Au­ré­li­an Bel­lan­ger: Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken

Li­stig, die­ses Be­kennt­nis zur »kon­tra­fak­ti­schen Ge­schichts­schrei­bung«, die der fran­zö­si­sche Au­tor Au­ré­li­an Bel­lan­ger sei­nem als Ro­man de­kla­rier­ten Buch Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken vor­weg schickt. Soll­te man »ei­ni­ge rea­le Per­so­nen« trotz­dem wie­der­fin­den, muss man sich »da­mit zu­frie­den­ge­ben, sie als Prot­ago­ni­sten ei­ner Par­al­lel­ge­schich­te zu be­trach­ten.« Es ist na­tür­lich ge­ra­de die­se Di­stan­zie­rung, die neu­gie­rig macht. Ent­spre­chend sorg­te das ...

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Ulf Po­s­ch­ardt: Shit­bür­ger­tum

Ulf Poschardt: Shitbürgertum
Ulf Po­s­ch­ardt:
Shit­bür­ger­tum

Die Ab­sa­ge des Ver­lags zu Klam­pen mach­te erst recht neu­gie­rig. Was hat­te Ulf Po­s­ch­ardt, der (da­ma­li­ge) Chef­re­dak­teur der Welt, oh­ne­hin nicht be­kannt für aus­ge­wo­ge­ne For­mu­lie­run­gen, bloß ge­schrie­ben? Schon der de­si­gnier­te Ti­tel: Shit­bür­ger­tum. Po­s­ch­ardt mach­te nun et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches: Er such­te sich kei­nen neu­en Ver­lag, was ihm si­cher­lich ein Leich­tes ge­we­sen wä­re, son­dern gab sein Buch als Selbst­pu­bli­ka­ti­on her­aus. Es lie­ge »sehr bil­lig in den Hän­den« schrieb mir ein Freund, wo­mit Pa­pier und Um­schlag ge­meint wa­ren. In­nen fun­ke­le es al­ler­dings. Ich war­te­te auf das E‑Book bei Ama­zon. Ein paar Mo­na­te spä­ter nahm sich der West­end-Ver­lag der Sa­che an und Po­s­ch­ardt schrieb noch ein Ka­pi­tel zur in­zwi­schen statt­ge­fun­de­nen Bun­des­tags­wahl 2025 da­zu.

Mit dem Ver­lag im Rücken schaff­te es das Buch bis auf Platz 3 der der Spie­gel Best­sel­ler­li­ste. Es gilt längst als Kult; man bie­tet so­gar Kaf­fee­be­cher und Base­caps im Co­ver-Aus­se­hen an. »Re­spekt muss man sich ver­die­nen, Re­spekt­lo­sig­keit auch«, so Po­s­ch­ardt im »Vor­vor­wort« zum Ti­tel. Wei­ter hin­ten er­fährt man, dass ihn der ar­gen­ti­ni­sche Prä­si­dent Ja­vier Mi­lei da­zu in­spi­riert ha­be. Der ha­be die Lin­ke »Schei­ße« ge­nannt. Und da­nach ei­ne Wahl ge­won­nen.

2016 ent­deck­te Po­s­ch­ardt schon ein­mal ei­ne neue Ge­sell­schafts­schicht und ver­öf­fent­lich­te ein Buch über das Ge­schmacks­bür­ger­tum. Die Zeit des Bil­dungs­bür­gers ge­he zu En­de, so stand im Wer­be­text. »Bil­dung wird durch Ge­schmack er­setzt«. Was das ge­nau be­deu­tet, ist schwer zu sa­gen; das Buch ist ver­grif­fen und wur­de nur we­nig kom­men­tiert. »Der Bür­ger strebt nach Schön­heit, auch weil er sich selbst da­mit re­prä­sen­tie­ren will«, schreibt Po­s­ch­ardt 2014 und de­kla­miert: »Der Kul­tur­kampf ist vor­bei.« Min­de­stens galt es für die Ar­chi­tek­tur.

