Fremd­heit, Äng­ste, Fe­stung

AUFZEICHNUNGEN ZU DER SCHRIFTSTELLERIN MARIANNE FRITZ (1948 – 2007)

- ANLÄSSLICH EINER GEMEINSAMEN LESEREISE IM HERBST 19781

Er­ster Ein­druck: lieb und me­schug­ge. Die Be­ses­se­ne, von der Schreib­ar­beit Auf­ge­fres­se­ne. Sie spricht Dia­lekt, hat dar­über hin­aus ei­nen Sprach­feh­ler: Be­trof­fen vor al­lem die gut­tu­ra­len Lau­te. Und das L.

Bril­len­trä­ge­rin. Gro­ßer Bril­len­rah­men.

Im Dreh­turm­re­stau­rant be­merkt sie zu­nächst nicht, daß es sich dreht, ver­steht al­so nicht, wie­so sich die Aus­sicht im­mer wie­der ver­än­dert.

Sie hat gro­ße Angst vor dem Flie­gen.

Ei­ne Stei­re­rin.

Wei­ter­le­sen ...


  1. Lesereise 1978 für die drei ersten Autoren der sogenannten "Collection S. Fischer": Marianne Fritz, Otto Marchi & PSJ [Stechpalmenwald

Hu­bert Win­kels: Die Hän­de zum Him­mel

[...weit aus­ho­lend] Nie­mand, der sich für zeit­ge­nös­si­sche deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur in­ter­es­siert, kam am in die­sem Jahr 70 Jah­re alt wer­den­den Hu­bert Win­kels vor­bei. Er schrieb nicht nur für zahl­rei­che Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten Kri­ti­ken und Es­says (vom Düs­sel­dor­fer Stadt­ma­ga­zin Über­blick über Tem­po, stern, ZEIT, Süd­deut­sche Zei­tung und Spie­gel), son­dern war mehr als 25 Jah­re im Li­te­ra­tur­res­sort des ...

Wei­ter­le­sen ...

Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

»Der Ein­druck, die eta­blier­te Po­li­tik sei un­fä­hig oder un­wil­lig, die Pro­ble­me der Zeit zu lö­sen, ist ei­ne Ur­sa­che für den Er­folg po­pu­li­sti­scher Par­tei­en«, so schreibt Ro­bin Alex­an­der in sei­nem neu­en Buch Letz­te Chan­ce auf Sei­te 338. Wer bis da­hin ge­le­sen hat, wun­dert sich. Denn dass die »eta­blier­te Po­li­tik« – ge­meint sind vor al­lem die Prot­ago­ni­sten der »Am­pel«, aber auch die der letz­ten vier Jah­re der Mer­kel-Re­gie­rung – größ­ten­teils un­fä­hig re­spek­ti­ve un­wil­lig zu kon­struk­ti­ver Po­li­tik wa­ren, ist nicht nur ein »Ein­druck«, son­dern es ist (bzw. war) hand­fe­ste Rea­li­tät, wie auf na­he­zu al­len der bis da­hin zu­rück­lie­gen­den 337 Sei­ten in zum Teil er­mü­dend zu le­sen­der Akri­bie aus­ge­führt wur­de.

Robin Alexander: Letzte Chance
Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

Über­all ste­hen ad­mi­ni­stra­ti­ve, for­ma­le wie in­for­mel­le Re­gu­la­ri­en und Re­geln, die aus di­ver­sen Er­wä­gun­gen her­aus nicht an­ge­ta­stet wer­den (kön­nen), sach­ge­rech­ten Lö­sun­gen im We­ge. Das po­li­ti­sche Sy­stem nä­hert sich mit all sei­nen Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen, Aus­nah­me­re­ge­lun­gen, ge­gen­sei­ti­gen Rück­sicht­nah­men be­dingt durch per­sön­li­che Be­find­lich­kei­ten von sich wich­tig neh­men­den po­li­ti­schen Ak­teu­ren wie Frak­ti­ons- oder Par­tei­vor­sit­zen­den, Mi­ni­stern, Staats­se­kre­tä­ren, Par­tei­flü­gel­ver­tre­tern und Lob­by­ver­tre­tern der Dys­funk­tio­na­li­tät. Wenn dann noch das ge­gen­sei­ti­ge, ko­ali­ti­ons­be­ding­te Ob­ser­vie­ren nach dem Mot­to »Wer-macht-den-näch­sten-Feh­ler?« auf den Plan tritt, wird viel­leicht noch ver­wal­tet, aber nicht mehr zu­kunfts­fä­hig re­giert.

