Ne­ben­bah­nen

Im rum­peln­den Zug das Tal hin­un­ter, das zu­erst ein­mal ei­ne Schlucht ist, be­vor es sich wei­tet und die Ge­bäu­de zu­neh­men, woll­te ich die Land­schaft und was dar­in vor­kommt, al­ler­lei Din­ge und We­sen, mit den Au­gen mei­ner Toch­ter be­trach­ten, die hier täg­lich au­ßer sonn­tags ih­ren Schul­weg hin­ter sich bringt, aber dann wur­de mir be­wußt, daß sie ihr Smart­phone bei sich hat und si­cher die mei­ste Zeit dar­auf starrt wie die an­de­ren Schü­ler auch, wenn sie nicht ge­ra­de schla­fen, aber das eher nicht, denn die Plät­ze sind zu die­sen Zei­ten, mor­gens und abends, be­setzt, da müß­te sie schon im Ste­hen schla­fen. Es ist der ge­wohn­te Blick der Pend­ler, den­ke ich, der ober­fläch­li­che Smart­phone­blick, der die Bil­der fort­wischt, so­fern sie sich nicht von selbst be­we­gen, die be­weg­ten und un­be­weg­ten Bil­der, fort- und her­bei­bug­siert im Nu; oder der schwar­ze Blick des Schlafs, der graue des Dö­sens; oder der Blick nach in­nen, wo die Träu­me hau­sen. Bloß kei­ne Wirk­lich­keit! Die sich so­wie­so in ei­nem Satz be­schrei­ben läßt: grü­nes Ge­wu­cher, grau­er Be­ton, Blin­ken von Was­ser, Ka­ros­se­rien und Licht­re­fle­xen. Punkt. Am En­de doch wie­der das­sel­be wie die Bil­der­flut am Dis­play.

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Neu­es von El­frie­de Je­li­nek

Vor we­ni­gen Wo­chen wur­de die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin und Dra­ma­ti­ke­rin El­frie­de Je­li­nek 76 Jah­re alt. Mit wohl­tu­en­der An­lass­lo­sig­keit kommt nun ein Film der Ber­li­ner Do­ku­men­tar­fil­me­rin Clau­dia Mül­ler mit dem schö­nen Ti­tel »El­frie­de Je­li­nek – Die Spra­che von der Lei­ne las­sen« in die Ki­nos. Mül­ler ist durch ih­re Fern­seh­ar­bei­ten u. a. über Jen­ny Hol­zer, Ka­tha­ri­na Gro­sse und ...

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Ga­brie­le Ried­le: In Dschun­geln. In Wü­sten. Im Krieg.

Gabriele Riedle: In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg.
Ga­brie­le Ried­le: In Dschun­geln.
In Wü­sten. Im Krieg.

In Ni­co­las Borns Ro­man »Die Fäl­schung« von 1979 sitzt der Re­por­ter La­schen, der vom li­ba­ne­si­schen Bür­ger­krieg be­rich­tet, täg­lich zu­sam­men mit an­de­ren Jour­na­li­sten in ei­nem Ho­tel und sor­tiert die je­wei­li­gen Pres­se­mit­tei­lun­gen der Kriegs­par­tei­en. Der Pu­bli­ka­ti­ons­druck zwingt ihn Pro­pa­gan­da­ma­te­ri­al zu le­sen, Fo­tos zu ma­chen, In­ter­views zu füh­ren, un­zu­ver­läs­si­ge Au­gen­zeu­gen zu be­fra­gen. Für Orts­ter­mi­ne au­ßer­halb des Schutz­raums Ho­tel sind die Jour­na­li­sten auf zu­ver­läs­si­ge Über­set­zer und vor al­lem das Good­will der je­wei­li­gen War­lords und de­ren Schutz an­ge­wie­sen. Da­bei weiß La­schen, dass er im­mer droht, von ei­ner Sei­te ver­ein­nahmt zu wer­den und doch ver­sucht er, so et­was wie die Wirk­lich­keit ein­zu­fan­gen.

