Uwe Tell­kamp: Der Schlaf in den Uh­ren

Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren

Uwe Tell­kamp: Der Schlaf in den Uh­ren

Für ei­nen kur­zen Mo­ment schien die Welt der deut­schen Li­te­ra­tur in Ord­nung. Es war ein Ok­to­ber­tag im Jahr 2008 und Uwe Tell­kamp war mit dem da­mals noch recht neu kon­zi­pier­ten »Deut­schen Buch­preis« für sei­nen Ro­man »Der Turm« aus­ge­zeich­net wor­den. Die Lo­be über­schlu­gen sich und vie­le Kri­ti­ker wa­ren sich si­cher, end­lich DEN Wen­de­ro­man vor sich zu ha­ben. Auch die eher seich­te Ver­fil­mung vier Jah­re spä­ter, die ei­ni­ge Zeit lang zu den ent­spre­chen­den Ge­denk­da­ten im öf­fent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen wie­der­holt wur­de, konn­te den Ruf des Ro­mans nicht we­sent­lich er­schüt­tern.

Am Schluss des Ro­mans war ein Dop­pel­punkt – der Au­gen­blick, als Uh­ren schlu­gen, der 9. No­vem­ber, und Chri­sti­an Hoff­mann, Sohn des Arz­tes Ri­chard Hoff­mann, zur Zeit der Wen­de Wehr­dienst­pflich­ti­ger, nä­her­te sich mit mul­mi­gen Ge­fühl den De­mon­stran­ten. Kommt der Be­fehl, auf sei­ne Lands­leu­te zu schie­ßen? Wie geht es wei­ter? Was ge­schieht mit den Hoff­manns, der Ober­schicht in der DDR?

Die Un­ge­duld wuchs; An­kün­di­gun­gen kün­dig­ten Ver­schie­bun­gen und neue An­kün­di­gun­gen an. 2015 war das Land mit der so­ge­nann­ten Flücht­lings­kri­se be­schäf­tigt. Uwe Tell­kamp war mit der Po­li­tik der Kanz­le­rin nicht ein­ver­stan­den. Er sag­te dies auch. Im Ge­spräch mit Durs Grün­bein im Jahr 2018. Der Suhr­kamp-Ver­lag di­stan­zier­te sich per Tweet von sei­nem Au­tor, was ein merk­wür­di­ges Ver­ständ­nis zeigt.

Von nun an wur­de die Ver­zö­ge­rung des neu­en Ro­mans von Ge­rüch­ten be­glei­tet. Ge­nießt Tell­kamp noch die Un­ter­stüt­zung des Ver­lags? Es er­schie­nen Aus­schnit­te aus sei­nem Ro­man; Ar­beits­text »La­va«. Tell­kamp galt jetzt als »rechts« – weit­ge­hend be­grün­det auf ei­ner Aus­sa­ge aus der Grün­bein-Dis­kus­si­on und sei­ner Freund­schaft zur Buch­händ­le­rin Su­san­ne Da­gen, die seit ih­rer Pu­bli­ka­ti­ons­rei­he »Exil« und di­ver­sen Ver­an­stal­tun­gen mit dem Ti­tel »Mit Rech­ten le­sen« zur Pa­ria des Dresd­ner Kul­tur­be­triebs – und dar­über hin­aus – wur­de.

2020 riss der Ge­dulds­fa­den des Feuil­le­tons. Man be­frag­te so­ge­nann­te In­tel­lek­tu­el­le, was sie von Tell­kamps neu­em Ro­man hiel­ten. Wohl ge­merkt, der Ro­man exi­stier­te nur in der Werk­statt des Au­tors, viel­leicht teil­wei­se be­reits im Lek­to­rat des Ver­lags. Nie­mand wuss­te Ge­nau­es. Aber das hielt ei­ni­ge nicht da­von ab, fer­ti­ge Ur­tei­le zu prä­sen­tie­ren. Alei­da Ass­mann et­wa, die fest­zu­stel­len glaub­te, dass aus dem einst »Auf­rech­ten« ein »Rech­ter« ge­wor­den sei. Bar je­der Kennt­nis des Ma­nu­skrip­tes gab sie Rat­schlä­ge an den de­si­gnier­ten Ver­lag: »Wenn er [Tell­kamp] tut, was der Ti­tel des neu­en Ro­mans ver­spricht, näm­lich glü­hen­de La­va über das Land zu gie­ßen, dann wird man ihn dar­an nicht hin­dern kön­nen. An­ders als in der DDR herrscht kei­ne Zen­sur mehr, Kunst- und Mei­nungs­frei­heit sind in der De­mo­kra­tie ein Bür­ger­recht. Man muss sich al­ler­dings fra­gen, durch wel­chen Vul­kan, sprich Ver­lag, die­se La­va sich er­gie­ßen soll.« Ihr Fu­ror stei­ger­te sich: »Zu ei­nem Zeit­punkt, wo sich in der Ge­sell­schaft Hass, An­ti­se­mi­tis­mus und Ge­walt mit der Ge­schwin­dig­keit des Co­ro­na­vi­rus aus­brei­ten, muss der Suhr­kamp-Ver­lag kei­nen Brand­be­schleu­ni­ger auf den Markt wer­fen.« Wie kann man sich noch mehr de­mon­tie­ren?

