Die Kunst des Auf­ge­bens V

(← IV)

Noch ein Nach­spiel

Es war im­mer noch früh, und so be­schloß ich, in Mit­a­ki aus­zu­stei­gen. Seit lan­gem will ich mir die­sen, wie ich oft sa­gen hör­te, spi­ri­tu­el­len Ort an­se­hen. Ich war schon ein­mal hier ge­we­sen, oder doch in der Nä­he, mit mei­ner Toch­ter, als sie klein war. Der Na­me Mit­a­ki be­deu­tet »drei Was­ser­fäl­le«. Schon da­mals hat­te ich mir ge­sagt, ich möch­te doch zu gern wis­sen, ob es sich um ei­nen drei­tei­li­gen Was­ser­fall han­delt oder wirk­lich um drei von­ein­an­der ge­trenn­te, ver­schie­de­ne. Der Auf­stieg bis zur hei­li­gen Zo­ne ist et­was müh­sam, nicht so sehr we­gen der Steil­heit des Ge­län­des als we­gen des Asphalts und den sich gar so hin­zie­hen­den Kur­ven. Die Be­su­cher kom­men im Au­to hier­her, ei­ni­ge we­ni­ge auch im Li­ni­en­bus. Es gibt da wie­der ein­mal ei­ne Ga­be­lung, links geht es zum Wald­spiel­platz und zum Na­tur­mu­se­um für Kin­der, rechts zum Tem­pe lare­al. Yo­ko­hat­te sich na­tur­ge­mäß für das Spiel ent­schie­den, ge­gen bud­dhi­sti­sche Be­schau­lich­keit, und sie war so oft die lan­ge, dem Ge­län­de sich an­schmie­gen­de blaue Rut­sche hin­un­ter­ge­glit­ten und hat­te sämt­li­che Ge­schick­lich­keits­par­cours, Klet­ter­wän­de und Hän­ge­brücken aus­pro­biert, bis sie völ­lig er­schöpft und es Zeit zur Heim­rei­se war.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

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Pa­trick Mo­dia­no: Un­sicht­ba­re Tin­te

Be­reits 1978, im Prix-Gon­­court-prä­­mier­ten Ro­man »Rue des Bou­ti­ques Ob­scu­res« (1979 Deutsch von Ger­hard Hel­ler: »Die Gas­se der dunk­len Lä­den«), kommt bei Pa­trick Mo­dia­no die De­tek­tei Hut­te vor. Und nun, im neue­stem auf deutsch er­schie­ne­nen Buch »Un­sicht­ba­re Tin­te« (Über­set­zung Eli­sa­beth Edl), er­in­nert sich ein Ich-Er­­zäh­­ler mit dem Na­men Jean Ey­ben an sei­ne kur­ze Tä­tig­keit bei die­ser ...

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Die Kunst des Auf­ge­bens IV

(← III)

Nach­spiel

Da ich mit Dai­ko­ku nun ein­mal ver­traut, wenn nicht so­gar ver­trau­lich ge­wor­den war, konn­te ich nicht um­hin, den Schrein auf­zu­su­chen, der sei­nen Na­men trug. Er war mir auf der Land­kar­te auf­ge­fal­len, lag noch in un­se­rer Re­gi­on, aber ziem­lich weit weg von mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung. Ich konn­te ihn nur mit der Ei­sen­bahn er­rei­chen, stieg am Haupt­bahn­hof von Hi­ro­shi­ma in ei­nen Wag­gon der mir recht ver­trau­ten Ka­be-Li­nie um.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens IV – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens IV – © Leo­pold Fe­der­mair