Jo­r­is Luy­en­di­jk, Ara­bist und Kor­re­spon­dent des nie­der­län­di­schen Fern­se­hens von 1998 bis 2003, be­schrieb 2007 in sei­nem Buch »Wie im ech­ten Le­ben« des­il­lu­sio­niert die Un­mög­lich­keit ei­ner auch nur halb­wegs ob­jek­ti­ven Be­richt­erstat­tung. Der Re­por­ter wür­de zer­rie­ben zwi­schen der Pro­pa­gan­da der un­ter­schied­li­chen Par­tei­en. Von sei­nen Auf­trag­ge­bern blieb im­mer we­ni­ger Raum für die aus­führ­li­che Dar­stel­lung von Kon­flikt­li­ni­en; es galt, die schnel­le, knal­li­ge Schlag­zei­le zu lie­fern. Kom­ple­xe Sach­ver­hal­te wer­den ein­ge­dampft. Die Ent­schei­dung, was ge­sen­det, was wie ge­druckt wird, tref­fen an­de­re.

Wei­te­re Krie­ge und ein paar Di­gi­tal­me­di­en wei­ter las­sen Kriegs- und Kri­sen­be­richt­erstat­ter als die letz­ten Aben­teu­rer der Welt neu auf­fri­schen. Der­weil sich die ein­sti­gen Print­re­por­ter im­mer mehr dar­auf ver­le­gen, ih­re Er­leb­nis­se in ei­nen fik­tio­na­len Text zu trans­for­mie­ren. Sie chan­gie­ren häu­fig zwi­schen Ver­mächt­nis, Hel­den­ge­schich­te, Me­lan­cho­lie oder Re­si­gna­ti­on über die Schlecht­heit der Welt und die Un­be­lehr­bar­keit der Men­schen. Manch­mal schwingt noch das Be­dürf­nis mit, ei­nen Schlüs­sel­ro­man zu schrei­ben, um die Neu­gier des Re­zi­pi­en­ten auf Me­di­en­in­ter­na zu len­ken, so­fern die ent­spre­chen­den Prot­ago­ni­sten be­kannt ge­nug sind.

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Mo­ritz Baß­ler: Po­pu­lä­rer Rea­lis­mus

Im letz­ten Jahr sorg­te ein Auf­satz des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Mo­ritz Baß­ler über den »neu­en Mid­cult« für ei­ni­ges Auf­se­hen in der Li­te­ra­tur­sze­ne. Kurz dar­auf folg­te zu­sam­men mit Heinz Drügh das Buch »Ge­gen­warts­äs­the­tik«. Es war der Ver­such ei­ner Ana­ly­se der ak­tu­el­len Li­te­ra­tur im Kos­mos des Mark­tes. Hier füg­te sich schließ­lich die Mi­d­­cult-The­­se ein, die ei­ne Art Pur­ga­to­ri­um des ...

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He­le­na Ad­ler: Fret­ten

Helena Adler: Fretten
He­le­na Ad­ler: Fret­ten

Vor zwei Jah­ren wur­de He­le­na Ad­ler ei­nem brei­ten Pu­bli­kum mit ih­rem fu­rio­sen De­but »Die In­fan­tin trägt den Schei­tel links« be­kannt. Mit »Fret­ten« liegt nun der zwei­te Ro­man vor, der im Ver­gleich zum Erst­ling noch mehr an der Schrau­be der Ex­pres­si­vi­tät, der Wut aber auch der Zärt­lich­keit dreht, et­was, was man kaum für mög­lich ge­hal­ten hat. Aber ge­mach.