Das Schei­tern der so­ge­nann­ten Am­pel-Re­gie­rung war vor­aus­zu­se­hen. Die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen der Par­tei­en stan­den ei­ner part­ner­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit von An­fang an im We­ge. So hät­te man dem po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten sei­ne Er­fol­ge gön­nen müs­sen, statt sich in krä­me­ri­schem Klein­klein zu ver­bei­ßen, wie in ei­nem wahr­lich schil­lern­den Bei­spiel ge­gen En­de der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Die Grü­nen woll­ten den Steu­er­grund­frei­be­trag um 312 Euro/Jahr an­he­ben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die In­fla­ti­on et­was hö­her aus­fiel als pro­gno­sti­ziert […] den Be­trag nun auf 324 Eu­ro [zu] er­hö­hen.« Die­sen Mi­ni­mal­tri­umph gönn­ten die Grü­nen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um das Vor­ha­ben des SPD-Ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums, um Druck aus­zu­üben auf die ih­rer­seits blockie­ren­den Mi­ni­ste­ri­en der Grü­nen. Und das al­les für 12 Eu­ro Un­ter­schied im Jahr, die man nicht ver­steu­ern muss. Re­gie­rungs­cha­os we­gen ei­nem Eu­ro pro Mo­nat.« Aber Alex­an­der schießt über das Ziel hin­aus, wenn er als Ge­gen­bei­spiel Mer­kel an­führt, die einst Dob­rindt mit sei­ner »Ausländer-Maut«-Geschichte auf­lau­fen ließ. »Dass die­se Stra­ßen­ge­bühr für nicht­deut­sche Au­to­fah­rer am En­de vor eu­ro­päi­schen Ge­rich­ten schei­tern wür­de, war Mer­kel im­mer klar. Den Mil­li­ar­den­scha­den für Steu­er­zah­ler nahm sie in Kauf. Der Ko­ali­ti­ons­frie­den mit der CSU war ihr wich­ti­ger.« Mil­li­ar­den ver­schwen­de­te Steu­er­gel­der um des lie­ben Frie­dens wil­len? Das kann doch nicht ernst ge­meint sein, ein sol­ches Ver­hal­ten als Blau­pau­se für Ko­ali­ti­ons­frie­den zu emp­feh­len.

Wei­ter­le­sen ...

Ru­dolf von Wal­den­fels: In die Nacht

Rudolf von Waldenfels: In die Nacht
Ru­dolf von Wal­den­fels:
In die Nacht

Ein Mann (Mit­te 40/Anfang 50) be­kommt die Dia­gno­se Bla­sen­krebs, und hat, so die Ärz­te, viel­leicht nur noch ein Jahr zu le­ben. Die Ver­zweif­lung ist groß, die Welt bricht zu­sam­men. Dann, nach ei­ner Ope­ra­ti­on, die über­ra­schen­de Ent­war­nung: Der Krebs »hat­te ein we­sent­li­ches Sta­di­um doch noch nicht er­reicht«, er kommt »aus der Sa­che« »mehr oder min­der un­be­scha­det« her­aus, oh­ne Che­mo­the­ra­pie oder Be­strah­lung. Ein neu­es Le­ben. Und nun?

Ro­bert von Wal­den­fels zeigt uns den der­art dem Tod ent­ron­ne­nen Ich-Er­zäh­ler in sei­nem Ro­man In die Nacht zu­nächst als de­pres­si­ven, lust­lo­sen Ta­ge­ver­plem­pe­rer. Va­ge ist von ei­ner Frau und Kin­dern die Re­de, aber die spie­len kaum ei­ne Rol­le, es geht um ihn. Wel­cher Tä­tig­keit er nach­geht, er­fährt man eben­falls nicht ge­nau; es könn­te ei­ne jour­na­li­sti­sche sein. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat­te er, wie man ne­ben­bei er­fährt, ei­ne gro­ße Schau­spie­ler-Kar­rie­re aus­ge­schla­gen und war für Jah­re aus Deutsch­land ver­schwun­den.