Zehn Jah­re spä­ter ist die­se Epi­so­de, so­fern es sie je gab, vor­bei. Weg auch mit den halb­wegs vor­neh­men Um­schrei­bun­gen à la »links-li­be­ral« oder »ju­ste mi­lieu«, vor­bei der im­mer et­was dum­me Spruch vom »Gut­men­schen­tum« (wo sind denn die »Bös­men­schen«?), mit dem man die sich mo­ra­lisch und sitt­lich über­le­gen füh­len­den cha­rak­te­ri­sier­te. Die­ses Mi­lieu wird jetzt »Shit­bür­ger­tum« ge­nannt. Über­all fin­den de­ren Re­prä­sen­tan­ten, mo­ra­lin­saure Bes­ser­wis­ser, die un­ge­fragt an­de­ren Essens‑, Reise‑, Lektüre‑, Sprach‑, Mo­bi­li­täts- und Ver­hal­tensim­pe­ra­ti­ve er­tei­len. Sie er­klä­ren Ve­ge­ta­ris­mus, au­to­frei­es Le­ben, an­ti­dis­kri­mi­nie­ren­de Lek­tü­re, gen­der­sprach­li­che For­mu­lie­run­gen und CO2-neu­tra­le Le­bens­wei­se nicht zu Emp­feh­lun­gen, son­dern ma­chen sie zu Dog­men. Die Sa­che ist kei­nes­wegs so put­zig, wie es den An­schein hat. »Als Dis­zi­pli­nar­macht im fou­cault­schen Sin­ne rich­tet das Shit­bür­ger­tum in sei­nen Be­ru­fen im Kul­tur- und Me­di­en­be­reich, in Kir­chen und NGOs, im vor­po­li­ti­schen Raum und in den Par­tei­en über All­tag und Le­ben der an­de­ren«, so Po­s­ch­ardt. Vor­bei die Zei­ten, in de­nen man sich über Schlab­ber­pul­li-tra­gen­de Ökos in San­da­len noch amü­sie­ren konn­te. Das Shit­bür­ger­tum ist schlei­chend, aber deut­lich an den Schalt­he­beln der po­li­ti­schen (und me­dia­len) Macht an­ge­kom­men. Der neue­ste Trick: Al­les, was ge­gen die neu­en Im­pe­ra­ti­ve in Stel­lung ge­bracht wird, als »Kul­tur­kampf« zu de­kla­rie­ren. Kul­tur­kämp­fer sind im­mer die an­de­ren.

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Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

»Der Ein­druck, die eta­blier­te Po­li­tik sei un­fä­hig oder un­wil­lig, die Pro­ble­me der Zeit zu lö­sen, ist ei­ne Ur­sa­che für den Er­folg po­pu­li­sti­scher Par­tei­en«, so schreibt Ro­bin Alex­an­der in sei­nem neu­en Buch Letz­te Chan­ce auf Sei­te 338. Wer bis da­hin ge­le­sen hat, wun­dert sich. Denn dass die »eta­blier­te Po­li­tik« – ge­meint sind vor al­lem die Prot­ago­ni­sten der »Am­pel«, aber auch die der letz­ten vier Jah­re der Mer­kel-Re­gie­rung – größ­ten­teils un­fä­hig re­spek­ti­ve un­wil­lig zu kon­struk­ti­ver Po­li­tik wa­ren, ist nicht nur ein »Ein­druck«, son­dern es ist (bzw. war) hand­fe­ste Rea­li­tät, wie auf na­he­zu al­len der bis da­hin zu­rück­lie­gen­den 337 Sei­ten in zum Teil er­mü­dend zu le­sen­der Akri­bie aus­ge­führt wur­de.