Das Fut­ter wird ser­viert

Jetzt liegt er vor, der neue Ro­man mit rund 900 Sei­ten. »Der Schlaf in den Uh­ren« heißt er, nicht mehr »La­va«. Auf dem Schmutz­ti­tel steht »Ar­chi­pe­la­gus I«. Spä­ter lernt der Le­ser, dass »Ar­chi­pe­la­gus« nicht nur ein Ge­dicht von Höl­der­lin und sei­ne Schöp­fung ei­nes fik­ti­ves Lan­des dar­stellt, son­dern auch als Be­zeich­nung für die DDR ge­bräuch­lich ge­we­sen sein soll. Als Zeit­fen­ster für den Ro­man wer­den »Au­gust 2015« und »Som­mer 1989 – Ja­nu­ar 1990« an­ge­ge­ben. Da­ne­ben wird es zahl­rei­che Rück­blen­den ge­ben. Die Ka­pi­tel hei­ßen »Vi­gi­li­en«; die er­ste »Vi­gi­lie« um­fasst rund 800 der ins­ge­samt rund 900 Sei­ten und trägt den Ti­tel »Ne­mo«. Der Le­ser des »Turm« er­in­nert sich, dass »Ne­mo« der Spitz­na­me von Chri­sti­an Hoff­mann wäh­rend sei­ner Sol­da­ten­zeit war. Nun ist »Ne­mo« ei­ne ge­heim­nis­vol­le Fi­gur im Ro­man, ein Strip­pen­zie­her (oder Schlim­me­res), aber es kann un­mög­lich Chri­sti­an Hoff­mann sein.

Schon auf den er­sten Sei­ten Lek­tü­re des neu­en Ro­mans rei­ben sich die­je­ni­gen, die es schon im­mer ge­wusst ha­ben, die Hän­de. Et­wa wenn dort vom »Ab­weich­ler« die Re­de ist: »Der Ab­weich­ler wird zum Ab­weich­ler ge­macht: lag er län­ge­re Zeit un­be­hel­ligt im war­men Strom der ap­plau­dier­ten Mei­nun­gen, so ge­nügt ein Um­stand, ein Kon­takt mit ei­ner an­de­ren Wirk­lich­keit, um von ei­nem Er­weckungs­schock aus dem Haupt­strom ge­schleu­dert zu wer­den und sich in käl­te­ren, tie­fe­ren, deut­lich nah­rungs­är­me­ren Ge­wäs­sern wie­der­zu­fin­den. Der Ab­weich­ler ist nun auf Ab­stand zu den ap­plau­dier­ten Mei­nun­gen und ih­ren Ge­burts­ka­nä­len, den so­ge­nann­ten Haupt­strom­me­di­en, und in­ner­halb der Haupt­strom­me­di­en zu den Statt­hal­tern des Haupt­stroms. Sie las­sen die ab­wei­chen­de Po­si­ti­on nicht auf der so­ge­nann­ten Au­gen­hö­he gel­ten, son­dern stra­fen sie mit so­zia­ler Ver­ach­tung, was den Ab­weich­ler in die Po­si­ti­on des Grüb­lers und psy­chisch Her­aus­ge­for­der­ten ver­setzt.«

Die­se Zei­len fin­den sich in ei­nem Ab­satz mit der Über­schrift »Die Kar­te der See­mi­nen«. Sie pas­sen in die­sen Ab­schnitt eher nicht hin­ein, wir­ken de­plat­ziert (wie so ei­ni­ges in die­sem Buch, aber ge­mach). Nicht nur mit der Be­schrei­bung der »See­mi­nen« in der To­po­gra­phie im fik­ti­ven Staat Tr­e­va (wie na­he­zu al­les in die­sem Buch Chif­fre und An­ti­chif­fre zu­gleich), un­ter­teilt in »Ar­go« und »Bren­ta«, be­kommt der Le­ser rasch Zu­ord­nungs­pro­ble­me. Da gibt es bei­spiels­wei­se ei­ne »Koh­len­in­sel« (West und Ost), ein Ort na­mens »Spin­del«, der »Pa­laz­zo Missun­de« oder das »Li­te­ra­tur­kom­bi­nat« mit sei­nen zahl­rei­chen Ab­tei­lun­gen. Zur Un­ter­stüt­zung wer­den kar­ten­ähn­li­chen Zeich­nun­gen auf den Buch­decke­lin­nen­sei­ten an­ge­bo­ten, die aber eher ver­wir­ren als klä­ren. Rhein und der »Elb­i­sche Fluss« lie­gen ver­däch­tig nah bei­ein­an­der, »Ar­go« liegt am Ha­fen, »Bren­ta« in ei­nem Sumpf­ge­biet west­lich von »Ost­rom« (Dres­den). Der er­ste Rat­schlag: Sich die­se Zeich­nun­gen nicht an­schau­en, in ih­nen nichts fin­den wol­len.

Ope­ra­ti­ver Vor­gang »Unio« und die »Auf­ga­be im Grun­de«

Tr­e­va ist, so die Le­gen­de, nach dem er­folg­reich um­ge­setz­ten »Kom­plex ‘Wen­de’ « durch den »Ope­ra­ti­ven Vor­gang ‘Unio’ « ent­stan­den. Wird da et­wa das wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land und de­ren In­sti­tu­tio­nen mit der DDR gleich­ge­setzt? Oder gar »Ge­schichts­re­vi­sio­nis­mus« be­trie­ben? »Fik­ti­on ist ei­ne ei­ge­ne Form von Wirk­lich­keit«, heißt es ein­mal im Ro­man. Ei­gent­lich soll­te dies ei­ne Bin­sen­weis­heit sein, aber in der heu­ti­gen Zeit, in der Al­le­go­rien mit Al­le­go­re­sen ver­wech­selt wer­den (wo­zu der Ro­man mit sei­nen über­bor­den­den und über­flüs­si­gen Chif­frie­run­gen lei­der ein­lädt) und in dem fik­ti­ve Kon­struk­tio­nen ei­nem fort­lau­fen­den Rea­li­täts­check un­ter­zo­gen wer­den, scheint dies im­mer mehr in Ver­ges­sen­heit zu ge­ra­ten. Die Idio­syn­kra­si­en der Kri­ti­ker pas­sen sich ih­ren au­ßer­li­te­ra­risch ge­bil­de­ten (Vor-)Urteilen an; sie freu­en sich wie Gärt­ner, die end­lich das Un­kraut iden­ti­fi­ziert ha­ben und aus dem Bo­den zup­fen dür­fen. Schließ­lich sol­len ja tun­lichst auch in fik­tio­na­len Wer­ken nur noch ein­wand­freie, »wo­ke« For­mu­lie­run­gen ver­wen­det wer­den. Da gilt ir­gend­wann al­les als ve­ri­ta­ble Ver­let­zung des com­mon sen­se. Der Be­fund sel­ber, der vom Er­zäh­ler fest­ge­stell­te Ver­lust der (dis­kur­si­ven) Au­gen­hö­he, wird spa­ssi­ger­wei­se durch so man­che Er­re­gung in der Re­zep­ti­on des Ro­mans na­he­zu be­stä­tigt.

