter, die Spu­ren sind un­über­seh­bar, ich muß mich nur um­wen­den: Blick durch das Bal­kon­fen­ster, wie da­mals, als ich, schlaf­los im Mor­gen­grau­en, das gro­ße Grol­len ge­hört hat­te und so­fort auf­ge­sprun­gen war.

Heis­ei. Rei­wa. Geht mich das et­was an? Schwer zu sa­gen, was die neue Ma­xi­me – wenn es ei­ne ist und sein soll – ei­gent­lich be­deu­tet. Zwei Schrift­zei­chen aus ei­nem al­ten ja­pa­ni­schen Ge­dicht, dem Lied von der Pflau­men­blü­te, die man in Kyo­to oder Hi­ro­shi­ma schon kurz nach Neu­jahr se­hen kann, die er­ste Baum­blü­te und des­halb be­son­ders herz­er­freu­end, hoff­nungs­voll. Frü­her stamm­ten die kai­ser­li­chen Ma­xi­men aus al­ten chi­ne­si­schen Tex­ten, die die Früh­zeit der ja­pa­ni­schen Kul­tur präg­ten. Gut so; ei­ne na­tio­na­li­sti­sche Ge­ste, wie sie das miß­traui­sche Kom­men­ta­to­ren­volk zu er­ken­nen glaub­te (»Ja­pan snubs Chi­na at dawn of new im­pe­ri­al era« lau­te­te die Schlag­zei­le in The Times), kann ich dar­in nicht se­hen. Auch die ja­pa­ni­sche Hym­ne ist ja ein recht fried­li­ches Ge­dicht aus dem zehn­ten Jahr­hun­dert, oh­ne Kriegs­ge­trom­mel (aux ar­mes ci­toy­ens, the bombs bur­st­ing in the air…), oh­ne Prah­le­rei (das be­gna­de­te Volk gro­ßer Söh­ne und, neu­er­dings, Töch­ter).

Wir woh­nen fern von der Stadt, mehr oder we­ni­ger auf dem Land, in ei­ner ad­mi­ni­stra­ti­ven Zo­ne, die sich Hi­ga­shi-Hi­ro­shi­ma nennt, frü­her ei­ne Hand­voll ver­streu­ter Or­te von Reis­bau­ern, Sa­ke­pro­du­zen­ten und Fi­schern, heu­te von Uni­ver­si­tä­ten, For­schungs­zen­tren und Zu­lie­fer­fir­men für Mat­su­da durch­setzt. Im­mer noch vie­le Reis­fel­der, auch Sa­ke­braue­rei­en, be­wal­de­te Ber­ge, wei­ter un­ten, in west­li­cher Rich­tung, dann Ku­re mit sei­ner Werft und den Kriegs­schif­fen, die die US-Streit­kräf­te da­mals nicht bom­bar­dier­ten, sie zo­gen es vor, ih­ren »Litt­le Boy« über dicht­be­sie­del­tem Ge­biet ab­zu­wer­fen. Dort­hin, in die Stadt­mit­te von Hi­ro­shi­ma, kom­me ich sel­ten, ge­bil­det wird sie vom Frie­dens­park, über dem am Mor­gen des 6. Au­gust 1945 der gro­ße Wol­ken­pilz auf­stieg und der schwar­ze Re­gen fiel, und der vom Park ab­ge­hen­den Ein­kaufs­stra­ße, die am Par­co-Ge­bäu­de en­det, ei­nem ju­gend­li­chen Pa­last für mehr oder min­der schicke Klei­der – da­hin­ter be­ginnt das eher schmud­de­li­ge Ver­gnü­gungs­vier­tel.

