Leif Randt: Let’s talk about fee­lings

Leif Randt: Let's talk about feelings
Leif Randt: Let’s talk about fee­lings

Leif Randt zählt längst zu je­ner klei­nen Grup­pe der Schrift­stel­ler-Ge­ne­ra­ti­on Y, die ir­gend­wann in kon­zer­tier­ter Ak­ti­on von Kri­tik und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft zu Feuil­le­ton­günst­lin­gen avan­cier­ten. Randt ent­wickel­te sich vom Pop­li­te­ra­ten nicht zum Mid­cult-Au­tor, son­dern kon­stru­ier­te in sei­nen Ro­ma­nen »ge­misch­te Wirk­lich­kei­ten«, be­stehend aus »me­dia­lem (Selbst-) Ent­wurf und sinn­li­cher Exi­stenz im Hier und Jetzt« (Baßler/Druegh). Dun­kel ha­be ich noch den leicht dys­to­pi­schen Sound von Schim­mern­der Dunst über Co­by Coun­ty in Er­in­ne­rung. Über die dann fol­gen­den Bü­cher hat­te ich so viel ge­le­sen, dass ich mir die Lek­tü­re er­spar­te. Nun liegt mit Let’s talk about emo­ti­ons Randts neu­er Ro­man vor und ich woll­te un­be­dingt die Fol­ge des Nicht­le­sens durch­bre­chen.

Er­zählt wird et­was mehr als ein Jahr im Le­ben des Bou­ti­quen­be­sit­zers Ma­ri­an Fland­ers, 41, Sohn der be­rühm­ten Ca­ro­li­ne Fland­ers, ei­nes Mo­dels, die vor al­lem in den 1970er und 80er Jah­ren Kult­sta­tus ge­nos­sen hat­te. Es be­ginnt mit der See­be­stat­tung von Ca­ro­li­ne, de­ren Asche (leicht vor­schrifts­wid­rig) vom Schiff von Ma­ri­ans Va­ter, dem be­kann­ten Nach­rich­ten­an­chor­man der 2000er Jah­re Mi­lo Coen, der nun fast 80 Jah­re alt ist, auf den Wann­see ver­streut wird. Mit da­bei auch Mi­los Kin­der aus sei­ner zwei­ten Ehe, Te­da, 27, ei­ne welt­weit be­kann­te EDM-DJ und Co­lin, Fa­mi­li­en­va­ter von Zwil­lin­gen.

Zu Be­ginn macht man sich noch die Mü­he, die Prot­ago­ni­sten zu de­chif­frie­ren. Ist Ma­ri­ans Mut­ter et­wa Ve­rusch­ka von Lehn­dorff? Oder de­ren Mut­ter Eleo­no­re »No­na« von Haef­ten? Und der Nach­rich­ten­mann: Könn­te Ul­rich Wickert ge­meint sein? Als man dann er­fährt, dass der Ro­man am 2. Ju­ni 2025 be­ginnt und die Bun­des­kanz­le­rin Fa­ti­ma Brink­mann von »Pro­gress ‘16« heißt (Vi­ze­kanz­ler ist Ro­bert Ha­beck von »Bünd­nis 90«), die Li­ber­tä­ren die ge­fähr­lich­ste Par­tei dar­stel­len (Ma­ri­an hat­te die Links­par­tei ge­wählt) und von der zwei­ten Amts­zeit von Ber­nie San­ders hört, stellt man das Su­chen ein. Randt er­schafft sich sei­nen Wunsch­kos­mos, der für das wei­te­re Ver­ständ­nis des Bu­ches kei­ne Rol­le spielt.

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Ca­ro­li­ne Wahl: Die As­si­sten­tin

Caroline Wahl: Die Assistentin
Ca­ro­li­ne Wahl: Die As­si­sten­tin

Char­lot­te Scharf ist 1996 ge­bo­ren, Ein­zel­kind, obe­re Mit­tel­schicht, aus dem Speck­gür­tel um Köln, ab­ge­schlos­se­nes Ma­ster-Stu­di­um. Sie be­wirbt sich als As­si­sten­tin des Ver­le­gers ei­nes re­nom­mier­ten Münch­ner Ver­lags. Es soll wohl ei­ne Art Eman­zi­pa­ti­on vom El­tern­haus sein, vor al­lem von der Mut­ter, mit der sie ei­ne Hass­lie­be ver­bin­det. Aber wahr­schein­lich, so wird der Le­ser von Ca­ro­li­ne Wahls Ro­man Die As­si­sten­tin zu Be­ginn von der all­wis­sen­den Er­zäh­le­rin be­lehrt, war es halt nur ihr Va­ter­kom­plex, der sie zur Be­wer­bung ver­an­lass­te. In je­dem Fall aber ei­ne »rie­sen­gro­ße Fehl­ent­schei­dung«. Oder doch nicht?