Treva - Brenta - © Uwe Tellkamp bzw. Suhrkamp-Verlag

Tr­e­va – Bren­ta – © Uwe Tell­kamp bzw. Suhr­kamp-Ver­lag

Da­bei gibt es ja durch­aus li­te­ra­ri­sche Ein­wän­de zu die­sem Buch, und dies nicht zu we­nig. Da sind vor al­lem die ein­ge­streu­ten, ta­ge­buch­ar­ti­gen Pas­sa­gen aus dem Au­gust 2015 über die »Tau­send­und­ei­ne­n­acht­ab­tei­lung«, ei­ner neu­zeit­li­chen Mi­schung aus Nach­rich­ten­dienst, kon­spi­ra­tiv agie­ren­den Denk­fa­bri­ken mit ih­ren Me­di­en­ab­tei­lun­gen und ent­spre­chen­dem Agen­da-Set­ting. Sie ar­bei­ten an der mit der dif­fu­sen Vo­ka­bel be­dach­ten (und nie ex­akt de­fi­nier­ten) so­ge­nann­ten »Auf­ga­be im Grun­de« und ist da­für zu­stän­dig, »die Si­cher­heit auf dem Ge­biet von Wort und Schrift zu ge­währ­lei­sten, wir nen­nen es Nar­ra­ti­ve oder ‘die Er­zäh­lun­gen’. Es gibt den ‘Ein­gang’ in der Tre­vi­schen Nach­rich­ten­agen­tur, hier flu­ten die Nach­rich­ten an, wer­den sor­tiert und wei­ter­ge­ge­ben, ana­ly­siert, kom­pri­miert, auf al­len Ebe­nen der 1001 wer­den Vor­la­gen er­stellt, Ope­ra­ti­ve Vor­gän­ge aus­ge­ar­bei­tet, Dos­siers an­ge­legt, al­les trägt zur ‘La­ge’ bei, die von Ku­rie­ren oder über si­che­re Lei­tun­gen di­rekt ins Ve­mi­ni [Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um] wei­ter­ge­ge­ben wird, wo die wech­seln­den An­tei­le der ‘La­ge’ wie­der­um ana­ly­siert wer­den, um, schließ­lich, im ‘Aus­gang’ in Hand­lun­gen zu mün­den.« Schließ­lich fin­det al­les Ein­lass in die »Haupt­me­di­en« (mit ih­ren holp­ri­gen Chif­frie­run­gen – wie »Süd­t­re­vi­sche«, »Wahr­heit« [»Der Spie­gel«] oder die »TRAZ«). Die im Ro­man por­trai­tier­ten Me­di­en­za­ren (al­len vor­an der »Gro­ße Bur­stah«) sind je­doch lei­der eher Ka­ri­ka­tu­ren, was den me­di­en­kri­ti­schen Pas­sa­gen die Bri­sanz nimmt.

Na­tür­lich be­sitzt die von Tell­kamp aus­ge­brei­te­te Sym­bio­se aus Nach­rich­ten­agen­tur und Ge­heim­dienst, die Be­haup­tung, dass kon­spi­ra­tiv agie­ren­de Thinktanks ir­gend­wie die öf­fent­li­che Mei­nun­gen er­zeu­gen und ka­na­li­sie­ren, ei­ne ge­wis­se po­li­ti­sche Fri­vo­li­tät, ins­be­son­de­re wenn man Tr­e­va mit Deutsch­land gleich­setzt. Aber al­lei­ne die Be­zeich­nung der In­sti­tu­ti­on als Tau­send­und­ei­ne­n­acht­ab­tei­lung lässt ei­ne sa­ti­ri­sche Ab­sicht er­ken­nen, de­ren li­te­ra­ri­sche Aus­klei­dung äs­the­tisch al­ler­dings eher miss­lun­gen ist, weil Tell­kamp sich nicht ent­schei­den kann, die­ses gan­ze Wort­ge­klap­per mit Sta­si-Be­grif­fen wie »Haupt­ver­wal­tung Auf­klä­rung« als Hu­mo­res­ke oder Dys­to­pie zu er­zäh­len.

Kon­rad Ade­nau­er und Her­bert Weh­ner

Von ei­ner Ver­un­glimp­fung des re­al exi­stie­ren­den Deutsch­lands und sei­ner de­mo­kra­ti­schen In­sti­tu­tio­nen ist das ein gu­tes Stück ent­fernt. Dies zur Be­ru­hi­gung all der­je­ni­gen, die sich plötz­lich und un­er­war­tet als Ver­tei­di­ger ei­ner Na­ti­on, die sie vor­her mehr oder we­ni­ger als über­holt be­trach­tet ha­ben, ge­rie­ren. Tell­kamp be­schreibt mit Tr­e­va ein Kon­glo­me­rat aus »Apparate[n], Struk­tu­ren, der Macht­kom­plex, dies Ge­men­ge aus Wün­schen, Ab­spra­chen, Vor­teils­stre­ben, In­tri­gen, Sach­ar­beit, Ent­schei­dungs­fin­dung, Hin­ter­zim­mer­kun­ge­lei­en und Ein­fluß­nah­men, hier war Ad­mi­ni­stra­ti­on und durch­aus nicht ver­bor­ge­ne Ent­schei­dung, da gab es viel­be­tre­te­ne und gut aus­ge­leuch­te­te Pfa­de zwi­schen Exe­ku­ti­ve und Le­gis­la­ti­ve; rät­sel­haft war, wo­durch die Macht ver­än­dert wur­de, die Macht hin­ter der Macht al­so, das trü­be und schlamm­schläf­ri­ge Au­ge, Frak­ti­ons­kol­le­gen, Mit­ar­bei­ter, Geg­ner, der Tisch, auf dem of­fen zu lie­gen scheint, was die Macht will, nur man selbst er­kennt es nicht.« Wer das nicht aus­hal­ten kann, wer an For­mu­lie­run­gen wie »Macht hin­ter der Macht« An­stoß nimmt, soll­te in Zu­kunft viel­leicht bes­ser nur noch Lam­by-Fil­me schau­en.