Robin Alexander: Letzte Chance
Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

Über­all ste­hen ad­mi­ni­stra­ti­ve, for­ma­le wie in­for­mel­le Re­gu­la­ri­en und Re­geln, die aus di­ver­sen Er­wä­gun­gen her­aus nicht an­ge­ta­stet wer­den (kön­nen), sach­ge­rech­ten Lö­sun­gen im We­ge. Das po­li­ti­sche Sy­stem nä­hert sich mit all sei­nen Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen, Aus­nah­me­re­ge­lun­gen, ge­gen­sei­ti­gen Rück­sicht­nah­men be­dingt durch per­sön­li­che Be­find­lich­kei­ten von sich wich­tig neh­men­den po­li­ti­schen Ak­teu­ren wie Frak­ti­ons- oder Par­tei­vor­sit­zen­den, Mi­ni­stern, Staats­se­kre­tä­ren, Par­tei­flü­gel­ver­tre­tern und Lob­by­ver­tre­tern der Dys­funk­tio­na­li­tät. Wenn dann noch das ge­gen­sei­ti­ge, ko­ali­ti­ons­be­ding­te Ob­ser­vie­ren nach dem Mot­to »Wer-macht-den-näch­sten-Feh­ler?« auf den Plan tritt, wird viel­leicht noch ver­wal­tet, aber nicht mehr zu­kunfts­fä­hig re­giert.

Das Schei­tern der so­ge­nann­ten Am­pel-Re­gie­rung war vor­aus­zu­se­hen. Die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen der Par­tei­en stan­den ei­ner part­ner­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit von An­fang an im We­ge. So hät­te man dem po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten sei­ne Er­fol­ge gön­nen müs­sen, statt sich in krä­me­ri­schem Klein­klein zu ver­bei­ßen, wie in ei­nem wahr­lich schil­lern­den Bei­spiel ge­gen En­de der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Die Grü­nen woll­ten den Steu­er­grund­frei­be­trag um 312 Euro/Jahr an­he­ben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die In­fla­ti­on et­was hö­her aus­fiel als pro­gno­sti­ziert […] den Be­trag nun auf 324 Eu­ro [zu] er­hö­hen.« Die­sen Mi­ni­mal­tri­umph gönn­ten die Grü­nen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um das Vor­ha­ben des SPD-Ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums, um Druck aus­zu­üben auf die ih­rer­seits blockie­ren­den Mi­ni­ste­ri­en der Grü­nen. Und das al­les für 12 Eu­ro Un­ter­schied im Jahr, die man nicht ver­steu­ern muss. Re­gie­rungs­cha­os we­gen ei­nem Eu­ro pro Mo­nat.« Aber Alex­an­der schießt über das Ziel hin­aus, wenn er als Ge­gen­bei­spiel Mer­kel an­führt, die einst Dob­rindt mit sei­ner »Ausländer-Maut«-Geschichte auf­lau­fen ließ. »Dass die­se Stra­ßen­ge­bühr für nicht­deut­sche Au­to­fah­rer am En­de vor eu­ro­päi­schen Ge­rich­ten schei­tern wür­de, war Mer­kel im­mer klar. Den Mil­li­ar­den­scha­den für Steu­er­zah­ler nahm sie in Kauf. Der Ko­ali­ti­ons­frie­den mit der CSU war ihr wich­ti­ger.« Mil­li­ar­den ver­schwen­de­te Steu­er­gel­der um des lie­ben Frie­dens wil­len? Das kann doch nicht ernst ge­meint sein, ein sol­ches Ver­hal­ten als Blau­pau­se für Ko­ali­ti­ons­frie­den zu emp­feh­len.

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Ru­dolf von Wal­den­fels: In die Nacht

Rudolf von Waldenfels: In die Nacht
Ru­dolf von Wal­den­fels:
In die Nacht

Ein Mann (Mit­te 40/Anfang 50) be­kommt die Dia­gno­se Bla­sen­krebs, und hat, so die Ärz­te, viel­leicht nur noch ein Jahr zu le­ben. Die Ver­zweif­lung ist groß, die Welt bricht zu­sam­men. Dann, nach ei­ner Ope­ra­ti­on, die über­ra­schen­de Ent­war­nung: Der Krebs »hat­te ein we­sent­li­ches Sta­di­um doch noch nicht er­reicht«, er kommt »aus der Sa­che« »mehr oder min­der un­be­scha­det« her­aus, oh­ne Che­mo­the­ra­pie oder Be­strah­lung. Ein neu­es Le­ben. Und nun?