Der de­si­gnier­te Chef heißt Ugo Mais­el, ein Münch­ner Le­be­mann, ehe­ma­li­ger Ten­nis­spie­ler (Platz 348 auf der ATP-Welt­rang­li­ste und 1 x Agas­si ge­schla­gen), Buch­au­tor (mä­ssi­ger bis gar kein Er­folg) und jetzt führt er die­sen Ver­lag. Er hat ei­ne Nar­be im Ge­sicht (ei­nen Schmiss?), sieht sehr kränk­lich aus und es be­ginnt der Haar­aus­fall. Char­lot­te er­hielt ei­ne Zu­sa­ge, al­ler­dings für ei­nen et­was an­de­ren, zweit­ran­gi­ge­ren As­si­sten­tin­nen­job, aber das war ihr egal. Sie zog nach Is­ma­ning in ein Ste­phen-King-ähn­li­ches Haus, in dem un­ter an­de­rem im Jahr ih­rer Ge­burt ei­ne Lei­che ge­fun­den wor­den war, aber im­mer­hin war die Woh­nung am Was­ser und das war ihr wich­tig.

Was nun folgt ist ei­ne mehr oder we­ni­ger chro­no­lo­gi­sche Schil­de­rung von Char­lot­tes As­si­sten­tin­nen­tor­tur von Sep­tem­ber bis Fe­bru­ar, mit vie­len Hö­hen und Tiefs und vor al­lem et­li­chen me­ta­fik­tio­na­len Ein­schü­ben, die rasch er­ken­nen las­sen, dass hier ei­ne Au­torin auch das ziel­ge­rich­te­te Schrei­ben ih­res Ro­mans hin zu ei­nem Best­sel­ler the­ma­ti­siert. So über­legt sie auf Sei­te 110, wie sie den Text von ei­ner Er­zäh­lung oder No­vel­le (nicht so ganz markt­kon­form) in ei­nen Ro­man über­füh­ren kann. Und schreibt noch 250 wei­te­re Sei­ten (statt viel­leicht nur wei­te­re 100). Pas­send da­zu dich­tet sie Char­lot­te ei­ne Lie­bes­af­fä­re an (er heißt Bo), da­mit es wei­ter­geht. Oder sie fällt sich ins Wort, wenn es zu viel oder zu we­nig an­ek­do­tisch zu wer­den droht. Als wä­re das nicht ge­nug, baut sie auch noch in­ner­halb der num­me­rier­ten Ka­pi­tel klei­ne­re Cliff­han­ger ein, die je nach La­ge bald gro­ße oder min­de­stens mitt­le­re Ka­ta­stro­phen an­deu­ten oder er­läu­tern, dass ei­gent­lich er­wart­ba­re Ka­ta­stro­phen vor­erst aus­blei­ben.

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Ar­nold Max­will: Lie­ber nicht

Arnold Maxwill: Lieber nicht
Ar­nold Max­will: Lie­ber nicht

Da hört der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Ar­nold Max­will 2023 ein In­ter­view mit dem Schrift­stel­ler Ralf Roth­mann auf WDR5 und är­gert sich, dass nach noch nicht ein­mal zwei Mi­nu­ten die Re­de auf Roth­manns Ab­sa­ge, sein Buch zum Deut­schen Buch­preis 2015 ein­zu­rei­chen, the­ma­ti­siert wird. Die Cau­sa scheint, so Max­will, »wich­tig ge­nug, um sie gleich an den An­fang zu stel­len«. Nun, sie ist of­fen­bar der­art wich­tig, dass man dar­über nach in­zwi­schen zehn Jah­ren ein Buch über 77 Sei­ten plus 265 An­mer­kun­gen auf wei­te­ren 43 Sei­ten schreibt.