Macht­de­mon­stra­tio­nen in sub­ti­ler Form fin­det der kau­zi­ge Er­zäh­ler un­ter an­de­rem bei Kon­rad Ade­nau­er im Ge­spräch von 1965 mit Gün­ter Gaus (nebst Aus­flü­gen in den rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus der 1950er/60er Jah­re) und in der (Spiel-)Szene im Film »Weh­ner« von Hein­rich Bre­lo­er, in dem der Ein­stel­lungs­vor­gang Karl Wienands zum Par­la­men­ta­ri­schen Ge­schäfts­füh­rer ge­zeigt wird. Für ihn sind dies fas­zi­nie­ren­de Ein­blicke in das »Mär­chen­reich am Rhein«. Wolf­gang Koep­pen emp­fand dies in sei­nem Ro­man »Das Treib­haus« von 1953 we­ni­ger mär­chen­haft. Der Bon­ner Po­li­tik­be­trieb der 1950er Jah­re wur­de als Müh­le be­schrie­ben, in der Po­li­ti­ker ab­ge­schot­tet von der Wirk­lich­keit ih­ren macht­po­li­ti­schen Spiel­chen nach­gin­gen. Die Haupt­fi­gur Kee­ten­heuve, Pa­zi­fist, Idea­list, So­zi­al­de­mo­krat und ly­rik­af­fin, muss­te mit sei­nen po­li­ti­schen Wert­vor­stel­lun­gen fast zwangs­wei­se schei­tern. Man er­in­ne­re sich je­doch, dass nach Er­schei­nen Koep­pens Ro­man als Zerr­bild der noch jun­gen De­mo­kra­tie ge­se­hen und weit­ge­hend ab­ge­lehnt wur­de, was den Au­tor verlan­lass­te fest­zu­stel­len, dass sein Text (wie al­le Pro­sa) ei­ne ei­ge­ne, poe­ti­sche Wahr­heit ha­be. Und auch wenn aus heu­ti­ger Sicht Kee­ten­heu­ves Vor­be­hal­te ge­gen­über der Adenauer’schen Po­li­tik mehr oder we­ni­ger über­trie­ben er­schei­nen, schmä­lert dies in kei­nem Fall den ho­hen li­te­ra­ri­schen Wert des Ro­mans, der jen­seits der zeit­hi­sto­ri­schen Im­pli­ka­tio­nen und ein­sti­gen Deu­tungs­mu­ster liegt.

Tell­kamp kon­tra­stiert sei­ne Ein­drücke von Macht und Macht­aus­übung im letz­ten Teil des Ro­mans mit ei­ner Far­ce. Ein Er­zäh­ler (ist es wie­der Fa­bi­an?) wird auf­grund sei­ner be­son­de­ren Re­cher­che­lei­stun­gen in Be­zug auf ei­ne Rom­an­stel­le bei Ju­dith Sche­vo­la vom »Va­ti« nach Wand­litz als was-auch-im­mer be­or­dert. Man be­kommt nun ei­nen de­tail­lier­ten Ein­blick in die Ba­na­li­tät die­ser No­men­kla­tu­ra, die sich un­ter an­de­rem dar­in zeigt, un­ter­schied­li­che Re­zep­te von Dün­ger­brü­hen an­zu­rüh­ren, um die läng­ste Gur­ke zu züch­ten, grö­ße­re Er­trä­ge bei der »Busch­boh­ne ‘Fa­den­lo­ses Kon­ser­ven­wun­der’ « oder der »Stan­gen­boh­ne ‘Hoch­ge­nuß’ « zu er­zie­len. Dies al­les nur, um die Ern­te da­nach weg­zu­wer­fen (we­he, das Per­so­nal »be­dien­te« sich dar­an), weil das Es­sen eh fer­tig zu­be­rei­tet aus Ber­lin ge­lie­fert wur­de. Das ist bei al­ler er­zäh­le­ri­schen An­ge­strengt­heit stel­len­wei­se wirk­lich ko­misch.

Ver­such ei­ner In­halts­an­ga­be

Wor­um geht es ei­gent­lich in die­sem Ro­man? Zen­tral­fi­gur und (so­zu­sa­gen) haupt­amt­li­cher Ich-Er­zäh­ler ist Fa­bi­an Hoff­mann, der Sohn von Ri­chards Bru­der, Hans Hoff­mann, Jahr­gang 1968, »Film­vor­füh­rer, Dis­si­dent, An­ge­hö­ri­ger der No­va­lis­klas­se der Koh­len­in­sel« und Chro­nist in der »Tau­send­und­ei­ne­n­acht­ab­tei­lung«. Er soll ei­ne Fest­schrift zum 25. Jah­res­tag der Wie­der­ver­ei­ni­gung ver­fas­sen. Die er­ste Fas­sung hat er mit Da­tum 02.8.2015 fer­tig­ge­stellt. Sie geht nun mit Rohr­post (spä­ter wird man er­fah­ren, dass in Tr­e­va die Kom­mu­ni­ka­ti­on in­ner­halb der Be­hör­den auf­grund von Ab­hör- und Sa­bo­ta­ge­ge­fahr grund­sätz­lich nicht mehr mit elek­tro­ni­schen Me­di­en er­folgt; Schreib­ma­schi­nen sind wie­der in Ge­brauch) an die ent­spre­chen­de Ge­neh­mi­gungs­stel­le. Über die Schrift sel­ber er­fährt der Le­ser di­rekt nichts. Er wird statt­des­sen Zeu­ge ei­nes in­ter­mit­tie­ren­den Er­in­ne­rungs­stroms des Ich-Er­zäh­lers (er sei, so heißt es ein­mal, »er­in­ne­rungs­süch­tig«) von sei­ner Ju­gend bis zum Schwer­punkt Som­mer 1989 bis Ja­nu­ar 1990, der im­mer wie­der mit Ein­drücken vom Au­gust 2015 (En­de: 31.8.) ver­mischt wird. Die­se Ebe­nen wer­den auf den er­sten rund 800 Sei­ten ne­ben- bzw. un­ter­ein­an­der ge­stellt und bis­wei­len von aus­ufern­den Ex­kur­sen über Nacht­fal­ter, Am­seln, die »Wis­sen­schaft vom Nass­ra­sie­ren«, den Run auf ei­nen Neu­druck von Tho­mas Manns »Zau­ber­berg« in der DDR, die Her­stel­lung von Zwangs­jacken aus Se­gel­tuch, der tre­vi­schen Talk­show-Sze­ne mit den »Drei Schwe­stern« oder Aus­füh­run­gen zu Saug­näp­fen für Ba­de­zim­mer­flie­sen un­ter­bro­chen, ge­stört oder, neu­tra­ler, er­gänzt wird.