Der Ort selbst hieß Bai­rin, al­so Pflau­men­hain; noch ein Grund für mich, hin­zu­fah­ren. Ich stieg an ei­nem wah­ren Pro­vinz­bahn­hof aus, kaum mehr als ei­ne Hal­te­stel­le, mit We­gerl ne­ben dem ein­zi­gen Ge­leis, das der Bahn­steig für ein paar Me­ter in zwei ga­bel­te. Da­bei wur­de der Raum jen­seits des Ge­lei­ses, stadt­sei­tig, von ei­nem weit­läu­fi­gen Ein­kaufs­zen­trum mit den üb­li­chen fen­ster­lo­sen Kä­sten und Ku­ben ein­ge­nom­men, wäh­rend ge­gen­über die be­wal­de­ten Ber­ge als­bald steil an­stie­gen. Auf der Kar­te hat­te ich er­kannt, daß ich ein Stück­weit ge­gen die Fahrt­rich­tung zu ge­hen hat­te, und war über­rascht, als der Schrein, bes­ser: das Schrein­chen schon nach we­ni­gen Schrit­ten vor mir auf­tauch­te. Be­drängt von ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus, zwei da­vor ge­park­ten Au­tos und lau­ter Ra­dio­mu­sik, schien es sich dünn zu ma­chen wie je­mand, der den Bauch ein­zieht – ein Ein­druck, den die vie­len klei­nen, an Obe­lis­ken er­in­nern­den Schrift­säul­chen, die ihn um­frie­de­ten, noch ver­stärk­te. Ich ging ein‑, zwei­mal um ihn her­um. Von Dai­ko­ku kei­ne Spur, über­haupt kei­ne ein­zi­ge Sta­tue, nur die üb­li­che Lee­re im Ta­ber­na­kel. Der Kra­nich im Gie­bel­feld, die Flü­gel über Wel­len oder Wol­ken aus­ge­brei­tet, war die ein­zi­ge Ver­bin­dung zu mei­ner Be­geg­nung mit der lu­sti­gen Gott­heit in Ogu­ra. Im­mer­hin!

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Chri­sti­an Kracht: Eu­ro­trash

Ich ge­ste­he, dass ich nach der Pres­se­mit­tei­lung des Ver­lags vom De­zem­ber letz­ten Jah­res, in der an­ge­kün­digt wur­de, dass Chri­sti­an Kracht mit »Eu­ro­trash« ei­ne Fort­set­zung von »Fa­ser­land« ge­schrie­ben ha­be und die ei­ni­ge Feuil­­le­­ton-Re­­dak­teu­­re prak­tisch eins-zu-eins über­nom­men hat­ten, »Fa­ser­land« noch ein­mal le­sen muss­te. Ich hat­te von der Lek­tü­re nichts mehr be­hal­ten, was, wie vie­le glau­ben, an mir ...

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Die Kunst des Auf­ge­bens III

(← II)

Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

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Mar­tin Mo­se­bach: Krass

Der neue Ro­man von Mar­tin Mo­se­bach trägt den Ti­tel »Krass«. Ist der be­hut­sa­me Sprach­ar­tist jetzt in den Ju­gend­jar­gon ab­ge­drif­tet? Nein, man braucht sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen: »Krass« ist der Na­me sei­nes Prot­ago­ni­sten, der Haupt­fi­gur des Ro­mans (erst spä­ter fragt man sich, ob er wirk­lich die Haupt­fi­gur ist, aber ge­mach). Wie­der so ei­ne Mosebach’sche Na­mens­schöp­fung, ...

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Die Kunst des Auf­ge­bens II

(← I)

Den Ogu­ra-Schrein woll­te ich noch nicht auf­ge­ben. Es gab, laut Kar­te, die ich dies­mal wohl­weis­lich ein­steck­te, noch ei­nen an­de­ren Zu­brin­ger zu die­ser schnur­ge­ra­den, am En­de nur noch strich­lier­ten Stra­ße. Ich fuhr al­so los, lern­te wie­der ein paar Ort­schaf­ten ken­nen, kam an ei­nem ur­alten mäch­ti­gen Block­haus vor­bei, das vor vie­len Jah­ren als Ge­mischt­wa­ren­la­den ge­dient ha­ben muß­te, und sah we­nig spä­ter die lang­ge­zo­ge­nen fla­chen Ge­bäu­de aus dem­sel­ben dunk­len Holz, das Ge­län­de um­ge­ben von Sta­chel­draht, hin­ter dem Haupt­tor ein Sol­dat. Wie sel­ten be­geg­ne ich hier Sol­da­ten, fast er­freut es mein pa­zi­fi­sti­sches Herz. Nun, das ja­pa­ni­sche Mi­li­tär ist fried­lie­bend, es dient ge­mäß der Ver­fas­sung von 1947 nur der Selbst­ver­tei­di­gung. Die Ka­ser­ne hat­te den letz­ten Krieg heil über­stan­den, drei­ßig Ki­lo­me­ter ent­fernt war ei­ne Atom­bom­be ex­plo­diert, ob die Krie­ger es da­mals, am 6. Au­gust, über­haupt mit­be­ka­men?