Durch sei­nen Ver­lag Suhr­kamp hat­te Roth­mann 2015 aus­rich­ten las­sen, sei­nen Ro­man Im Früh­ling ster­ben nicht zum Deut­schen Buch­preis ein­zu­rei­chen. »Ich möch­te nicht«, so lau­tet die For­mu­lie­rung, die er hier­für ver­wen­det ha­ben soll. Ei­ne Pa­ra­phra­se der Mel­ville-Fi­gur Bart­le­by, der in sei­ner Po­si­ti­on als An­ge­stell­ter mit »I would pre­fer not to« pas­si­ven Wi­der­stand sei­nem Chef und über­haupt der Welt ge­gen­über lei­ste­te. Max­will nennt denn sein Buch pas­send Lie­ber nicht.

Schon 2008 hat­te Pe­ter Hand­ke den Bör­sen­ver­ein ge­be­ten, sei­ne Er­zäh­lung Die mo­ra­wi­sche Nacht, die auf der Longlist ge­lan­det war, zu ent­fer­nen, um jün­ge­ren Au­toren den Vor­rang zu ge­ben. Ab und an kommt Max­will auf Par­al­le­len zwi­schen Hand­ke und Roth­mann zu­rück. Sein Fo­kus liegt je­doch ein­deu­tig auf Ralf Roth­manns Text­ge­ne­se, sei­nem Um­gang mit Ma­nu­skrip­ten und dem (lei­der not­we­ni­gen) Li­te­ra­tur­be­trieb im spe­zi­el­len und all­ge­mei­nen.

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Franz-Ste­fan Ga­dy: Die Rück­kehr des Krie­ges

Franz-Stefan Gady: Die Rückkehr des Krieges
Franz-Ste­fan Ga­dy: Die Rück­kehr des Krie­ges

Spä­te­stens seit dem 24. Fe­bru­ar 2022, dem Be­ginn des Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne, ist der Krieg, ob man will oder nicht, wie­der un­mit­tel­bar in Eu­ro­pa prä­sent. Ver­ges­sen die vie­len Stell­ver­tre­ter- und Re­gio­nal­krie­ge, die seit Jahr­zehn­ten und auch nach dem ver­meint­li­chen »En­de der Ge­schich­te« auf der Welt tob(t)en. Die so­ge­nann­te Frie­dens­di­vi­den­de ist auf­ge­braucht. Rück­wir­kend be­trach­tet be­gann das al­les schon viel frü­her. Man woll­te je­doch un­ter an­de­rem aus öko­no­mi­schen Grün­den die Zei­chen der Zeit nicht er­ken­nen und ver­fiel in ei­nen geo­po­li­ti­schen Dorn­rös­chen­schlaf. Und im­mer noch ist vie­len der Weck­ruf der­art un­an­ge­nehm, dass sie dar­auf be­stehen, wei­ter schla­fen zu dür­fen. Es sind je­ne, die mit ih­ren au­ßen­po­li­ti­schen Ein­schät­zun­gen seit je stets falsch ge­le­gen ha­ben.

Zeit al­so für ein auf­klä­ren­des, ver­sach­li­chen­des Werk über das, was wir Krieg nen­nen. Der öster­rei­chisch-ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­ana­lyst Franz-Ste­fan Ga­dy hat dies mit Die Rück­kehr des Krie­ges ver­sucht. Sei­ne The­se geht da­hin, dass Krie­ge in Mit­tel­eu­ro­pa und da­mit auch im deutsch­spra­chi­gen Raum wahr­schein­li­cher ge­wor­den sind. Zi­tiert wird un­ter an­de­rem der ame­ri­ka­ni­sche Hi­sto­ri­ker und Di­plo­mat Phil­ip Ze­li­kow, der die Wahr­schein­lich­keit auf 20 bis 30 Pro­zent für ei­nen welt­wei­ten Krieg »in den kom­men­den Jah­ren« an­gibt. Der mi­li­tä­ri­sche He­ge­mon USA, der bis­her als Ga­rant eu­ro­päi­scher Si­cher­heit galt, wird, könn­te durch ei­nen dro­hen­den Kon­flikt mit Chi­na um Tai­wan im In­do­pa­zi­fik be­an­sprucht wer­den wäh­rend gleich­zei­tig Russ­land in ge­ziel­ten klei­nen (oder gro­ßen) Ope­ra­tio­nen NA­TO-Ge­biet im Bal­ti­kum an­greift. Eu­ro­pa muss al­so im ei­ge­nen In­ter­es­se mi­li­tä­ri­sche Ab­hän­gig­kei­ten von den USA mi­ni­mie­ren und auf kon­ven­tio­nel­lem Ge­biet ab­schrecken kön­nen.