Personal aus "Der Turm"

Per­so­nal aus »Der Turm« – © Suhr­kamp-Ver­lag

Das ei­gent­li­che, fik­ti­ve Per­so­nal des Ro­mans ist aus dem »Turm« be­kannt. Den­noch ist der Le­ser dank­bar, das Le­se­zei­chen, wel­ches der Ver­lag sei­ner­zeit dem Ro­man bei­gelegt hat­te und auf dem die Per­so­nen und de­ren Wohn­re­fu­gi­en ver­zeich­net wa­ren (»Tau­send­au­gen­haus«, »Fa­gott«), zur Hand zu ha­ben. Es be­schleu­nigt die Er­in­ne­rung. Im »Turm« stand die Fa­mi­lie des Arz­tes Ri­chard Hoff­mann (und am En­de des­sen Sohn Chri­sti­an) im Mit­tel­punkt. Chri­sti­an ist in­zwi­schen Land­arzt ge­wor­den, geht je­doch voll in hu­ma­ni­tä­ren Pro­jek­ten wie et­wa der Flücht­lings­hil­fe auf; sein Bru­der Ro­bert, welt­weit an­er­kann­ter pla­sti­scher Chir­urg und Mul­ti­mil­lio­när (was bei sei­ner Schei­dung zu Ver­wer­fun­gen führt), spons­ort sei­ne Kli­nik.

Aber in »Schlaf in den Uh­ren« geht es um Fa­bi­an Hoff­mann. So fin­den sich et­li­che Bin­nen­er­zäh­lun­gen aus Fa­bi­ans Sicht aus der Wen­de­zeit, wo­bei zwei die Schil­de­rung zwei­er Er­eig­nis­se her­aus­ste­chen. Zum ei­nen rund um die Bot­schafts­be­set­zung 1989 und dann die Sta­si-Er­stür­mung in Dres­den. Im­mer ist Fa­bi­an Hoff­mann ir­gend­wie da­bei (in Prag mit sei­ner Schwe­ster Mu­ri­el). Spä­ter die Tref­fen zwi­schen mit Op­po­si­tio­nel­len und SED- re­spek­ti­ve PDS-Po­li­ti­kern in und um Dres­den und die Er­zäh­lun­gen der ver­zwei­fel­ten Ver­su­che der Funk­tio­nä­re, den Un­ter­gang des Staa­tes zu ver­hin­dern, Le­bens­lü­gen zu ka­schie­ren und gleich­zei­tig ih­re Haut zu ret­ten. Be­ton­köp­fe und Wen­de­häl­se beim Zap­peln. Gleich­zei­tig das wach­sa­me Schau­en der Op­po­si­tio­nel­len, wo­hin die Macht im neu­en Land ge­hen wird. Dar­un­ter auch An­ne Hoff­mann, ein­sti­ge Kran­ken­schwe­ster, die Frau von Ri­chard Hoff­mann, die sich früh auf die Sei­te der De­mon­strie­rer ge­stellt hat­te (sie­he »Turm«) und nun mit an run­den oder sonst­wie ge­form­ten Ti­schen sitzt. Wem wird sie sich an­schlie­ßen? Der eher ar­ro­gant auf­tre­ten­den, sich neu for­mier­ten So­zi­al­de­mo­kra­tie (des­sen Grün­der jäh ab­stür­zen wird)? Dem De­mo­kra­ti­schen Auf­bruch? Oder dem Neu­en Fo­rum? Wird »Mam­mut« die Wahl ge­win­nen? Oder die So­zi­al­de­mo­kra­tie? Hier wer­den Wei­chen ge­stellt – ein­mal falsch ab­ge­bo­gen und die Chan­ce, die ein sol­ches In­ter­re­gnum bie­tet, ist da­hin.

Drit­te-Weg-Ver­fech­ter und die Kul­tur­sze­ne

Na­tür­lich er­schei­nen auch die satt­sam be­kann­ten Drit­te-Weg-Ver­fech­ter (man er­kennt sie so­fort; kei­ne Sor­ge) mit ih­ren Me­mo­ran­den und Auf­ru­fen, Dis­kus­si­ons­bei­trä­gen, neu ge­ba­stel­ten Denk­schu­len (ei­ner »Karx«-Philosophie et­wa; ei­ne Mi­schung aus Karl Marx und Im­ma­nu­el Kant) und den Tref­fen bei »Tee, ge­schäl­ten Möh­ren und Ho­mer« (die­ser wird dann, so der Be­richt, »sei­ten­lang« im Ori­gi­nal zi­tiert). Sie wol­len »das Par­tei­ver­mö­gen schüt­zen« und jam­mern bar je­der Kennt­nis der­je­ni­gen, für die sie glau­ben, ih­re Stim­me er­he­ben zu müs­sen, das »un­ser Land« preis­ge­ge­ben wür­de. Das »Neue Deutsch­land« bleibt zu­nächst ihr ein­zi­ges Me­di­um; sie ver­klä­ren es zur »Fe­stung der Auf­rech­ten«. Sie mer­ken nicht, dass sie längst in die Rum­pel­kam­mer der Ge­schich­te ge­hö­ren. Und ei­ni­ge ha­ben es im­mer noch nicht be­merkt.