Das al­les er­fährt man im kas­ka­di­schen Ge­dan­ken­strom des Er­zäh­lers, der zu Be­ginn in ei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­de, das viel­leicht einst von Gren­zern be­nutzt wur­de, auf­ge­wacht ist. Hier ist sein »Re­fu­gi­um jen­seits von Raum und Zeit«, das »Haus der ver­ges­se­nen Träu­me«. Hier ver­bringt er im­mer wie­der sei­ne Näch­te, in ei­nem Raum, der leicht nach Kot riecht und auch sonst al­les an­de­re als ein­la­dend be­schrie­ben wird, aber er er­fährt ei­ne Art »Hei­lung«. Und jetzt ran­da­lie­ren auf dem Ge­län­de jun­ge Män­ner, wer­fen Fla­schen, ha­ben ihn zum Glück nicht ent­deckt und der Le­ser be­kommt die gan­ze Ge­schich­te, nein: die vie­len Ge­schich­ten er­zählt, die ihn nach sei­ner Apa­thie zu ei­nem fast ob­ses­si­ven Nacht­ge­her wer­den lie­ßen, der im­mer wie­der auf­brach, auch mit ho­hem Fie­ber de­li­rie­rend oder ver­stauch­tem Fuß her­um­hum­pelnd. Bis­wei­len un­ter­nimmt er stun­den­lan­ge Zug­fahr­ten, lässt sich trei­ben, fährt, geht, wan­dert in und durch die Nacht, kam­piert im Zelt im als Ka­the­dra­le emp­fun­de­nen Wald und lässt sein und das Le­ben an­de­rer Re­vue pas­sie­ren.

Wei­ter­le­sen ...

Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Peter Trawny: Aschenplätze
Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Char­lie Brown, Li­nus und Lu­cie lie­gen auf ei­nem klei­nen Hü­gel und schau­en in die Wol­ken. Wenn man sei­ne Vor­stel­lungs­kraft be­mü­he, kön­ne man, so Lu­cie, ei­ni­ges in den Wol­ken­ge­bil­den er­ken­nen. Li­nus sieht dann in ei­ner Wol­ke die Land­kar­te von Bri­tisch Hon­du­ras1. Ei­ne an­de­re äh­ne­le dem Pro­fi von Pa­blo Pi­cas­so. Und da­hin­ter dann er­kennt er die Stei­ni­gung des Hei­li­gen Ste­pha­nus mit dem Apo­stel Pau­lus. Lu­cie lobt ihn und fragt Char­lie Brown, was er so se­he. Er woll­te was von Schäf­chen und Pferd­chen sa­gen, aber er las­se es dann lie­ber sein, meint er leicht re­si­gniert.

Mir geht es wie Char­lie Brown, ich be­trach­te Pe­ter Traw­nys Aschen­plät­ze und woll­te et­was über die Un­ter­schie­de zwi­schen Au­to­bio­gra­phie und Au­to­fik­ti­on und den Au­then­ti­zi­täts­fe­tisch des Feuil­le­tons schrei­ben, aber ich las­se das. Denn es gibt es sehr gu­te, un­ter­schied­li­che und doch sich er­gän­zen­de Be­trach­tun­gen über die­ses Buch von Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra und Mi­cha­el Chig­hel. Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra lobt »Kraft, Ent­schlos­sen­heit und Über­win­dung« des Au­tors, das Chan­gie­ren zwi­schen Au­to­bio­gra­phi­schem und Phi­lo­so­phi­schem. Mi­cha­el Chig­hel de­kla­riert es als ein jü­di­sches Buch, de­chif­friert die ver­wen­de­ten Pseud­ony­me der Ge­lieb­ten aus der jü­disch-my­sti­schen Kosmo­go­nie und fragt sich, ob Traw­ny nicht zu weit ge­he in sei­ner Ad­ap­ti­on des Ju­den­tums. Was kann ich die­sen bei­den stu­pen­den Deu­tun­gen noch hin­zu­fü­gen?