Ga­dy be­schäf­tigt sich zu­nächst mit dem »Zeit­al­ter der Fehl­ein­schät­zun­gen«, das ir­gend­wann in den 1990er Jah­ren be­gann. Suk­zes­si­ve ver­ab­schie­de­ten sich die (West-)Europäer bei­spiels­wei­se von der Mög­lich­keit im Ver­tei­di­gungs­fall ei­ne »hoch in­ten­si­ve Land­kriegs­füh­rung« füh­ren zu kön­nen. Mit dem Fo­kus auf neue Tech­no­lo­gien ver­nach­läs­sig­te man als ver­al­tet be­trach­te­te Mi­li­tär­tech­ni­ken und die Pro­duk­ti­on aus­rei­chen­der Mu­ni­ti­on. Die Ver­tei­di­gungs­haus­hal­te wur­den zu­sam­men­ge­stri­chen. Man kon­zen­trier­te sich auf die Pla­nung re­gio­nal und zeit­lich be­grenz­ter Aus­lands­ein­sät­ze. Ei­ne mi­li­tä­ri­sche Ab­schreckung schien un­nö­tig zu sein. Der sich be­reits in der Nach­rü­stungs­de­bat­te Mit­te der 1980er Jah­re ab­zeich­nen­de Pa­zi­fis­mus fei­er­te mit dem Fall der Mau­er in ei­nem »post­he­roi­schen Welt­bild als iden­ti­täts­stif­ten­des Ide­al« sei­nen Durch­bruch.

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Au­ré­li­an Bel­lan­ger: Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken

Li­stig, die­ses Be­kennt­nis zur »kon­tra­fak­ti­schen Ge­schichts­schrei­bung«, die der fran­zö­si­sche Au­tor Au­ré­li­an Bel­lan­ger sei­nem als Ro­man de­kla­rier­ten Buch Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken vor­weg schickt. Soll­te man »ei­ni­ge rea­le Per­so­nen« trotz­dem wie­der­fin­den, muss man sich »da­mit zu­frie­den­ge­ben, sie als Prot­ago­ni­sten ei­ner Par­al­lel­ge­schich­te zu be­trach­ten.« Es ist na­tür­lich ge­ra­de die­se Di­stan­zie­rung, die neu­gie­rig macht. Ent­spre­chend sorg­te das ...

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Ulf Po­s­ch­ardt: Shit­bür­ger­tum

Ulf Poschardt: Shitbürgertum
Ulf Po­s­ch­ardt:
Shit­bür­ger­tum

Die Ab­sa­ge des Ver­lags zu Klam­pen mach­te erst recht neu­gie­rig. Was hat­te Ulf Po­s­ch­ardt, der (da­ma­li­ge) Chef­re­dak­teur der Welt, oh­ne­hin nicht be­kannt für aus­ge­wo­ge­ne For­mu­lie­run­gen, bloß ge­schrie­ben? Schon der de­si­gnier­te Ti­tel: Shit­bür­ger­tum. Po­s­ch­ardt mach­te nun et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches: Er such­te sich kei­nen neu­en Ver­lag, was ihm si­cher­lich ein Leich­tes ge­we­sen wä­re, son­dern gab sein Buch als Selbst­pu­bli­ka­ti­on her­aus. Es lie­ge »sehr bil­lig in den Hän­den« schrieb mir ein Freund, wo­mit Pa­pier und Um­schlag ge­meint wa­ren. In­nen fun­ke­le es al­ler­dings. Ich war­te­te auf das E‑Book bei Ama­zon. Ein paar Mo­na­te spä­ter nahm sich der West­end-Ver­lag der Sa­che an und Po­s­ch­ardt schrieb noch ein Ka­pi­tel zur in­zwi­schen statt­ge­fun­de­nen Bun­des­tags­wahl 2025 da­zu.