Zu Be­ginn wird die Vo­ka­bel »fret­ten« er­klärt: »sich ab­mü­hen, sich pla­gen […] sich wund rei­ben«. Wie schon in der »In­fan­tin« sind die 21 Ka­pi­tel des neu­en Ro­mans über­schrie­ben mit Ti­teln von Kunst­wer­ken; zu­meist Ge­mäl­den (de­ren An­schau­en zur Lek­tü­re loh­nend ist), aber auch ei­ne Per­for­mance und zwei In­stal­la­tio­nen der Au­torin, die man nur er­ah­nen kann. Auch in­halt­lich könn­te »Fret­ten« ei­ne Fort­schrei­bung des Erst­lings sein; es gibt an­ge­deu­te­te Par­al­le­len zur El­tern- und Groß­el­tern­ge­schich­te, die aber nicht mehr wei­ter aus­ge­führt wer­den. Die »In­fan­tin« en­det mit dem Ab­schied von Kind­heit und Ju­gend; sie leg­te »ih­re Waf­fen nie­der« und still­te ihr Kind. Und die Ich-Er­zäh­le­rin aus »Fret­ten« stellt ab Mit­te des Ro­mans die Ge­burt und die Be­treu­ung ih­res Soh­nes in den Mit­tel­punkt. Dann nimmt das rich­tig Fahrt auf.

Zu­nächst je­doch wird die Kind­heit als »ir­di­sches Pa­ra­dies« er­zählt, ein bu­ko­li­sches Idyll mit ima­gi­nier­ten war­men Dämp­fen; ei­ne »wei­che Welt« im »Blu­men­ver­steck« des ver­wil­der­ten Groß­el­tern­gar­tens mit Blick auf die Ber­ge, die ein »un­end­li­ches Meer« »in­sze­nier­ten«. Je­der Tag »roch nach Aben­teu­er«. Noch war es da, das »Ur­ver­trau­en« und ei­ne strot­zen­de Le­bens­gier er­füll­te sie. Es gab den »Duft un­se­rer Wei­zen­fel­der« (das Olfak­to­ri­sche spielt in die­sem Buch ei­ne wich­ti­ge Rol­le) und die »Abend­son­ne sti­chelt gold­gelb in die Al­pen­sa­van­ne« wäh­rend die Schat­ten ein Bild lie­fer­ten, »als wür­de das Land mit Erd­öl ge­flu­tet.«

Es sind Evo­ka­tio­nen aus den »Gefilde[n] der Se­li­gen« und ich fra­ge mich, wann ich zu­letzt der­art zau­ber­haf­tes ge­le­sen ha­be (das ist lan­ge her). Aber das ist nur die ei­ne Sei­te. Da­ne­ben, gleich­zei­tig, gab es auch das Le­bens in der har­ten, »bru­ta­len Welt« der El­tern, die­se Ka­da­ver- und Ver­we­sungs­ge­rü­che – ei­ne Me­ta­pher für Un­ver­ständ­nis und Bor­niert­heit – und am lieb­sten war die Er­zäh­le­rin mit sich al­lei­ne, beim Zeich­nen von Be­stia­ri­en mit den »Mon­stern der Nacht« und spä­ter wur­de die »Spra­che der Phra­sen­dre­scher« (vul­go: Fa­mi­lie) »zer­häck­selt«.

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Ri­chard Da­vid Precht / Ha­rald Wel­zer: Die vier­te Ge­walt