Par­al­lel da­zu fin­den sich wie schon im »Turm« aus­führ­lich die In­tri­gen und Ran­kü­nen im Kul­tur­be­trieb. Lei­der, möch­te man sa­gen. Hier ist der Lek­tor und Kul­tur­funk­tio­när Me­no Roh­de (geb. 1940; An­ne Hoff­manns Bru­der) der Dreh- und An­gel­punkt. Des­sen Welt- und Po­li­tik­fremd­heit pass­te schon nicht in die DDR – in die Wen­de­zeit und da­nach erst recht nicht. Er hat­te sich ein­ge­rich­tet im Man­gel­staat, in dem Pa­pier­knapp­heit als Aus­re­de für Nicht­pu­bli­ka­tio­nen galt und Au­toren auf sei­ne An­wei­sung hin re­gime­kri­ti­sche Ab­sät­ze in ih­ren Bü­chern un­ter­brin­gen soll­ten, da­mit die Zen­sur die­se her­aus­strei­chen konn­te und an­de­res, we­ni­ger of­fen­sicht­li­ches, ste­hen­blieb. Sei­ne Lek­to­ra­te sind bei den Au­toren ge­fürch­tet; er stört sich mit all sei­ner Em­pha­se über ein Wort wie »hun­de­elend« in ei­nem Ma­nu­skript und fragt die Au­torin, wel­chen Hund sie mei­ne. Mit den um ihn her­um sich neu kon­sti­tu­ie­ren­den Ver­lags­wel­ten kommt er nicht klar; die er­hoff­ten Schub­la­den­fun­de bei den Au­toren nach der Wen­de blei­ben aus. Roh­de be­ob­ach­tet mehr als er ge­stal­tet, ob­wohl er Funk­tio­nen er­hält. Er be­klagt, dass aus der Le­ser­schaft ei­ne Kund­schaft wird. Tell­kamp ge­lingt es nicht, die­se Fi­gur, die schon im »Turm« mit sei­nen Ta­ge­buch­ein­trä­gen eher blass blieb, zum Le­ben zu er­wecken; Roh­des Bril­lanz et­wa, die »Treue zur Sa­che«, bleibt Be­haup­tung. Er wirkt wie ei­ne Mi­schung aus Mr. Spock und Wachs­pup­pe; am En­de un­fä­hig, ei­ne Rei­se mit dem Roll­kof­fer bis zum Ziel­punkt aus­zu­füh­ren.

Die zwei­te Gen­re-Haupt­fi­gur ist die Schrift­stel­le­rin Ju­dith Sche­vo­la, ein po­li­ti­sie­ren­des Irr­licht, So­zia­lis­mus- und Ka­pi­ta­lis­mus­has­se­rin in ei­nem. Auch sie bleibt trotz ih­rer zeit­wei­li­gen Aus­ra­ster selt­sam sprö­de. Schließ­lich fährt sie nach Kla­gen­furt und ver­öf­fent­licht ih­ren Ro­man nicht im »Her­mes-Ver­lag«, son­dern bei »Mun­der­loh«. Me­no Roh­de, ihr Lek­tor, ist fas­sungs­los ob die­ses Ver­rats und man er­fährt nicht, ob die Vo­ka­bel »hun­de­elend« im an­de­ren Ver­lag an­ge­nom­men wur­de oder nicht.

Aber nicht nur die Li­te­ra­tur­sze­ne rund um den »Hermes«-Verlag wird ka­ri­kiert. Auch die west­deut­sche Ab­ge­ho­ben­heit, die sich im »Tum­mel­him­mel der Wol­ken­kuckucke« (vul­go: Feuil­le­ton) be­wegt, bleibt nicht ver­schont. Da ist et­wa die­se Sze­ne ei­ner Dich­te­rin­nen­le­sung zur Wen­de­zeit (die vom Lek­tor Roh­de in Ver­tre­tung für Ju­dith Sche­vo­la vor­ge­nom­men wird). Fast al­le sind sie da: »Os­kar Brock« (der Au­tor des Bu­ches »Die He­rin­ge«), »Jo­chen Pa­bst«, »Da­ni­el Red­ding«, »Wik­tor Hart« und Hans May­er (als »Hans May­er«) – ei­ne wirk­lich ko­mi­sche Be­ge­ben­heit, die von Lo­ri­ot hät­te in­sze­niert wer­den kön­nen. Für den Hand­lungs­ab­lauf ist dies – wie so vie­le der Zwi­schen­spie­le – un­er­heb­lich; es wird le­dig­lich die In­halts­lee­re ei­ner eit­len Pseu­do­kri­tik ge­spie­gelt, die Tell­kamp noch ein paar Mal im Ro­man streift und die in die be­reits er­wähn­ten »Ope­ra­ti­ven Vor­gän­ge« aus 2015 gip­feln.