Ich kom­me sel­ten hin, aber das hat Vor­tei­le, zu­min­dest den, daß ich die Stadt im­mer wie­der wie zum er­sten Mal se­he, mit dem auf­merk­sa­men, stau­nen­den Blick. Neu­lich, am er­sten Tag des er­sten Jah­res der Rei­wa-Ära, zu Be­ginn des Won­ne­mo­nats Mai, das Stau­nen über die Bäu­me, die Leucht­kraft des hell­grü­nen Blatt­werks der kusuno­ki, der Kamp­fer­bäu­me (häß­li­cher Na­me, der so gar nicht der Sa­che gleicht), und den Kon­trast der dunk­len, fast schwar­zen Äste, die es tra­gen. Ein Ge­spräch über Bäu­me ist fast ein Ver­bre­chen – an die­se Ge­dicht­zei­le Ber­tolt Brechts muß­te ich den­ken, als ich das er­ste Mal hier­her­kam, und spä­ter im­mer wie­der der Ge­dan­ke: Aber es ist kein Ver­bre­chen und schließt auch kein Schwei­gen ein. Die­se Bäu­me wur­den kurz nach der Ka­ta­stro­phe ge­pflanzt, da­mit neu­es Le­ben ent­ste­he trotz all des Grau­ens, und die sie ge­pflanzt ha­ben, sind mit ih­nen äl­ter ge­wor­den, ei­ni­ge von ih­nen, schon ge­bückt, pfle­gen sie noch heu­te, und wenn ich die­se al­ten Männ­lein und Weib­lein se­he, drei­zehn Jah­re nach mei­nem er­sten Spa­zier­gang hier, kann ich nicht um­hin, mich zu fra­gen, ob in zehn, zwan­zig Jah­ren noch je­mand kom­men wird, um den Bo­den um die Stäm­me zu har­ken. Die Frau, die ich ein­mal hier in der Nä­he, in ei­nem St-Marc-Ca­fé, ge­trof­fen und be­fragt ha­be, 1945 war sie ei­ne Schü­le­rin, die zwi­schen Trüm­mern nach ih­ren El­tern und Ge­schwi­stern such­te und ver­strahlt wur­de, die­se Frau wird bald neun­zig sein. Nein, ein Ge­spräch über Bäu­me ist kein Ver­bre­chen, wie nach Ausch­witz wei­ter­hin Ge­dich­te ge­schrie­ben wur­den, und nicht von Bar­ba­ren, und es im­mer noch ein rich­ti­ges Le­ben im fal­schen gibt. Ge­dich­te, Ge­sprä­che: kei­ne Un‑, son­dern Wohl­tat.

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Fluch oder Se­gen?

Was die Di­gi­ta­li­sie­rung bringt und was sie zer­stört

…un­gen

Es gibt in der Mensch­heits­ge­schich­te Ent­wick­lun­gen, die un­ver­meid­lich schei­nen. Wa­ren sie ein­mal in Gang ge­kom­men, muß­ten sie wei­ter­ge­hen, nichts konn­te sie auf­hal­ten, am we­nig­sten die Pro­te­ste kon­ser­va­ti­ver, auf Be­wah­rung des Über­lie­fer­ten be­dach­ter Men­schen. Das gilt, in der neue­ren Zeit, für die In­du­stria­li­sie­rung, die Elek­tri­fi­zie­rung, den welt­wei­ten Han­del, die Glo­ba­li­sie­rung, die Ver­ma­ssung des Zu­sam­men­le­bens, die Aus­brei­tung und den Ein­fluß der Mas­sen­me­di­en, die Ver­wis­sen­schaft­li­chung der Öko­no­mie und an­de­rer Le­bens­be­rei­che, die Er­for­schung und Ma­ni­pu­la­ti­on des pflanz­li­chen, tie­ri­schen und mensch­li­chen Le­bens, die Au­to­ma­ti­sie­rung und Ro­bo­ter­i­sie­rung, die Sa­tel­li­ten­kom­mu­ni­ka­ti­on, die Aus­brei­tung und zu­neh­men­de Ver­dich­tung ei­nes welt­wei­ten elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­net­zes. Es gilt eben­so für die Di­gi­ta­li­sie­rung, die sich mit ei­ni­gen die­ser Ent­wick­lun­gen über­schnei­det. Nichts da­von kann man rück­gän­gig ma­chen. Man kann ver­su­chen, die ent­spre­chen­den Vor­gän­ge und Phä­no­me­ne zu re­geln, zu ge­stal­ten, zu be­gren­zen. Mehr nicht.