Ver­set­ze ich mich kurz in mein kauf­män­nisch ge­präg­tes, be­ruf­li­ches Um­feld (ich ver­ließ es 2015), so bin ich si­cher, dass Pe­ter Traw­ny dort weit­ge­hend un­be­kannt ist. Phi­lo­so­phie galt (und gilt) in die­sem Mi­lieu ma­xi­mal als Stecken­pferd und wird al­len­falls von fin­di­gen Fi­gu­ren, die sich »Coa­ches« nen­nen, als Stein­bruch für Ma­na­ger­se­mi­na­re aus­ge­schlach­tet, die schlag­wort­haf­te Ka­cheln mit (mo­ra­lisch da­her­kom­men­den) Hand­lungs­an­wei­sun­gen kon­stru­ie­ren, um Hil­fe­stel­lun­gen bei der Un­ter­schei­dung von Gut und Bö­se zu ge­ben. Die Fra­ge, die sich al­so stellt, ist die nach dem Pu­bli­kum für ei­ne Au­to­bio­gra­phie ei­nes Phi­lo­so­phen, der sich schwer­punkt­mä­ßig vor al­lem mit Mar­tin Heid­eg­ger, Fried­rich Nietz­sche und, im­mer wie­der, Ge­org Fried­rich Wil­helm He­gel be­fasst (die Phä­no­me­no­lo­gie des Gei­stes nennt Traw­ny »ei­ne Art phi­lo­so­phi­scher Bil­dungs­ro­man«) und da­mit, wie es im Wirt­schafts­deutsch heißt, ei­ne »Ni­sche be­dient«.

Der die­sen Leu­ten ver­mut­lich schwer ver­mit­tel­ba­re Clou die­ses Bu­ches be­steht dar­in, über den Um­weg (auto-)biographischer Schil­de­run­gen ei­ne Chan­ce zu phi­lo­so­phi­schen Zu­gän­gen jen­seits von Glücks­keks­weis­hei­ten zu er­hal­ten. Man könn­te al­so bei der Lek­tü­re so tun, als sei ›Pe­ter Traw­ny‹ ei­ne fik­ti­ve Fi­gur. Die schreibt über ihr Le­ben, ver­knüpft je­doch Bio­gra­phie mit phi­lo­so­phi­schen Pro­blem­stel­lun­gen. Das führt bis­wei­len zu Wi­der­sprü­chen, die kei­ne sind, weil den Er­kennt­nis­sen fort­lau­fen­de Er­fah­run­gen zu Grun­de lie­gen, die ein­sti­ge Ur­tei­le nicht re­vi­die­ren, son­dern wei­ter ent­wickeln oder er­gän­zen. Stel­len­wei­se mün­den sei­ne Er­leb­nis­se in aus­ufern­de Schil­de­run­gen, die bis­wei­len wie Recht­fer­ti­gun­gen klin­gen, mehr her­aus­ge­ar­bei­tet als er­zählt wer­den. Traw­ny ist das be­wusst, er sei kein Dich­ter, schreibt er und spä­te­stens hier be­kommt die Les­art als Fik­ti­on Ris­se. Im­mer­hin ge­lin­gen im­mer wie­der ge­lun­ge­ne (au­ßer­phi­lo­so­phi­sche) Bil­der, et­wa über die Er­leb­nis­se un­ter Ta­ge oder über die Mu­sik- und Kunst­sze­ne um Wan­ne-Eickel der Sieb­zi­ger­jah­re, über die er mit weh­mü­ti­ger Sym­pa­thie rä­so­niert.

Wei­ter­le­sen ...


  1. Der Film entstand 1969 - das Land heißt heute Belize 

Bla­sen­pro­ble­me oder ge­sell­schaft­li­ches Sym­ptom?