Mit dem Ver­lag im Rücken schaff­te es das Buch bis auf Platz 3 der der Spie­gel Best­sel­ler­li­ste. Es gilt längst als Kult; man bie­tet so­gar Kaf­fee­be­cher und Base­caps im Co­ver-Aus­se­hen an. »Re­spekt muss man sich ver­die­nen, Re­spekt­lo­sig­keit auch«, so Po­s­ch­ardt im »Vor­vor­wort« zum Ti­tel. Wei­ter hin­ten er­fährt man, dass ihn der ar­gen­ti­ni­sche Prä­si­dent Ja­vier Mi­lei da­zu in­spi­riert ha­be. Der ha­be die Lin­ke »Schei­ße« ge­nannt. Und da­nach ei­ne Wahl ge­won­nen.

2016 ent­deck­te Po­s­ch­ardt schon ein­mal ei­ne neue Ge­sell­schafts­schicht und ver­öf­fent­lich­te ein Buch über das Ge­schmacks­bür­ger­tum. Die Zeit des Bil­dungs­bür­gers ge­he zu En­de, so stand im Wer­be­text. »Bil­dung wird durch Ge­schmack er­setzt«. Was das ge­nau be­deu­tet, ist schwer zu sa­gen; das Buch ist ver­grif­fen und wur­de nur we­nig kom­men­tiert. »Der Bür­ger strebt nach Schön­heit, auch weil er sich selbst da­mit re­prä­sen­tie­ren will«, schreibt Po­s­ch­ardt 2014 und de­kla­miert: »Der Kul­tur­kampf ist vor­bei.« Min­de­stens galt es für die Ar­chi­tek­tur.

Zehn Jah­re spä­ter ist die­se Epi­so­de, so­fern es sie je gab, vor­bei. Weg auch mit den halb­wegs vor­neh­men Um­schrei­bun­gen à la »links-li­be­ral« oder »ju­ste mi­lieu«, vor­bei der im­mer et­was dum­me Spruch vom »Gut­men­schen­tum« (wo sind denn die »Bös­men­schen«?), mit dem man die sich mo­ra­lisch und sitt­lich über­le­gen füh­len­den cha­rak­te­ri­sier­te. Die­ses Mi­lieu wird jetzt »Shit­bür­ger­tum« ge­nannt. Über­all fin­den de­ren Re­prä­sen­tan­ten, mo­ra­lin­saure Bes­ser­wis­ser, die un­ge­fragt an­de­ren Essens‑, Reise‑, Lektüre‑, Sprach‑, Mo­bi­li­täts- und Ver­hal­tensim­pe­ra­ti­ve er­tei­len. Sie er­klä­ren Ve­ge­ta­ris­mus, au­to­frei­es Le­ben, an­ti­dis­kri­mi­nie­ren­de Lek­tü­re, gen­der­sprach­li­che For­mu­lie­run­gen und CO2-neu­tra­le Le­bens­wei­se nicht zu Emp­feh­lun­gen, son­dern ma­chen sie zu Dog­men. Die Sa­che ist kei­nes­wegs so put­zig, wie es den An­schein hat. »Als Dis­zi­pli­nar­macht im fou­cault­schen Sin­ne rich­tet das Shit­bür­ger­tum in sei­nen Be­ru­fen im Kul­tur- und Me­di­en­be­reich, in Kir­chen und NGOs, im vor­po­li­ti­schen Raum und in den Par­tei­en über All­tag und Le­ben der an­de­ren«, so Po­s­ch­ardt. Vor­bei die Zei­ten, in de­nen man sich über Schlab­ber­pul­li-tra­gen­de Ökos in San­da­len noch amü­sie­ren konn­te. Das Shit­bür­ger­tum ist schlei­chend, aber deut­lich an den Schalt­he­beln der po­li­ti­schen (und me­dia­len) Macht an­ge­kom­men. Der neue­ste Trick: Al­les, was ge­gen die neu­en Im­pe­ra­ti­ve in Stel­lung ge­bracht wird, als »Kul­tur­kampf« zu de­kla­rie­ren. Kul­tur­kämp­fer sind im­mer die an­de­ren.