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Die Di­gi­ta­li­sie­rung wird im All­tags­le­ben von vie­len als Se­gen er­lebt, von an­de­ren als Fluch, oder ab­wech­selnd, so­gar gleich­zei­tig, als bei­des, Se­gen und Fluch. Ein Se­gen, wenn man mit weit ent­fern­ten Men­schen kom­mu­ni­zie­ren kann, oh­ne ei­gens da­für zu be­zah­len. Be­quem, zu Hau­se – al­so im »Netz« – ein­kau­fen zu ge­hen, Ho­tel­zim­mer zu bu­chen, Fahr­kar­ten zu kau­fen. Un­ter­halt­sam, zu spie­len, zu sur­fen, zu chat­ten. Be­quem und un­ter­halt­sam ist sie, un­se­re di­gi­ta­le Welt. Und bil­lig.

Auf der an­de­ren Sei­te: Wir ha­ben zu­neh­mend das Ge­fühl, über­wacht zu wer­den. Stän­dig ge­ben wir, oh­ne es recht zu mer­ken, In­for­ma­tio­nen über uns preis, die dann für ewi­ge Zei­ten ge­spei­chert blei­ben, und doch kön­nen wir oh­ne das Smart­phone nicht le­ben, es ist Teil von uns selbst, wir sind vom In­ter­net, die­ser to­ta­len Ver­bun­den­heit, ab­hän­gig. Die Ver­net­zung und das Da­sein dar­in ist per se ein Zu­stand der Ab­hän­gig­keit. Je wei­ter die di­gi­ta­le Per­so­na­li­sie­rung vor­an­schrei­tet, de­sto un­frei­er wer­den wir. Nicht Men­schen, son­dern Ma­schi­nen be­stim­men über uns.

in­nen … au­ßen … in­nen

In ein und der­sel­ben Aus­ga­be der Süd­deut­schen Zei­tung las ich neu­lich zwei Ar­ti­kel, die auf den er­sten Blick we­nig mit­ein­an­der zu tun hat­ten und ganz ver­schie­de­nen Re­dak­ti­ons­be­rei­chen zu­ge­ord­net wa­ren. Der ei­ne stand auf Sei­te 2, In­nen­po­li­tik und Kom­men­ta­re, der an­de­re im Feuil­le­ton auf Sei­te 11. Auf Sei­te 2 for­der­te der Lei­ter des »Ber­li­ner Bü­ros des Zu­kunfts­in­sti­tuts«, ein stu­dier­ter Ju­rist und Öko­nom, die deut­sche Bun­des­re­gie­rung auf, die Chan­cen der Di­gi­ta­li­sie­rung zu er­ken­nen und bes­ser zu nut­zen. In sei­nem Ar­ti­kel stieß ich auf die kla­re, fast schon ma­ni­fest­ar­ti­ge Be­haup­tung: »Das Ver­spre­chen der Di­gi­ta­li­sie­rung heißt Teil­ha­be und Ar­beit für al­le.«

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Mein Häm­mer­chen

Seit sieb­zehn Jah­ren, fast so lan­ge, wie ich in Ja­pan le­be, be­sit­ze ich die­ses Sak­ko. Ich tra­ge es gern, es ist be­quem, et­was weit, schwarz oder von ei­nem sehr dunk­len Blau, bei Son­nen­licht glit­zert die Ober­flä­che manch­mal ganz leicht (kommt mir vor). Im Win­ter ist es recht warm, im Früh­ling und Herbst nicht zu warm, in Wahr­heit aber von be­schei­de­ner Qua­li­tät, fil­zig, ein we­nig aus­ge­beult, Staub und Här­chen und Fus­sel blei­ben am Stoff haf­ten, so daß ich oft dar­an her­um­zup­fe und ‑wi­sche. Ge­kauft ha­be ich es mit­ten in ei­nem der en­gen Gäß­chen ei­nes Markts ne­ben dem gro­ßen Ats­u­ta-Schrein in Na­go­ya, von ei­nem chi­ne­si­schen Händ­ler, der die Stücke in klei­ne­ren Men­gen vom Fest­land auf die In­sel brach­te. Bei Le­sun­gen und ähn­li­chen Ge­le­gen­hei­ten tra­ge ich das Sak­ko gern, weil ein Schrift­stel­ler nicht gar zu ele­gant wir­ken soll­te, ich an­de­rer­seits aber doch et­was dar­stel­len möch­te, ei­nen Ver­fas­ser von Bü­chern, ei­nen ma­ker, ei­nen poe­ta fa­ber; ei­nen, der et­was von sei­nem Hand­werk, den Wör­tern und Sät­zen, ver­steht.

