Die berühmten ersten Sätze. Man kennt sie. Und jetzt dieser: »Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.« Das Buch ist von Ulrich Woelk und heisst »Der Sommer meiner Mutter«.
Wie sieht ein Schreiben nach diesem Satz aus? Was ist zu erzählen? Der Tod der Mutter? Die Gründe für ihren Suizid? Wie es mit dem Ich-Erzähler, der, wie man schnell erfährt, Tobias heisst und 1969 elf Jahre alt war, weiter?
Sofort fällt einem Peter Handkes Erzählung vom Freitod seiner Mutter, »Wunschloses Unglück« ein. Das Buch handelt einerseits von den verlorenen Lebenschancen der Mutter, dem fragilen und vergeblichen Suchen nach Glück und, gegen Ende immer mehr, von den Schwierigkeiten des Erzählens des Sohnes dieser Situation, von der Unmöglichkeit, der Mutter und ihrer Situation gerecht zu werden. Handke war 29 als seine Mutter den Weg in den Tod wählte. Sie wurde 51 Jahre alt.
Woelk sucht nicht, er berichtet. Das Ereignis vergisst man nicht, während man danach über die Zeit zwischen April und August 1969 liest. Daher wundert man sich, dass es so harmlos weitergeht. Eine normale Mittelschichtgeschichte, Häuschen in der Peripherie zu Köln, Rhein-Nähe, ein Leben mit »Waschbetonterasse, Zentralheizung und Doppelgaragenanbau«.
Walter Ahrens, Tobias’ Vater, ist Ingenieur, ein Praktiker, der alles rational abgeht. Eva, die Mutter, widmet sich dem Haushalt. Zum 38. Geburtstag bekommt sie von ihrem Mann einen 2CV geschenkt. Tobias ist ein »stilles, nachdenkliches Kind«. Er und sein Vater sind fasziniert von den Apollo-Projekten der NASA. Die Sonderberichte im Fernsehen werden fast inhaliert. Erst Apollo 10, mit der die spätere Landung sozusagen probiert wird. Und dann, in fiebriger Erwartung, die Mondlandemission Apollo 11. Die Welt ist in Ordnung: »Ich fühlte mich geborgen, beachtet und geliebt.« Dass es ein bisschen in der Ehe kriselt, beunruhigt Tobias nicht besonders.
Dann ziehen neue Nachbarn im Nebenhaus ein. Wolf ist Philosophiedozent (»Bloch, Adorno, Frankfurter Schule«) an der Universität. Uschi übersetzt Kriminalromane vom Englischen ins Deutsche. Sie bezeichnen sich als Kommunisten; Zeitgeist-Revoluzzertum. Ihre Tochter ist ein Jahr älter als Tobias und heisst Rosa – nach Rosa Luxemburg.
Die Nachbarn verändern die Familie. Walter findet Gefallen an Uschi – und vice versa. Eva beginnt ihr Englisch aufzufrischen, erwägt ebenfalls sich an Übersetzungen zu versuchen, wird schließlich vom Verlag angenommen. Sie trägt jetzt Jeans und fährt zusammen mit Uschi zu einer Anti-Vietnam-Demonstration (was dem eigentlich progressiven Wolf nicht so gut gefällt). Auch Tobias’ Vater sieht die Entwicklung seiner Frau mit einer gewissen Sorge; sein Konservatismus ist von der alten Schule, »Emanzipation« ein Gräuel, seine Toleranz gegenüber dem politisch andersdenkenden Nachbarn jedoch ausgeprägt. Man ist befreundet, kommt sich näher, akzeptiert sich.
Da ist das Buch schon fast zur Hälfte vorbei und der Leser rätselt, was passieren könnte, dass sich die Mutter dann umbringt. Dies zu verfolgen macht den Reiz der weiteren Lektüre aus. Parallel zur Selbstfindung der Mutter wird die aufkeimende Sexualität von Tobias geschildert. Er lässt sich von Rosa verführen, wobei er gar nicht weiss, was da so genau mit ihm geschieht. Es gibt Berührungen, schwül-inszenierter, putziger Teenie-Sex. Der Leser wird eingelullt im kindlichen Duktus. Viele Fragen. Eine unterbleibt: Warum so?