Ro­bert von Wal­den­fels zeigt uns den der­art dem Tod ent­ron­ne­nen Ich-Er­zäh­ler in sei­nem Ro­man In die Nacht zu­nächst als de­pres­si­ven, lust­lo­sen Ta­ge­ver­plem­pe­rer. Va­ge ist von ei­ner Frau und Kin­dern die Re­de, aber die spie­len kaum ei­ne Rol­le, es geht um ihn. Wel­cher Tä­tig­keit er nach­geht, er­fährt man eben­falls nicht ge­nau; es könn­te ei­ne jour­na­li­sti­sche sein. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat­te er, wie man ne­ben­bei er­fährt, ei­ne gro­ße Schau­spie­ler-Kar­rie­re aus­ge­schla­gen und war für Jah­re aus Deutsch­land ver­schwun­den.

Das al­les er­fährt man im kas­ka­di­schen Ge­dan­ken­strom des Er­zäh­lers, der zu Be­ginn in ei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­de, das viel­leicht einst von Gren­zern be­nutzt wur­de, auf­ge­wacht ist. Hier ist sein »Re­fu­gi­um jen­seits von Raum und Zeit«, das »Haus der ver­ges­se­nen Träu­me«. Hier ver­bringt er im­mer wie­der sei­ne Näch­te, in ei­nem Raum, der leicht nach Kot riecht und auch sonst al­les an­de­re als ein­la­dend be­schrie­ben wird, aber er er­fährt ei­ne Art »Hei­lung«. Und jetzt ran­da­lie­ren auf dem Ge­län­de jun­ge Män­ner, wer­fen Fla­schen, ha­ben ihn zum Glück nicht ent­deckt und der Le­ser be­kommt die gan­ze Ge­schich­te, nein: die vie­len Ge­schich­ten er­zählt, die ihn nach sei­ner Apa­thie zu ei­nem fast ob­ses­si­ven Nacht­ge­her wer­den lie­ßen, der im­mer wie­der auf­brach, auch mit ho­hem Fie­ber de­li­rie­rend oder ver­stauch­tem Fuß her­um­hum­pelnd. Bis­wei­len un­ter­nimmt er stun­den­lan­ge Zug­fahr­ten, lässt sich trei­ben, fährt, geht, wan­dert in und durch die Nacht, kam­piert im Zelt im als Ka­the­dra­le emp­fun­de­nen Wald und lässt sein und das Le­ben an­de­rer Re­vue pas­sie­ren.

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Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht
Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knaus­gårds neu­er Ro­man Die Schu­le der Nacht be­ginnt da­mit, dass der 44jährige Kri­sti­an Hade­land 2010 in ei­nem Haus ir­gend­wo auf ei­ner nor­we­gi­schen In­sel sitzt und über sein Le­ben nach­denkt. Das Haus ge­hört ei­nem rei­chen In­ve­stor, den er vor Jah­ren in Lon­don ken­nen­ge­lernt und der ihm vom Haus, der Ru­he und dem Plätz­chen, an dem sich ein Schlüs­sel fin­det, er­zählt hat­te. Nie­mand weiß, dass er hier ist, au­ßer die Nach­barn, aber die ken­nen ihn nicht. Be­vor er sich das Le­ben neh­men wird, schreibt er es auf.