Da traf es sich gut, als mir in der Al­ten Schmie­de, dem Ort in der Wie­ner In­nen­stadt, wo sich die Dich­ter und im­mer auch ein paar Hö­rer tref­fen, ei­ner der Ma­cher dort, ein Fä­den­zie­her im Hin­ter­grund, glau­be ich – so je­den­falls sieht er sich selbst –, ein klei­nes ro­tes Ding in die per­ple­xe Hand drück­te: ei­nen Ham­mer. Den konn­te, den soll­te ich an­stecken, und das tat ich, ans Re­vers mei­nes dunk­len Fa­ber-Sak­kos, das traf sich gut, da paß­te es hin, Rot auf Schwarz, rouge et noir, win­zig klein vor dem ozea­ni­schen Hin­ter­grund, dem um­hül­len­den Schwarz, ein Bluts­trop­fen, aus der Fer­ne ge­se­hen. En rouge et noir, mes lut­tes, mes fai­bles­ses…

Die Kämp­fe; Schwä­chen und Stär­ken. Der Ma­cher hat­te mit dem Au­ge ge­zwin­kert, oder zu­min­dest ver­schmitzt drein­ge­schaut. Der klei­ne Ham­mer war doch ein Sym­bol, er ver­wies auf et­was; et­was an­de­res, das er nicht selbst war, mit dem er viel­leicht in Zu­sam­men­hang stand, das er aber nicht war. Rich­tig – mir ist es erst viel spä­ter auf­ge­fal­len, beim näch­sten oder über­näch­sten Mal in der Schön­la­tern­gas­se, in der ich noch nie ei­ne schö­ne La­ter­ne ge­se­hen ha­be – rich­tig, da hing es, das Sym­bol, über den Köp­fen der Pas­san­ten, der Dich­ter und Hö­rer und Nacht­schwär­mer, da hing es, elek­tro­rot, um ein Viel­fa­ches grö­ßer als das Sym­bol­chen an mei­nem Re­vers, aber un­auf­fäl­lig im Ver­gleich zum Schlüs­sel, dem schmie­de­ei­ser­nen, ewi­gen, der da eben­falls hing, et­was prot­zig, nicht wahr? Al­so Schmie­de, Ham­mer, Werk­zeug, Mit­tel zu… Ei­ne Met­ony­mie, kei­ne Me­ta­pher.