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Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

»Der Ein­druck, die eta­blier­te Po­li­tik sei un­fä­hig oder un­wil­lig, die Pro­ble­me der Zeit zu lö­sen, ist ei­ne Ur­sa­che für den Er­folg po­pu­li­sti­scher Par­tei­en«, so schreibt Ro­bin Alex­an­der in sei­nem neu­en Buch Letz­te Chan­ce auf Sei­te 338. Wer bis da­hin ge­le­sen hat, wun­dert sich. Denn dass die »eta­blier­te Po­li­tik« – ge­meint sind vor al­lem die Prot­ago­ni­sten der »Am­pel«, aber auch die der letz­ten vier Jah­re der Mer­kel-Re­gie­rung – größ­ten­teils un­fä­hig re­spek­ti­ve un­wil­lig zu kon­struk­ti­ver Po­li­tik wa­ren, ist nicht nur ein »Ein­druck«, son­dern es ist (bzw. war) hand­fe­ste Rea­li­tät, wie auf na­he­zu al­len der bis da­hin zu­rück­lie­gen­den 337 Sei­ten in zum Teil er­mü­dend zu le­sen­der Akri­bie aus­ge­führt wur­de.

Robin Alexander: Letzte Chance
Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

Über­all ste­hen ad­mi­ni­stra­ti­ve, for­ma­le wie in­for­mel­le Re­gu­la­ri­en und Re­geln, die aus di­ver­sen Er­wä­gun­gen her­aus nicht an­ge­ta­stet wer­den (kön­nen), sach­ge­rech­ten Lö­sun­gen im We­ge. Das po­li­ti­sche Sy­stem nä­hert sich mit all sei­nen Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen, Aus­nah­me­re­ge­lun­gen, ge­gen­sei­ti­gen Rück­sicht­nah­men be­dingt durch per­sön­li­che Be­find­lich­kei­ten von sich wich­tig neh­men­den po­li­ti­schen Ak­teu­ren wie Frak­ti­ons- oder Par­tei­vor­sit­zen­den, Mi­ni­stern, Staats­se­kre­tä­ren, Par­tei­flü­gel­ver­tre­tern und Lob­by­ver­tre­tern der Dys­funk­tio­na­li­tät. Wenn dann noch das ge­gen­sei­ti­ge, ko­ali­ti­ons­be­ding­te Ob­ser­vie­ren nach dem Mot­to »Wer-macht-den-näch­sten-Feh­ler?« auf den Plan tritt, wird viel­leicht noch ver­wal­tet, aber nicht mehr zu­kunfts­fä­hig re­giert.

Das Schei­tern der so­ge­nann­ten Am­pel-Re­gie­rung war vor­aus­zu­se­hen. Die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen der Par­tei­en stan­den ei­ner part­ner­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit von An­fang an im We­ge. So hät­te man dem po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten sei­ne Er­fol­ge gön­nen müs­sen, statt sich in krä­me­ri­schem Klein­klein zu ver­bei­ßen, wie in ei­nem wahr­lich schil­lern­den Bei­spiel ge­gen En­de der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Die Grü­nen woll­ten den Steu­er­grund­frei­be­trag um 312 Euro/Jahr an­he­ben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die In­fla­ti­on et­was hö­her aus­fiel als pro­gno­sti­ziert […] den Be­trag nun auf 324 Eu­ro [zu] er­hö­hen.« Die­sen Mi­ni­mal­tri­umph gönn­ten die Grü­nen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um das Vor­ha­ben des SPD-Ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums, um Druck aus­zu­üben auf die ih­rer­seits blockie­ren­den Mi­ni­ste­ri­en der Grü­nen. Und das al­les für 12 Eu­ro Un­ter­schied im Jahr, die man nicht ver­steu­ern muss. Re­gie­rungs­cha­os we­gen ei­nem Eu­ro pro Mo­nat.« Aber Alex­an­der schießt über das Ziel hin­aus, wenn er als Ge­gen­bei­spiel Mer­kel an­führt, die einst Dob­rindt mit sei­ner »Ausländer-Maut«-Geschichte auf­lau­fen ließ. »Dass die­se Stra­ßen­ge­bühr für nicht­deut­sche Au­to­fah­rer am En­de vor eu­ro­päi­schen Ge­rich­ten schei­tern wür­de, war Mer­kel im­mer klar. Den Mil­li­ar­den­scha­den für Steu­er­zah­ler nahm sie in Kauf. Der Ko­ali­ti­ons­frie­den mit der CSU war ihr wich­ti­ger.« Mil­li­ar­den ver­schwen­de­te Steu­er­gel­der um des lie­ben Frie­dens wil­len? Das kann doch nicht ernst ge­meint sein, ein sol­ches Ver­hal­ten als Blau­pau­se für Ko­ali­ti­ons­frie­den zu emp­feh­len.

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