Zeitkolorit gibt es einiges. Die Gartenfeste und Fernsehabende, die sicheren politischen Überzeugungen (das Revival ist längst in die Gegenwart eingesickert), der Hippielook Uschis, der Kirmesspass beim Autoscooter (auf dem Karussell ist es für Rosa und Tobias nicht mehr so harmlos), Plattenhören. Rosa übersetzt akribisch die Texte der »Doors«. In den Sommerferien beginnt sie mit einem Roman. Tobias’ Helden sind die US-Astronauten und Heinz Haber. Und ja, auch ich erinnere mich an die überlangen Mondsendungen im Fernsehen, diese wackligen Bilder, die vielen Graphiken, das ewige Warten. Die grosse Faszination Tobias’ für den Mond, die NASA und die Apollo-Missionen erinnert von Ferne an die Fußballleidenschaft von F. C. Delius’ Ich-Erzähler aus »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde«. Hier wie dort ist von einem großen Ereignis die Rede, vom Abschied von der Kindheit. Und doch ist hier alles ganz anders.
Eva übersetzt nun Thomas B. Deweys »The Brave Bad Girls«. Aus dem Titel macht sie »Mädchen sind so«, was ausgiebig vom Erwachsenen-Quartett diskutiert wird. Man duzt sich mittlerweile. Das Wahlverwandtschaften-Thema schimmert durch. Rosa bemerkt die gegenseitigen Anziehungen; Tobias ist ahnungslos, obwohl er dem Leser doch von den Annäherungen schildert.
Der wahre Grund für die Zertrümmerung von Tobias’ Welt, jenes Ereignis, dass Eva veranlasste, sich das Leben zu nehmen (bzw. dessen Enthüllung), soll hier nicht erwähnt werden. Es ist eigentlich nur eine Szene, wenige Sekunden. Und es wirkt heute lächerlich. So lächerlich wie die Bigotterien sowohl von seiten des konservativen Walter als auch vom angeblich so fortschrittlichen Wolf, die sich verblüffend einig waren. Die Mutter verwendete für ihren Suizid das damals frei verkäufliche Insektizid E605, welches der Vater im Frühjahr für seine Bäume im Garten benutzte, als er die neuen Nachbarn begrüsste. Es gab keinen Abschiedsbrief.
Im letzten Kapitel wird Tobias’ weiteres Leben skizziert. Er ist schließlich Astropyhsiker geworden. Hier gibt es Parallelen zu Woelks Leben, der eine ähnliche Laufbahn einschlug und immer wieder Bücher über Astonomie publiziert. Man hüte sich jedoch, Ulrich mit Tobias zu verwechseln. Letzterer war am Projekt »Rosetta« beteiligt. Und ja, er dachte immer mal wieder an diesen Sommer 1969, ganz vergessen kann (und sollte) man das nicht. Die Mutter hatte ihr Übersetzungsmanuskript verbrannt; der Titel ist auch bei der neuen Übersetzung geblieben (das Buch gab es tatsächlich, erschien im Goldmann-Verlag). Die Nachbarn zogen weg; Wolf übernahm eine Stelle in England. Rosa wurde eine arrivierte Schriftstellerin. Er besucht sie bei einer Lesung, offenbart sich jedoch bei der Signierung anschließend nicht.
Und plötzlich erreicht der Roman eine Tiefe. Es wäre gut gewesen, in dem Duktus der Reflexion und Wieder-Holung zu schreiben, statt die Sprache und Empfindungen eines Kindes zu imitieren. Woelks Versuche, die Welt des damals Elfjährigen, seine Ahnungslosigkeiten wie seine Begeisterungen, zu kopieren, überzeugen nicht. Das So-tun-als-ob wirkt künstlich. Ist es gewählt, damit der inzwischen über 60jährige Ich-Erzähler sich distanzieren kann vom Geschehen? Immerhin: In einen Moralismus oder gar Klageton verfällt Woelk nicht. Hierfür muss man ihm danken.
Dabei gibt es sie durchaus, die Allegorien und Anspielungen. Apollo 10 darf nicht auf dem Mond landen, obwohl man es vielleicht könnte. Ein Bild für Selbstbeherrschung und Ordnung – jene Prinzipien, die der Vater hochhält und die am Ende alles zerstören. Und dann natürlich der Antagonismus zwischen technischer Machbarkeit und menschlichen Unzulänglichkeiten.
Selbstfindung könne dazu führen, ein wahrhaftiges Leben zu führen, so doziert Wolf einmal. »Das bedeutet nicht, glücklich zu sein…« Was passiert, wenn Menschen glücklich sein wollen und damit gegen die Wahrhaftigkeitsphrasen ihrer Epoche verstossen, zeigt dieser Roman. Ein großes Thema. Aber irgendwie berührt das Buch nicht. Die Tragik dieses Sommers bleibt auf seltsame Art entrückt. Das ist schade.