1975, als Öster­reich noch ein kon­ser­va­ti­ves Länd­chen und auch in Wien nicht viel los war (ein kul­tu­rel­ler Ein­schnitt war die Be­set­zung des Schlacht­hof­ge­län­des Are­na 1976), ver­öf­fent­lich­te der Kärnt­ner Schrift­stel­ler Wer­ner Kof­ler sein Buch Gug­gi­le mit dem schalk­haf­ten Un­ter­ti­tel »Vom Brav­sein und vom Schwein­igeln«. Es war klar, was mit dem Brav­sein ge­meint war und auf wel­cher Sei­te es stand. In­zwi­schen ha­ben die letz­ten ver­blie­be­nen di­stan­zier­ten Be­ob­ach­ter den Ein­druck, daß sich das Brav­sein nach al­len Sei­ten aus­ge­brei­tet hat: Por­no­gra­phie, von Kof­ler einst künst­le­risch ge­nutzt, ist In­ter­net­nor­ma­li­tät, die Volks­mehr­heit be­kennt sich zum Athe­is­mus, Ver­ge­wal­ti­ger wie auch Grap­scher wer­den ste­hen­den Fu­ßes an­ge­zeigt und oft ver­ur­teilt, Schwu­le und Les­ben dür­fen hei­ra­ten, Trans­per­so­nen be­kom­men ei­ge­ne Klos, Frau­en be­set­zen im­mer mehr Macht­po­si­tio­nen – als Künst­ler tut man sich schwer, ein Au­ßen­sei­ter zu blei­ben. Ich weiß, es ist noch nicht al­les ganz kor­rekt. Im­mer noch emp­fin­den Op­fer Scham, wer­den Frau­en für glei­che Ar­beit un­gleich be­zahlt, gibt es Ar­mut trotz so­ge­nann­ter Min­dest­si­che­rung. Und die Rechts­extre­men, die Po­pu­li­sten, die Na­tio­na­li­sten, oder wie sie ge­nannt wer­den dür­fen, ste­hen auf der an­de­ren Sei­te und wa­chen bi­gott über das, was man frü­her un­ter »Brav­sein« ver­stand. Al­le, auf bei­den Sei­ten, for­dern »An­stän­dig­keit« ein; vie­le schwen­ken bei De­mos, für die al­le Sei­ten ih­re Grün­de ha­ben, ei­ne na­tio­na­le Flag­ge; ei­ni­ge, auf der an­de­ren Sei­te, pa­lä­sti­nen­si­sche.

In den öster­rei­chi­schen (und deut­schen) Buch­ver­la­gen wird im­mer mehr Li­te­ra­tur von Frau­en ver­öf­fent­licht, und auch in den Re­dak­tio­nen herrscht die­se Ten­denz. Beim Kla­gen­fur­ter Wett­le­sen ge­wan­nen seit 2011 fast nur Frau­en den Bach­mann­preis. Im An­fangs­jahr 1977 war un­ter den 13 Ju­ro­ren nur ei­ne Frau, das Ver­hält­nis än­der­te sich in den Fol­ge­jah­ren we­nig. Heu­te sind die Ju­ro­rin­nen in der Mehr­heit: nur knapp, man kann durch­aus nicht sa­gen, die Män­ner wür­den quo­ten­mä­ßig be­nach­tei­ligt. Al­les gut! Al­les kor­rekt. Al­les nor­mal. Weib­li­che Au­toren sind ein­fach bes­ser.

Manch­mal wird trotz­dem ge­strit­ten, wie neu­lich im Ley­kam Ver­lag, als die Au­torin Ger­traud Klemm aus ei­ner (rein weib­li­chen) An­tho­lo­gie wie­der aus­ge­la­den wur­de, weil sie Jah­re da­vor ei­nen Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht hat­te, in dem sie an­geb­lich die Rech­te von – im Kor­rekt­heits­jar­gon – Trans­per­so­nen nicht ge­nü­gend ge­ach­tet hat­te. Sie wur­de nach­träg­lich ab­ge­kan­zelt und aus der An­tho­lo­gie aus­ge­la­den. So wie ich hier ris­kie­re, als dog­ma­ti­scher In­cel ab­ge­tan zu wer­den. Für al­les gibt es in der Welt der Kor­rekt­hei­ten, links wie rechts, Eti­ket­ten. Ly­dia Misch­kul­nig, Au­torin des Ley­kam Ver­lags, sprach her­nach vom »to­ta­li­tä­ren An­strich« ei­ner Her­aus­ge­be­rin­nen­schaft, die ab­wei­chen­de An­sich­ten of­fen­bar nicht ha­ben will. Ge­nau­er: Die Her­aus­ge­be­rin­nen wol­len kei­ne Per­so­nen, die bei an­de­rer Ge­le­gen­heit et­was ih­rer An­sicht nach Un­kor­rek­tes ge­äu­ßert hat. Das ist ein we­nig wie Sip­pen­haf­tung. Nicht was du jetzt schreibst, ist ent­schei­dend, son­dern das, was dein frü­he­res Ich ge­tan hat. Da­bei soll­ten Au­toren doch wis­sen, dass je­des Ich, nicht nur das von Au­toren, aus di­ver­sen Ichs be­steht. Mehr noch, es soll so­gar vor­kom­men, daß schlech­te Men­schen gu­te Wer­ke ver­fas­sen, oder auch Wer­ke, die ih­ren po­li­ti­schen Mei­nun­gen wi­der­spre­chen.