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens II – © Leo­pold Fe­der­mair

Vom Ogu­ra-Schrein je­doch kei­ne Spur. Ich fuhr ei­nen Ki­lo­me­ter weit zu­rück, nahm aufs Ge­ra­te­wohl ei­nen Reis­feld­weg, tam­bo­mic­hi, kam an ei­ner Volks­schu­le vor­bei und dann wirk­lich auf die er­sehn­te schnur­ge­ra­de, recht brei­te, nach zwei, drei Ki­lo­me­tern nicht mehr asphal­tier­te, durch Kie­fern­wäl­der schnei­den­de Stra­ße, die zwei­fel­los von den Sol­da­ten ge­baut wor­den war. Wei­ter drü­ben, in süd­west­li­cher Rich­tung, hat­te ich letz­tes Jahr ein ähn­li­ches Ge­biet durch­quert. Da­mals war ich ei­nem ein­sa­men Golf­spie­ler be­geg­net, jetzt war es ein Mo­to­cross­fah­rer, den ich ei­ne Zeit­lang vor mir her­rat­tern sah und bald nur noch hör­te, wie er sich auf Sei­ten­stra­ßen ent­fern­te, wie­der nä­her­kam, end­lich doch ent­fern­te. Der Bo­den war leh­mig, zu­erst gelb, dann braun, schließ­lich rot, und ich dach­te wie­der ein­mal an das Land der Gua­raní, an die ro­te Er­de und die – bis hin zur Haupt­stadt und dem An­we­sen von Dok­tor Fran­cia, dem Dik­ta­tor (dem Au­gu­sto Roa Ba­stos ein na­tur­ge­mäß am­bi­va­len­tes Denk­mal ge­setzt hat) – recht be­schei­de­nen, zu­rück­hal­ten­den Sied­lun­gen (auch die Haupt­stadt ein Dorf), die ich wohl nie mehr wie­der­se­hen wer­de.

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Ge­or­ges Si­me­non: Aus den Ak­ten der Agence O

Georges Simenon: Aus den Akten der Agence O
Ge­or­ges Si­me­non: Aus den Ak­ten der Agence O

Jo­seph Tor­rence, Ex-In­spek­tor der Pa­ri­ser Kri­mi­nal­po­li­zei und ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­ter von Kom­mis­sar Mai­gret, Mit­te 40, »ein un­be­küm­mer­ter Riese…sehr ge­pflegt und gut ge­nährt« ist jetzt der Chef ei­ner der »be­rühm­te­sten Pri­vat­de­tek­tei­en der Welt«, der »Agence O«. Ihm zur Sei­te steht der jun­ge, som­mer­spros­si­ge Rot­schopf Émi­le, der als Fo­to­graf fun­giert, der Bü­ro­die­ner und ehe­ma­li­ge Ta­schen­dieb Bar­bet so­wie die Se­kre­tä­rin Ma­de­moi­sel­le Ber­the. Das Bü­ro liegt fast ein biss­chen kon­spi­ra­tiv ge­gen­über von ei­nem Mu­si­cal-Thea­ter, über dem Fri­seur­sa­lon »Chez Adol­phe« in der Ci­té Ber­gè­re in Pa­ris.

Ge­or­ges Si­me­non hat bin­nen sehr kur­zer Zeit vier­zehn Er­zäh­lun­gen über die »Agence O« ver­fasst, die 1943 bei Gal­li­mard ver­öf­fent­licht wur­den. 1968 wur­den für das fran­zö­si­sche Fern­se­hen zwölf Epi­so­den der »Agence O« ver­filmt (Re­gie führ­te Si­me­nons Sohn Marc), die 1971 in der ARD un­ter dem Na­men »Agen­tur Null« aus­ge­strahlt wur­den.

Sechs Er­zäh­lun­gen sind jetzt un­ter dem Ti­tel »Aus den Ak­ten der Agence O« im Kam­pa-Ver­lag auf­ge­legt wor­den, wo­bei nur »Der Mann hin­ter dem Spie­gel« von Sa­bi­ne Schmidt über­setzt in ei­ner in­zwi­schen ver­grif­fe­nen An­tho­lo­gie be­reits er­schie­nen war. Die an­de­ren fünf Er­zäh­lun­gen, von Su­san­ne Röckel über­tra­gen, gibt es zum er­sten Mal in deut­scher Spra­che. Die wei­te­ren acht Er­zäh­lun­gen mit Aben­teu­ern der »Agence O« sol­len zu ei­nem spä­te­ren Zeit­punkt er­schei­nen.

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