
Für einen kurzen Moment schien die Welt der deutschen Literatur in Ordnung. Es war ein Oktobertag im Jahr 2008 und Uwe Tellkamp war mit dem damals noch recht neu konzipierten »Deutschen Buchpreis« für seinen Roman »Der Turm« ausgezeichnet worden. Die Lobe überschlugen sich und viele Kritiker waren sich sicher, endlich DEN Wenderoman vor sich zu haben. Auch die eher seichte Verfilmung vier Jahre später, die einige Zeit lang zu den entsprechenden Gedenkdaten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wiederholt wurde, konnte den Ruf des Romans nicht wesentlich erschüttern.
Am Schluss des Romans war ein Doppelpunkt – der Augenblick, als Uhren schlugen, der 9. November, und Christian Hoffmann, Sohn des Arztes Richard Hoffmann, zur Zeit der Wende Wehrdienstpflichtiger, näherte sich mit mulmigen Gefühl den Demonstranten. Kommt der Befehl, auf seine Landsleute zu schießen? Wie geht es weiter? Was geschieht mit den Hoffmanns, der Oberschicht in der DDR?
Die Ungeduld wuchs; Ankündigungen kündigten Verschiebungen und neue Ankündigungen an. 2015 war das Land mit der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigt. Uwe Tellkamp war mit der Politik der Kanzlerin nicht einverstanden. Er sagte dies auch. Im Gespräch mit Durs Grünbein im Jahr 2018. Der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich per Tweet von seinem Autor, was ein merkwürdiges Verständnis zeigt.
Von nun an wurde die Verzögerung des neuen Romans von Gerüchten begleitet. Genießt Tellkamp noch die Unterstützung des Verlags? Es erschienen Ausschnitte aus seinem Roman; Arbeitstext »Lava«. Tellkamp galt jetzt als »rechts« – weitgehend begründet auf einer Aussage aus der Grünbein-Diskussion und seiner Freundschaft zur Buchhändlerin Susanne Dagen, die seit ihrer Publikationsreihe »Exil« und diversen Veranstaltungen mit dem Titel »Mit Rechten lesen« zur Paria des Dresdner Kulturbetriebs – und darüber hinaus – wurde.
2020 riss der Geduldsfaden des Feuilletons. Man befragte sogenannte Intellektuelle, was sie von Tellkamps neuem Roman hielten. Wohl gemerkt, der Roman existierte nur in der Werkstatt des Autors, vielleicht teilweise bereits im Lektorat des Verlags. Niemand wusste Genaues. Aber das hielt einige nicht davon ab, fertige Urteile zu präsentieren. Aleida Assmann etwa, die festzustellen glaubte, dass aus dem einst »Aufrechten« ein »Rechter« geworden sei. Bar jeder Kenntnis des Manuskriptes gab sie Ratschläge an den designierten Verlag: »Wenn er [Tellkamp] tut, was der Titel des neuen Romans verspricht, nämlich glühende Lava über das Land zu gießen, dann wird man ihn daran nicht hindern können. Anders als in der DDR herrscht keine Zensur mehr, Kunst- und Meinungsfreiheit sind in der Demokratie ein Bürgerrecht. Man muss sich allerdings fragen, durch welchen Vulkan, sprich Verlag, diese Lava sich ergießen soll.« Ihr Furor steigerte sich: »Zu einem Zeitpunkt, wo sich in der Gesellschaft Hass, Antisemitismus und Gewalt mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten, muss der Suhrkamp-Verlag keinen Brandbeschleuniger auf den Markt werfen.« Wie kann man sich noch mehr demontieren?