Precht/Welzer: Die vierte Gewalt
Precht/Welzer:
Die vier­te Ge­walt

We­ni­ge Ta­ge vor der of­fi­zi­el­len Ver­öf­fent­li­chung des Bu­ches »Die vier­te Ge­walt« schlug den bei­den Au­toren für ihr Werk ei­ne gro­ße Por­ti­on Hä­me und Un­ver­ständ­nis ent­ge­gen. Grund wa­ren vor al­lem die für das Buch­mar­ke­ting vor­ge­nom­me­nen (und von den Leit­me­di­en be­reit­wil­lig ge­führ­ten) In­ter­views, in dem bei­de (oder auch nur ei­ner von bei­den) vor al­lem ih­re Po­si­ti­on zum Russ­land-Ukrai­ne-Krieg und den deut­schen Waf­fen­lie­fe­run­gen noch ein­mal poin­tiert – und teil­wei­se mit gro­ßer Ar­ro­ganz – vor­brach­ten. Precht und Wel­zer sind ge­gen die Lie­fe­rung von schwe­ren Waf­fen an die Ukrai­ne (und zwar ge­ne­rell – nicht nur von Deutsch­land), weil sie ei­ne Es­ka­la­ti­on fürch­ten. Russ­land sei, so das Cre­do, Atom­macht. Dass Atom­mäch­te in der Ver­gan­gen­heit durch­aus ih­re In­va­sio­nen auf­grund zu ho­her Ge­gen­wehr ab­ge­bro­chen ha­ben, schei­nen sie nicht zu wis­sen. Statt­des­sen schla­gen sie Ver­hand­lun­gen mit Pu­tin vor, ob­wohl des­sen Re­gime die Be­din­gun­gen hier­für mehr­fach er­klärt hat: Hier­zu wä­re die Ka­pi­tu­la­ti­on der Ukrai­ne not­wen­dig.

Mehr­fach ha­ben Precht wie auch Wel­zer (hier der Ein­fach­heit hal­ber mit der Sig­le »WP« ab­ge­kürzt) in »Of­fe­nen Brie­fen« zur Ein­stel­lung der mi­li­tä­ri­schen Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne auf­ge­ru­fen. Dies und das ag­gres­si­ve Mar­ke­ting führt zu ful­mi­nan­tem Wi­der­spruch ins­be­son­de­re in den so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en (Twit­ter, Face­book). Dass die über­wäl­ti­gen­de Mehr­zahl der Kri­ti­ker das Buch bis da­hin nicht ge­le­sen hat­ten (bzw. es nicht le­sen konn­ten) spielt kei­ne Rol­le. Man schloss schlicht­weg vom In­halt der bis­he­ri­gen State­ments von WP auf das Buch.

Om­ni­prä­sen­te Dar­lings

Bei­de Au­toren sind seit vie­len Jah­ren pu­bli­zi­stisch om­ni­prä­sent und man kann sie als Dar­lings des Me­di­en­be­triebs be­zeich­nen. Ha­rald Wel­zer, Au­tor zahl­rei­cher Bü­cher ist ei­ne be­kann­te Fi­gur der sich pro­gres­siv ge­ben­den De­growth-Be­we­gung und gern­ge­se­he­ner Gast in den Me­di­en. Ri­chard Da­vid Prechts Kar­rie­re ver­dankt sich vor al­lem dem öf­fent­lich-recht­li­chen Sy­stem: es war die Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin El­ke Hei­den­reich, die sein Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie vie­le?« der­art em­pha­tisch lob­te, dass es prak­tisch über Nacht zum Best­stel­ler wur­de. Zu­schau­er von po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Sen­dun­gen konn­ten von da an dem so­ge­nann­ten Phi­lo­so­phen Precht schwer ent­kom­men; sei­ne Bü­cher wur­den stets in ent­spre­chen­den Sen­dun­gen »vor­ge­stellt« (Eu­phe­mis­mus für be­wor­ben) und er­reich­ten dem­entspre­chend ho­he Ver­kaufs­zah­len. Tat­säch­lich hat Precht kei­nen ein­zi­gen phi­lo­so­phi­schen For­schungs­bei­trag pu­bli­ziert und spielt in der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie kei­ne Rol­le.