Ich-Er­zäh­ler Kri­sti­an be­ginnt mit sei­ner Er­in­ne­rung im Au­gust 1985, als er das er­ste Mal von Chri­sto­pher Mar­lo­we ge­hört hat­te, dem eng­li­schen Dra­ma­ti­ker, der 1593 mit ei­nem Mes­ser im Au­ge in Dept­ford um­ge­bracht wur­de. In die­sem Stadt­teil von Lon­don lebt Kri­sti­an in ei­nem Miets­haus (Du­sche auf dem Flur) und stu­diert an ei­ner Aka­de­mie Fo­to­gra­fie. Er lässt es eher ru­hig an­ge­hen, lebt von ei­nem Sti­pen­di­um (und sei­nen El­tern) und ver­bringt die Aben­de in ei­nem Pub. Hier lernt er Hans ken­nen, ei­nen Hol­län­der, den er zwar nicht be­son­ders mag, aber man ist nun zu zweit Aus­län­der in Lon­don und spricht aus­gie­big dem Bier mit Wod­ka zu. Hans ist ein »mo­no­man­er Le­ser« und Be­leh­rer, sieht sich als Künst­ler, ex­pe­ri­men­tiert mit com­pu­ter­ge­steu­er­ten Ap­pa­ra­tu­ren, et­wa ei­ner künst­li­chen Rat­te, die ei­nen Par­cours durch­lau­fen kann oder Schild­krö­ten, die sich wie heu­ti­ge Staub­sauger­ro­bo­ter fort­be­we­gen. Kri­sti­an liest sich lust­los durch Shake­speares frü­he Wer­ke, wäh­rend Hans ihm von Mar­lo­we er­zählt, sein Stück über Dok­tor Faustus, das von ei­ner lo­ka­len Thea­ter­grup­pe, die sich un­ter »School of Night« im Hin­ter­zim­mer des Pub trifft, dem­nächst auf­ge­führt wer­den soll. Er weiß, dass ei­ni­ge Mar­lo­wes Tod nicht ak­zep­tie­ren, son­dern glau­ben, er sei da­mals un­ter­ge­tauscht und ha­be un­ter Shake­speares Na­men die in­zwi­schen welt­be­kann­ten Stücke ge­schrie­ben. Hans zeigt Kri­sti­an auch das ver­mut­lich er­ste Da­guer­re-Bild von 1938, stellt kühn die The­se auf, die ein­zi­ge Fi­gur, die dort zu se­hen sei, wä­re der Teu­fel und man fach­sim­pelt un­ter an­de­rem über Alei­ster Crow­ley.

Kri­sti­an ge­riet in den Bann von Hans, we­ni­ger der Thea­ter­grup­pe. Das Weih­nachts­fest 1985 ver­brach­te er je­doch bei den El­tern in Nor­we­gen. Es en­de­te ab­rupt in ei­ner Ka­ta­stro­phe. Sei­ne Schwe­ster Liv hat­te ei­nen Selbst­mord­ver­such un­ter­nom­men, der je­doch im letz­ten Mo­ment ent­deckt wur­de. Abends hör­te Kri­sti­an die El­tern im Ge­spräch. Der Va­ter, ein eher schweig­sa­mer Groß­bau­er mit ei­ser­nen Re­geln, be­zeich­ne­te Kri­sti­an als »Voll­blut-Nar­ziss­ten«. Die Mut­ter, ei­ne »Ar­chi­va­rin der Sen­ti­men­ta­li­tät«, be­schwich­tig­te ver­geb­lich. Das konn­te Kri­sti­an nicht auf sich sit­zen­las­sen. Er pack­te in al­ler Heim­lich­keit und ver­ließ das El­tern­haus oh­ne je­der Nach­richt Rich­tung Lon­don. Am mei­sten be­trüb­te ihn, dass er nicht sei­ne gan­ze Plat­ten­samm­lung mit­neh­men konn­te. Er schwor, mit den El­tern für im­mer zu bre­chen. In Lon­don an­ge­kom­men, er­geht er sich in Selbst­be­spie­ge­lun­gen und ‑be­schwö­run­gen. Ans Te­le­fon geht er nicht, weil es die El­tern sein könn­ten. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter wird ei­ne An­ge­stell­te der nor­we­gi­schen Bot­schaft bei ihm klin­geln. Ei­nen Brief und ei­ne Post­kar­te der Mut­ter, die er vie­le Mo­na­te spä­ter er­hal­ten wird, warf er (nach Lek­tü­re) in den Müll.