Ab und zu wer­de ich ge­fragt, was der klei­ne Ham­mer zu be­deu­ten ha­be und war­um ich ihn tra­ge; an­de­re Ma­le se­he ich am Ge­sichts­aus­druck mei­nes Ge­gen­übers, daß es ir­ri­tiert ist, sich viel­leicht so­gar be­droht fühlt, wie ich mich vom schmie­de­ei­ser­nen Schlüs­sel be­droht fühl­te. Was hät­te ich de­nen, die sich zu fra­gen ge­trau­en, ant­wor­ten sol­len, was soll ich ih­nen sa­gen? Si­cher, das Sym­bol des Kom­mu­nis­mus, Ham­mer und Si­chel, bei­de Werk­zeu­ge zu­sam­men, ge­kreuzt, Ar­bei­ter und Bau­ern, Hu­fe für Pfer­de und Gras für Kü­he, vor­in­du­stri­el­le Sym­bo­le, wenn man’s recht be­denkt, al­so ro­man­tisch, kei­ne Angst, oder doch, Angst vor dem Un­heim­li­chen, nicht zu Durch­schau­en­den. Ei­ne Zeit­lang in mei­ner Ju­gend dach­te ich, der Kom­mu­nis­mus könn­te wirk­lich schö­ne Ver­hält­nis­se für uns al­le brin­gen, Zucker­erb­sen für je­der­mann, Bü­cher für al­le Schul­kin­der, al­so je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen, je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten. Schö­ne Idea­le! Wenn man je­den tun läßt, wie er will, wird die­ser Je­der­mann, Mi­ster Ni­ne­ty-Ni­ne Per­cent, auf der fau­len Haut lie­gen blei­ben, kei­nen Ham­mer und kei­ne Si­chel an­rüh­ren, son­dern sich ei­ne Fla­sche Bier grap­schen und Fuß­ball­spie­le oder Por­nos oder Shop­ping­teaser in sein Hirn rein­zie­hen, und wer sorgt dann für die Be­dürf­nis­se bzw. die Gü­ter, die sie be­frie­di­gen. Un­mög­lich – das ha­be ich ir­gend­wann ein­ge­se­hen (nach­dem ich mich so­gar ein biß­chen »en­ga­giert« hat­te). Trotz­dem fin­de ich die Idee ei­nes sol­chen Blu­men­wie­sen­kom­mu­nis­mus im­mer noch schön und will nicht ganz von ihr las­sen. Flower Power! Viel­leicht ist das ja ein Grund, ei­ner der Grün­de, war­um ich das klei­ne ro­te Häm­mer­chen am Re­vers tra­ge: ei­ne hal­be Hoff­nung. Und der Grund, war­um der Ma­cher von der Al­ten Schmie­de die Din­ger in der Rock­ta­sche bei sich trägt, um ge­ge­be­nen­falls eins in ei­ne war­me Hand­flä­che glei­ten zu las­sen. Aber der meint das doch an­ders, kon­kre­ter, das Ro­te ist für ihn eher et­was wie der Fa­den auf dem un­end­li­chen Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen, die­ses La­by­rinth, in dem man sich schon mal ver­ir­ren kann oder, um die Wahr­heit zu sa­gen, sich dau­ernd und dau­er­haft ver­irrt.

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Auf ver­lo­re­nem Po­sten

Die Neu­gier des Jour­na­li­sten und die Gren­zen des Wis­sens

Seit der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts wird un­ser so­ge­nann­tes Welt­wis­sen im­mer mehr von den Mas­sen­me­di­en be­stimmt, die ei­ne ra­san­te, noch lan­ge nicht ab­ge­schlos­se­ne Ent­wick­lung durch­ge­macht ha­ben. Die Le­ben der mei­sten Men­schen in der west­li­chen Welt sind ver­hält­nis­mä­ßig arm an un­mit­tel­ba­ren, per­sön­li­chen Er­fah­run­gen. Si­cher­heits­den­ken, Vor­sor­ge, Schutz­maß­nah­men al­ler Art ver­stär­ken die­se Ten­denz noch. Gleich­zei­tig wer­den wir durch die Mas­sen­me­di­en, vor al­lem die Bild­me­di­en, tag­täg­lich mit oft haar­sträu­ben­den oder er­schüt­tern­den Er­eig­nis­sen kon­fron­tiert, und die mei­sten Kon­su­men­ten set­zen sich die­ser In­for­ma­ti­on, die­ser Be­ein­flus­sung ge­wohn­heits­mä­ßig und gern aus. Die Kluft zwi­schen per­sön­li­cher Er­fah­rung und Welt­wis­sen ist tief ge­wor­den. PR-Stra­te­gien di­ver­ser An­bie­ter der Frei­zeit­in­du­strie – Rei­se, Sport, Well­ness, Es­sen & Trin­ken, Part­ner­su­che – be­schwö­ren Aben­teu­er­lich­keit und Ge­nuß­freu­de, Lei­den­schaf­ten und Er­leb­nis­se um­so ein­dring­li­cher, je mehr die rea­len Grund­la­gen da­für schwin­den. Es gibt Er­leb­nis­braue­rei­en und Er­leb­nis­du­schen, Er­leb­nis­tickets und Er­leb­nis­gut­schei­ne, Er­leb­nis­ta­ge und Er­leb­nis­näch­te, und na­tür­lich gibt es auch ei­nen Markt­füh­rer für die Ver­mitt­lung von Er­leb­nis­sen. Was den Kon­su­men­ten von die­sen Fir­men ver­kauft wird, ist Er­satz. Je lang­wei­li­ger das Le­ben der Kun­den, de­sto mehr Sen­sa­ti­on, Schock und Em­pö­rung brau­chen sie. Viel­leicht ist das seit je­her ei­ne Ei­gen­tüm­lich­keit der Men­schen. Ei­ner, der es ei­gent­lich wis­sen muß­te, der Jour­na­list und Schrift­stel­ler Ryszard Ka­pu­scin­ski, schrieb: »Un­se­re Phan­ta­sie lechzt näm­lich nach der klein­sten Sen­sa­ti­on, dem ge­ring­sten Si­gnal ei­ner Be­dro­hung, dem schwäch­sten Pul­ver­ge­ruch, saugt al­les gie­rig auf, um es dann un­ver­züg­lich zu mon­strö­sen, über­wäl­ti­gen­den Aus­ma­ßen auf­zu­bla­sen.«