Chif­frie­run­gen und Am­bi­tio­nen

Spä­te­stens hier muss man von Tell­kamps Chif­frie­run­gen re­den, die noch um­fang­rei­cher sind als im er­sten Ro­man. Faust­re­gel hier: Je ne­ben­säch­li­cher die Fi­gu­ren für den Hand­lungs­rah­men des Ro­mans, de­sto ein­deu­ti­ger sind die Über­ein­stim­mun­gen mit re­al exi­stie­ren­den Per­so­nen (vie­le, aber nicht al­le, sind ver­stor­ben). Am »un­wich­tig­sten« sind dem­zu­fol­ge die­je­ni­gen, die mit ih­rem rea­len Na­men er­schei­nen, was ge­le­gent­lich (war­um auch im­mer) vor­kommt. Das ist ein si­che­res In­diz für ih­re an­ek­do­ti­sche Funk­ti­on in die­sem Ro­man (viel­leicht ei­ne Aus­nah­me). Mit wach­sen­der Ro­man-Be­deu­tung ver­schwim­men die Par­al­le­len mit rea­len Per­so­nen. Ju­dith Sche­vo­la mag man noch min­de­stens teil­wei­se als An­ge­la Krauß iden­ti­fi­zie­ren und bei Bars­a­no spricht vie­les für Hans Mod­row. Aber schon Va­ter und Sohn Esch­sch­lor­aque sind nicht ein­deu­tig zu­zu­wei­sen (das Ver­wandt­schafts­ver­hält­nis kon­stru­iert, wenn man bei die rea­len Per­so­nen rich­tig liegt) und auf Mar­tin und Paul De­l­anot­te pas­sen nicht im­mer die Eti­ket­ten von Tho­mas bzw. Lo­thar de Mai­ziè­re. Bei an­de­ren Per­so­nen, de­ren wirk­li­che Iden­ti­tät je­man­dem, der die Dresd­ner Politik‑, Li­te­ra­tur- und Kul­tur­sze­ne nicht ge­nau kennt, un­be­kannt blei­ben, dürf­te es ähn­lich sein. Schließ­lich sind die tra­gen­den Fi­gu­ren des Ro­mans gänz­lich frei er­fun­den (selbst durch ei­ni­ge Funk­ti­ons­be­zeich­nun­gen ist Me­no Roh­de nicht zu iden­ti­fi­zie­ren). Tell­kamp bricht nur ein­mal mit die­sem Mo­dus, in dem er An­ne Hoff­mann zur Kanz­le­rin nach »Mam­mut« (Hel­mut Kohl) und zur »Mut­ti« macht. Das passt über­haupt nicht in das Kon­zept und stellt es ge­ne­rell in Fra­ge. Wo­bei man sich na­tür­lich nicht am »Who-is-Who« be­tei­li­gen muss; ei­ne Re­cher­che ist bis­wei­len für den Le­ser eher un­be­frie­di­gend und selbst beim Er­folg fragt man sich am En­de nach dem Sinn.

Ein »Schlüs­sel­ro­man« ist das Buch al­so nicht. Als Li­te­ra­tur­be­triebs­sa­ti­re wirkt es zu brav und eher sta­tisch, als Ge­heim­dienst­pos­se zu we­nig aus­ge­ar­bei­tet, als Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung zu in­kon­si­stent. Wenn im zwei­ten Ka­pi­tel (»Die Mau­er«) ein Ich-Er­zäh­ler (ist es Fa­bi­an? – eher un­wahr­schein­lich) in den Un­ter­grund still­ge­leg­ter Bahn­strecken geht und da­bei auf ei­nen al­ten Fern­spre­cher trifft, der ihm, bei Be­zah­lung mit ei­nem Zehn­pfen­nig­stück »Deut­sches Reich« del­phi­haf­te Ora­kel­sprü­che lie­fert, wird es lä­cher­lich.

Da­bei merkt man die Vor­bil­der, die Am­bi­ti­on, den Schlaf, der da aus den Uh­ren her­aus­quel­len soll, mög­lichst ef­fekt­voll als ei­ne in die Ge­gen­wart trans­for­mier­te Mi­schung aus »Zau­ber­berg«, »Treib­haus« und Proust zu in­sze­nie­ren. Hier­zu op­fert Tell­kamp bis­wei­len Fa­bi­ans Er­zähl­stim­me und chan­giert schau­kelnd zwi­schen Ma­nie­ris­mus, Tho­mas Bern­hard, Wis­sen­schafts­pro­sa und Be­richt. Der Le­ser wird über­schüt­tet mit Puz­zle­stein­chen, und ir­gend­wann er­kennt er, dass es Stein­chen von zwei oder drei ver­schie­de­nen Bil­dern sind, die er zu ei­nem gro­ßen, neu­en Bild zu­sam­men­set­zen soll, was na­tur­ge­mäß nicht funk­tio­niert.

Denn Uwe Tell­kamp ist nun ein­mal kein Tho­mas Mann. Er hat mit sei­nem Tr­e­va-Staat kein al­le­go­ri­sches Äqui­va­lent zum »Zauberberg«-Sanatorium ge­schrie­ben. Statt »Fül­le des Wohl­lauts« fin­den sich eher Ka­ko­pho­nien. (Und ja, die Sze­ne mit Hans Hoff­mann im Schnee ist ge­lun­gen – und den­noch ist er kein Hans Cas­torp.) Die 1001-Nacht-Ab­tei­lung ist auch kein »Treib­haus«, weil Me­no Roh­de nichts mit Kee­ten­heuve ge­mein hat. Und der Schlaf, der be­schwö­rend aus den Uh­ren zum Stoff wird, der Ver­such, »die still­ste­hen­de, die ge­stock­te Zeit« her­auf zu be­schwö­ren, schei­tert, er­stickt häu­fig im Le­se­fluss des Le­sers, der ir­gend­wann die­sen Bom­bast nur noch schwan­kend re­zi­piert.