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Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Mar­tin Mo­se­bach: Die Rich­ti­ge

Martin Mosebach: Die Richtige
Mar­tin Mo­se­bach:
Die Rich­ti­ge

Weiß je­mand, wie Mar­tin Mo­se­bach die­ses häss­li­che »Spie­gel Best­sel­ler-Au­tor« Eti­kett auf dem Co­ver sei­nes neu­en Ro­mans Die Rich­ti­ge ge­fal­len hat? Ob­wohl nur auf dem tur­quoi­sen Hin­ter­grund plat­ziert und das Mo­tiv nicht di­rekt tan­gie­rend, muss es doch je­man­dem mit sei­nem äs­the­ti­schen Emp­fin­den ein Graus ge­we­sen sein.

Die Lek­tü­re kann erst nach der vor­sich­ti­gen, rück­stands­frei­en Ent­fer­nung des Eti­ketts be­gin­nen. Und sie­he: Es ist wie so oft bei Mo­se­bach ein klei­ner Kreis, der hier vor­ge­stellt wird. An­lass ist ei­ne Aus­stel­lungs­er­öff­nung der Ga­le­rie Grün­haus, in der neue Ge­mäl­de von Lou­is Creutz ge­zeigt wer­den. Der Mei­ster wird so­fort als »In­be­griff der Un­be­ein­druck­bar­keit« vor­ge­stellt und bleibt da­her osten­ta­tiv dem Be­ginn der Ver­an­stal­tung mit der Re­de des Kunst­kri­ti­kers fern und kom­po­niert in sei­nem nicht weit ent­fernt lie­gen­den Ate­lier tra­di­ti­ons­ge­mäß sein neu­es In­kar­nat. Der Le­ser er­fährt rasch die Ge­wohn­hei­ten. So malt Creutz nur in sei­nem Ate­lier, fast aus­schließ­lich Frau­en, frei­wil­lig nie Por­traits (nur im Auf­trag ge­gen ein hor­ren­des Ho­no­rar: Hö­he mal Brei­te mal fünf­und­zwan­zig), nur Ak­te, die er aber als sol­che nur un­gern be­zeich­net. Er malt auf Bo­lus und pflegt »ei­ne fein­po­ri­ge Ma­le­rei von luft­lo­ser Schwe­re«. Sei­ne Ob­ses­si­on ist die mensch­li­che Haut. »Die ei­gent­li­che Auf­ga­be der Ma­le­rei [ist] die Schil­de­rung der Haut«, so Creutz. Hier zei­ge sich die ho­he Schu­le der Öl­ma­le­rei.

Im­mer bei sol­chen Ver­an­stal­tun­gen da­bei sind die »Ge­treu­en«: Ru­dolf und Bea­te, Samm­ler der er­sten Stun­de (ne­ben­bei er­fährt man, dass sie län­ger nicht mehr ge­kauft ha­ben und die Wert­stei­ge­rung der frü­hen Wer­ke ab­war­ten). Im Schlepp­tau Ru­dolfs Bru­der Diet­rich, ein stil­ler, freund­li­cher Mensch. Die Brü­der füh­ren die von den El­tern ge­erb­te Fa­brik fort, mit gro­ßem Er­folg, wie es heißt und der be­ruht vor al­lem auf Diet­rich. Im Schlepp­tau der drei neu da­bei ist ei­ne blon­de Frau mit et­was un­or­dent­li­chen Haa­ren, Astrid Thor­blén, 35 Jah­re, »aus dem Nor­den«, ge­nau­er: Schwe­den, kom­mend. Die zän­ki­sche Bea­te lässt schon jetzt kein gu­tes Haar an Astrid, die aber für Hö­he­res vor­ge­se­hen ist: Sie soll die Ehe­frau des schüch­ter­nen, bra­ven Diet­rich wer­den. Sie sei, so hat wohl Ru­dolf be­schlos­sen, »die Rich­ti­ge«.

Wei­ter­le­sen ...