Sol­chen Ein­sich­ten zum Trotz ha­ben sich ha­ben sich in den de­mo­kra­ti­schen Län­dern im Be­reich der Print­me­di­en Re­geln und Stan­dards her­aus­ge­bil­det, die heu­te – auch beim Fern­se­hen, zu­min­dest theo­re­tisch – für Jour­na­li­sten als ver­bind­lich gel­ten. Ein Ar­ti­kel über gleich wel­ches The­ma soll mög­lichst ob­jek­tiv und aus­ge­wo­gen sein, der Ver­fas­ser soll Quel­len an­ge­ben und über­prü­fen, Fak­ten checken und ge­gen­checken, un­ter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Mei­nun­gen zu Ge­hör brin­gen. Ich ge­brau­che das Ad­verb »mög­lichst«, weil auf der Hand liegt, daß es nicht im­mer ein­fach ist, die­sen An­for­de­run­gen ge­recht zu wer­den; An­for­de­run­gen, die im üb­ri­gen durch das Über­hand­neh­men des Un­ter­hal­tungs­fak­tors und dem Buh­len um blo­ße Auf­merk­sam­keit – Ein­schalt- und Click­quo­ten – aus­ge­dünnt, wo nicht über­flüs­sig ge­macht wer­den. Man kann sich so­gar, oh­ne ins De­tail zu ge­hen oder Bei­spie­le zu er­ör­tern, die Fra­ge stel­len, ob et­was wie »Ob­jek­ti­vi­tät« über­haupt mög­lich ist. Als Norm oder Wunsch be­ruht sie auf ei­nem Ana­lo­gie­mo­dell, dem­zu­fol­ge Tex­te und Bil­der ei­ne Wirk­lich­keit ab­bil­den, ihr zu­min­dest »ent­spre­chen«. Auf die Wirk­lich­keit ak­tiv Ein­fluß zu neh­men oder sie gar zu »kon­stru­ie­ren«, um ei­nen Mo­de­be­griff aka­de­mi­scher Kul­tur­wis­sen­schaft­ler zu ge­brau­chen, ist nach die­sen Prin­zi­pi­en nicht die Auf­ga­be ei­nes Jour­na­li­sten. Jo­r­is Luy­en­di­jk, jah­re­lang Aus­lands­kor­re­spon­dent im Na­hen Osten, zeigt in ei­nem Buch, das sei­ne dies­be­züg­li­chen Er­fah­run­gen auf­ar­bei­tet, wie groß der Ab­stand zwi­schen den heh­ren Prin­zi­pi­en und der jour­na­li­sti­schen Pra­xis ist. Sei­ner Dar­stel­lung zu­fol­ge ist es so gut wie un­mög­lich, sich in ei­ner Dik­ta­tur oder in be­setz­ten Ge­bie­ten ein – »ad­äqua­tes« – Bild von den tat­säch­li­chen Vor­gän­gen im Land zu ma­chen, weil die In­for­ma­ti­on auf­be­rei­tet, ge­fil­tert und/oder ganz un­ter­drückt wird und die Men­schen in Angst le­ben, so daß sie ih­re Mei­nun­gen und Er­fah­run­gen nicht frei äu­ßern kön­nen (und selbst wenn sie es tun, muß sich der ver­ant­wor­tungs­vol­le Jour­na­list fra­gen, ob er durch die Ver­öf­fent­li­chung den Aus­kunft­ge­ber nicht in Ge­fahr bringt). Das­sel­be gilt für Si­tua­tio­nen, in de­nen ein Me­di­en­krieg ent­fes­selt wur­de, wo­bei auf west­li­cher, »de­mo­kra­ti­scher« Sei­te zu­neh­mend PR-Be­ra­tungs­agen­tu­ren die Art der In­for­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be und letzt­lich der Be­richt­erstat­tung be­ein­flus­sen. Die Fra­ge liegt na­he, ob die­se Ab­hän­gig­keit von Wer­bung und Mar­ke­ting mitt­ler­wei­le nicht auch den In­lands­jour­na­lis­mus be­trifft, so daß Jour­na­li­sten im­mer häu­fi­ger das wie­der­ge­ben, was ih­nen Be­hör­den, Par­tei­en, Fir­men, Lob­bys usw. un­ter­stützt von PR-Agen­tu­ren vor­ge­kaut ha­ben.