Nun ha­ben al­so WP ein Buch ge­schrie­ben, in dem sie un­ter an­de­rem be­kla­gen, dass die so wich­tig ge­wor­de­nen Talk­show­run­den im deut­schen Fern­se­hen nicht pa­ri­tä­tisch nach Um­fra­ge­er­geb­nis­sen be­setzt sind. Weil sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, dass im Früh­jahr bis zu 46% der be­frag­ten deut­schen Be­völ­ke­rung ge­gen Lie­fe­run­gen schwe­rer Waf­fen an die Ukrai­ne ge­we­sen sind, lei­ten die bei­den dar­aus ab, dass Dis­kur­se die­ses (schwan­ken­de) Stim­mungs­bild je­des Mal ab­zu­bil­den ha­ben. Man soll­te al­so kei­ne Mi­li­tär­ex­per­ten, Geo­po­li­tik­wis­sen­schaft­ler oder Russ­land­for­scher ein­la­den, son­dern, so wird sug­ge­riert, ver­mehrt wis­sens­fer­ne Ak­teu­re, de­ren ein­zi­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in be­steht, ei­ne be­stimm­te Mei­nungs­quo­te zu er­fül­len.

In­ter­es­sant ist da­bei, dass die­se Dis­kus­si­ons­run­den von WP wie ei­ne Art Ring­kampf be­trach­tet wer­den, in dem es nur »pro« oder »con­tra« gibt. Zwar be­kla­gen die bei­den im Lau­fe des Bu­ches ex­akt die­se bi­nä­re Aus­rich­tung und set­zen sich (et­was ob­skur for­mu­liert) für »mehr als fünf­zig Schat­tie­run­gen von Grau« (wer kommt da nicht auf ei­nen Buch­ti­tel?) ein, die »nicht an­ge­mes­sen re­prä­sen­tiert« sei­en – aber man sel­ber be­treibt das »Entweder-Oder«-Spiel sehr häu­fig.

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Jo­chen Hö­risch: Poe­sie und Po­li­tik

Die zahl­rei­chen Pu­bli­ka­tio­nen wie bei­spiels­wei­se die Kul­tur­ge­schich­te der Hän­de (2021), die Mo­no­gra­fie »Gott, Geld und Me­di­en« (2004), ein Es­say über das »Wis­sen der Li­te­ra­tur« (2007), Mar­tin Lu­ther (2020), Ri­chard Wag­ners Theo­rie­thea­ter (2015) oder der »Wut des Ver­ste­hens« (1988/2011) ma­chen Jo­chen Hö­risch (Jahr­gang 1951) zu ei­ner ger­ne be­frag­ten Per­sön­lich­keit. Er er­scheint da­bei wie ei­ne Art kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher ...

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Car­lo Ma­sa­la: Welt­un­ord­nung

Carlo Masala: Weltunordnung
Car­lo Ma­sa­la:
Welt­un­ord­nung

Die Pu­bli­ka­ti­ons­ge­schich­te des Buchs »Welt­un­ord­nung« von Car­lo Ma­sa­la be­stä­tigt in­di­rekt die sich im Ti­tel aus­drücken­de Fest­stel­lung. Die er­ste Auf­la­ge er­schien 2016. Zwei Jah­re da­nach ei­ne ak­tua­li­sier­te Ver­si­on. Und jetzt, 2022, nach der In­va­si­on der Ukrai­ne durch Russ­land, er­scheint ei­ne drit­te, aber­mals ak­tua­li­sier­te und um ein Ka­pi­tel er­gänz­te Auf­la­ge. So wer­den Be­fun­de des Au­tors be­legt und noch vor kur­zer Zeit für un­mög­lich ge­hal­te­ne Ent­wick­lun­gen wer­den plötz­lich Rea­li­tät.

Car­lo Ma­sa­la, 1968 ge­bo­ren, ist Pro­fes­sor für In­ter­na­tio­na­le Po­li­tik an der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr in Mün­chen. Ei­ner brei­te­ren Öf­fent­lich­keit wur­de er durch die mi­li­tä­ri­sche und geo­po­li­ti­sche Kom­men­tie­rung des Kriegs Russ­lands ge­gen die Ukrai­ne seit Fe­bru­ar 2022 be­kannt. Sein Idea­lis­mus dem ar­gu­men­ta­ti­ven Aus­tausch ge­gen­über ist so groß, dass er sich bis­wei­len so­gar ins Di­let­tan­ten­ge­tüm­mel der Po­lit­talk­shows stürzt. Wer sich dies er­spa­ren möch­te, kann im­mer­hin noch die­ses Buch le­sen. Und es lohnt sich.