Wei­ter­le­sen ...

Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Tilmann Lahme: Thomas Mann - Ein Leben
Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Man sucht nach ei­nem Be­griff, mit dem ad­äquat be­schrie­ben wer­den kann, was das neue­ste Buch des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Go­lo-Mann-Bio­gra­phen Til­mann Lah­me mit dem harm­lo­sen Ti­tel Tho­mas Mann aus­ge­löst hat. Wä­re »Erd­be­ben« viel­leicht recht? Wenn ja, wel­che Stär­ke hat die­ses Be­ben auf der nach oben of­fe­nen Feuil­le­ton-Ska­la? Da­bei mu­tet der auf dem Co­ver in klei­ne­rer Schrift ge­druck­te Un­ter­ti­tel harm­los an: »Ein Le­ben« steht dort. Der Ver­lag greift in sei­ner Wer­bung ei­ne Spur hö­her und tex­tet »Tho­mas Mann und sein wirk­li­ches Le­ben«. Ent­hül­lun­gen wer­den an­ge­droht. Wer der­art auf­trumpft, muss lie­fern. Und Lah­me ver­sucht das. Sein Buch ist kei­ne Bio­gra­phie, er wie­der­holt nicht auf Voll­stän­dig­keit zie­lend die längst be­kann­ten Da­ten, Fak­ten, Epi­so­den und An­ek­do­ten, Lah­me lie­fert auch nur eher spar­sa­me In­ter­pre­ta­tio­nen von Tho­mas Manns Pro­sa – und dort, wo er es macht, wird es min­de­stens ein­mal pein­lich, doch da­zu spä­ter.

Lah­me schreibt nicht über Tho­mas Manns Le­ben, son­dern vor al­lem über Tho­mas Manns Se­xu­alle­ben. Er be­treibt das, was Die­ter Borchmey­er nicht ganz ab­we­gig »Bio­gra­phis­mus« nennt. Und er stellt sich die­sen Ex­ege­ten mit of­fe­nem Vi­sier ent­ge­gen. Am En­de bi­lan­ziert Lah­me, dass »die im li­te­ra­ri­schen An­spie­lungs­raum ver­bor­ge­ne gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be bei Tho­mas Mann als ein we­sent­li­ches Ele­ment sei­ner li­te­ra­ri­schen Kunst zu be­trach­ten« sei. Nach der Lek­tü­re ver­mit­telt sich ei­nem der Ein­druck, es sei DAS we­sent­li­che Ele­ment.

Dass Tho­mas Mann ho­mo­se­xu­el­le Nei­gun­gen hat­te, die sich in heu­te eher als lä­cher­lich zu be­trach­ten­den Schwär­me­rei­en äu­ßer­ten, ist na­tür­lich kein Ge­heim­nis mehr. Und das er un­ter der zeit­ge­mä­ßen Not­wen­dig­keit, die­se zu ver­ber­gen ge­lit­ten hat, ist eben­so be­kannt. Aber Lah­me will mit sei­nen Re­cher­chen zei­gen, dass die Un­ter­drückung der Ho­mo­se­xua­li­tät mehr war als nur ein sich Ar­ran­gie­ren mit und in den Zwän­gen der Ge­sell­schaft, son­dern ein le­bens­lan­ger Kampf ge­gen die »Hun­de im Sou­ter­rain« sei­nes We­sens, wie er sei­nem Freund Ot­to Grau­toff 1896, 21jährig, in An­leh­nung an ei­ne For­mu­lie­rung von Fried­rich Nietz­sche schrieb.

Wei­ter­le­sen ...

Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

Wei­ter­le­sen ...