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Truth isn’t truth…

…sprach der Rechts­an­walt und ehe­ma­li­ge Bür­ger­mei­ster von New York Ru­dolph Giu­lia­ni, um mög­li­chen Dis­kus­sio­nen über die Fra­ge, ob sein Man­dant Do­nald Trump, Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, bei ei­ner mög­li­chen Ge­richts­ver­hand­lung die Wahr­heit sa­gen wer­de oder nicht, zu­vor­zu­kom­men. Bei Ge­richt muß man schwö­ren; man darf nichts als die Wahr­heit sa­gen. Die­ser Grund­satz ist in den Rechts­staa­ten im­mer noch weit­hin ak­zep­tiert. Ei­ne De­fi­ni­ti­on, was Wahr­heit ei­gent­lich sei, scheint nicht von­nö­ten. Hin­ter­fra­gun­gen, zu de­nen mei­ne Aus­füh­run­gen über den Wil­len zum Nicht­wis­sen an­re­gen, sind in die­sem Kon­text nicht üb­lich und brin­gen den Be­tei­lig­ten auch nichts, am we­nig­sten dem An­ge­klag­ten.

In den Mas­sen­me­di­en wur­de Giu­lia­nos Spruch so­gleich mit den »al­ter­na­ti­ven Fak­ten«, die Trump oder sei­ne Un­ter­ge­be­nen ge­le­gent­lich an­bie­ten, in Zu­sam­men­hang ge­bracht. Frei­lich ist ein Fakt, ei­ne Tat­sa­che, et­was an­de­res als »die Wahr­heit«. Wahr­heit – oder ein Nä­he­rungs­wert an die hy­po­the­ti­sche Wahr­heit – stellt sich in der Re­gel durch Prü­fung von Fak­ten her; nicht nur, aber auch durch Treue ge­gen­über den Fak­ten. Er­ziel­te Wahrheits­werte in Be­zug auf die­sel­be Fra­ge­stel­lung kön­nen selbst­ver­ständ­lich von­ein­an­der ab­wei­chen. Die Per­spek­ti­ven und In­ter­es­sen sind un­ter­schied­lich, viel­leicht auch die ei­nem kon­kre­ten Er­kennt­nis­be­mü­hen zu­grun­de­lie­gen­den ethi­schen Wer­te. Wer­den ei­ne ge­mein­sa­me Be­zugs­ebe­ne und ei­ne ge­mein­sa­me Spre­che ge­leug­net, las­sen sich sol­che Dis­kus­sio­nen al­ler­dings gar nicht mehr füh­ren. Was dann ob­siegt, ist nicht das bes­se­re Ar­gu­ment oder der kla­re­re Blick auf die Tat­sa­chen, son­dern die Macht und das Ei­gen­in­ter­es­se der Spre­cher, ih­re Laut­stär­ke und die Fä­hig­keit, Mas­sen­me­di­en zu kon­trol­lie­ren oder zu ma­ni­pu­lie­ren.

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