Die Ar­beits­hy­po­the­se ist schnell for­mu­liert: Die Zei­ten­wen­de 1989/90 mit dem Zu­sam­men­bruch des bi­po­la­ren Sy­stems (USA vs UdSSR bzw. NATO vs War­schau­er Pakt) hat nach ei­nem kurz­zei­ti­gen Ho­ney­moon (»En­de der Ge­schich­te«) zu ei­ner ve­ri­ta­blen welt­po­li­ti­schen Un­ord­nung ge­führt. Aber, so stellt Ma­sa­la kühl fest: »Die Ver­su­che der ‘west­li­chen’ Welt […] ei­ne neue glo­ba­le Ord­nung zu schaf­fen, ha­ben in ei­nem nicht un­er­heb­li­chen Ma­ße da­zu bei­getra­gen, dass wir heu­te in ei­ner Welt der Un­ord­nung le­ben.« (»West­lich« wird hier na­tür­lich nicht als geo­gra­fi­sche son­dern als ge­sell­schaft­lich-kul­tu­rel­le Zu­ord­nung ver­stan­den.) Da­ne­ben gibt es mit dem in­ter­na­tio­na­len Ter­ro­ris­mus, Mi­gra­ti­ons­strö­men, Cy­ber­an­grif­fen und Pan­de­mien wei­te­re Her­aus­for­de­run­gen, die zur De­sta­bi­li­sie­rung füh­ren.

In den 2000er Jah­ren wur­de die »uni­la­te­ra­le Wen­de« der ame­ri­ka­ni­schen Si­cher­heits- und Au­ßen­po­li­tik durch ei­ne selt­sa­me Al­li­anz aus Neo­kon­ser­va­ti­ven und li­be­ra­len De­mo­kra­ten noch ver­stärkt. Die USA sa­hen »den Ein­satz mi­li­tä­ri­scher Macht­mit­tel als le­gi­ti­mes In­stru­ment […] um ih­re glo­ba­len Phan­ta­sien zu rea­li­sie­ren«. Da­bei sind al­le Mis­sio­nie­rungs­ver­su­che, die bis­wei­len un­ter dem Eu­phe­mis­mus der »hu­ma­ni­tä­ren In­ter­ven­ti­on« ge­fr­amt wur­den und De­mo­kra­tie und freie Markt­wirt­schaft uni­ver­sa­li­sie­ren so­wie die » ‘west­li­che’ Vor­herr­schaft über den Rest der Welt« fest­schrei­ben soll­ten, ge­schei­tert. Die Li­ste ist lang, reicht »von Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na über Af­gha­ni­stan und den Irak bis hin zu Li­by­en« (und ist da­mit noch nicht ein­mal voll­stän­dig). Re­sul­tat: Zer­fal­len­de Staa­ten oder be­sten­falls ein­ge­fro­re­ne Kon­flik­te. Auch die ge­walt­sa­me Be­kämp­fung des is­la­mi­schen Ter­ro­ris­mus ist nur teil­wei­se ge­lun­gen.

Ma­sa­la be­legt dies an zahl­rei­chen Bei­spie­len, ana­ly­siert die Dop­pel­mo­ral des We­stens, der De­mo­kra­tie pre­digt, aber bei­spiels­wei­se »fal­sche« Wahl­aus­gän­ge (wie in Al­ge­ri­en 1991/92 oder der Tür­kei 1996) sa­bo­tiert oder kor­rup­te, aber ihm ge­wo­ge­ne Prä­si­den­ten an die Macht hievt (wie in der Ver­gan­gen­heit in Af­gha­ni­stan). Schließ­lich ver­wirft Ma­sa­la mit dem »Li­be­ra­lis­mus« und der Ver­recht­li­chung der Au­ßen- bzw. Welt­po­li­tik zwei Säu­len des ak­tu­el­len po­li­ti­schen Den­kens.

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