Was bleibt ist der Rück­zug auf die »er­in­ne­rungs­se­li­gen« Pas­sa­gen von Fa­bi­an Hoff­mann, das Er­zäh­len über die Fa­mi­lie. Da ist der Va­ter, Hans Hoff­mann, der »Win­ter­mann«. Ein »For­scher, To­xi­ko­lo­ge, Phi­lo­soph, Schel­ling­le­ser (er sag­te hin und wie­der, wenn er die Ar­beits­zim­mer­tür zu­zog: Ich bin jetzt der Schel­ling­le­ser, bis spä­ter), der Ca­ru­sia­ner und Stern­kund­ler Hans Hoff­mann, der den Schnee­kri­stall und die Gif­te lieb­te«. Die­se sinn­li­chen, sanft er­zähl­ten Evo­ka­tio­nen sind die be­rüh­rend­sten, epi­schen Pas­sa­gen die­ses Ro­mans. Der Va­ter als ei­gen­bröt­le­ri­sche, bis­wei­len durch­aus stren­ge, aber zu­gleich lie­bens­wür­di­ge Licht­ge­stalt, der manch­mal von sei­ner eher ra­tio­na­len Frau Iris (ei­ner In­nen­ar­chi­tek­tin) aus sei­nen ver­sun­ke­nen Wel­ten her­aus­ge­holt wer­den muss. Die Er­zäh­lung, in der Hans Hoff­mann sei­nem Sohn Werk und Wir­ken des Dresd­ner Ma­lers Her­mann Glöck­ner er­klärt, ist schlicht­weg groß­ar­tig. Hier ge­lingt Tell­kamp die Dar­stel­lung der Welt­ab- und zu­gleich Zu­ge­wandt­heit der Fi­gur vor­treff­lich.

Die Zä­sur in der Fa­mi­lie er­eig­ne­te sich am 4. De­zem­ber 1982. Es war Ri­chards 50. Ge­burts­tag (der »Turm« be­ginnt da­mit) – und gleich­zei­tig wur­den Hans und Iris ver­haf­tet; zum er­sten Mal zu­sam­men. Fa­bi­an war nun mit der Zwil­lings­schwe­ster Mu­ri­el al­lei­ne. Hans Hoff­mann galt nicht nur als wi­der­stän­disch, er sym­pa­thi­sier­te auch mit der Idee ei­ner Flucht. Be­le­ge hier­für fand man trotz der Haus­durch­su­chung nicht (die Kin­der wer­den die­se spä­ter ent­decken). Die Fa­mi­lie kommt nie ganz zur Ru­he, im­mer gibt es Ver­haf­tun­gen, Ver­hö­re, Drang­sa­lie­run­gen. Ins­be­son­de­re Mu­ri­el, die ih­ren Va­ter hin­sicht­lich des Wi­der­spruchs­geists noch über­trifft, eckt im­mer wie­der an. Sie wird nach ei­nem gran­di­os er­zähl­ten Vor­fall in der Schu­le, der »ei­ne Se­kun­de der Un­ver­ant­wort­lich­keit oder ei­ner Ver­ant­wor­tung ge­gen­über dem Ge­wis­sen, de­ren Stär­ke und Not­wen­dig­keit« er­zeug­te und bei dem aus­ge­rech­net Fa­bi­an ein­knick­te in den of­fe­nen »Ju­gend­werk­hof« ein­ge­wie­sen (und muss noch froh sein, dass es nicht der »ge­schlos­se­ne« war). Um­so be­dau­er­li­cher, dass der Le­ser sehr we­nig über die Fa­mi­lie in der Nach­wen­de­zeit er­fährt.

Ge­lun­gen dann noch Fa­bi­ans Rück­blen­den aus der Zeit als drit­ter Film­vor­füh­rer im Ura­nia-Ki­no – Haupt­auf­ga­be: Koh­len aus dem Kel­ler ho­len, um die Hei­zung auf­recht zu er­hal­ten. Die Er­zäh­lung über die letz­te Vor­stel­lung 1989 ist von ele­gi­scher Kunst­fer­tig­keit. Na­tür­lich steht die­ses Ki­no für die un­ter­ge­hen­de DDR und wenn man es nicht bes­ser wüss­te, dann könn­te man das fast als ei­ne Art Ver­söh­nung le­sen, ei­ne Art von Frie­den-Schlie­ßen mit dem, was es nun nicht mehr ge­ben wird.

Der Film

Und dann gibt es die­sen Film von An­dre­as Grä­fen­stein, 88 Mi­nu­ten, pünkt­lich zum neu­en Buch, zur be­sten Sen­de­zeit um 20.15 Uhr auf 3sat und spä­ter noch in meh­re­ren Ver­sio­nen in öf­fent­lich-recht­li­chen Me­dia­the­ken. Er heißt »Der Fall Tell­kamp – Streit um die Mei­nungs­frei­heit«. »Der Fall Tell­kamp« al­so. Oder, wie Tell­kamp in »Der Schlaf in den Uh­ren« in ei­ner kur­zen Se­quenz schreibt, der »OV Tel­ra­mund«? Es gibt näm­lich im Ro­man, in Tr­e­va, wei­ter­hin »Ope­ra­ti­ve Vor­gän­ge«. Hier wer­den, un­ter an­de­rem, »Grenz­ver­let­zun­gen« aus­ge­lo­tet, Ab­trün­nig­kei­ten do­ku­men­tiert. Ne­ben dem »OV Bern­stein« (leicht her­aus­zu­fin­den), der we­gen sei­nes En­ga­ge­ments für die »Al­ter­na­ti­ve Par­tei« nicht mehr im deut­schen PEN (seit letz­ter Wo­che viel­leicht »OV Brat­wurst­bu­de«?) Mit­glied sein soll­te und der Au­torin »K. S.« (noch leich­ter), gibt es auch den Vor­gang »OV Tel­ra­mund«, der sich di­rekt auf Tell­kamps Auf­tritt mit Durs Grün­bein be­zieht. In der (fik­ti­ven) Ak­te steht nun, dass sich »der T.« noch im­mer »mit kru­den The­sen« zu Wort mel­de, »den von Rech­ten satt­sam be­kann­ten Op­fer­my­then«. »Un­se­re pro­gres­si­ven Kräf­te«, heißt es dann, »ha­ben da­mals die rich­ti­gen Wor­te ge­fun­den und den rechts­na­tio­na­len Kä­se des T. ent­zau­bert.« Be­son­ders her­vor­ge­tan hät­ten sich hier die »Akademiemitglieder…Genossen Grä­ber (IM ‘He­gel’), Zart­mann (IM ‘Achim’) und die Ge­nos­sin Sitz-Senk­kiel (IM ‘As’)« her­vor­ge­tan. Für den Ge­nos­sen Grä­ber, so heißt es im Ro­man, »wä­re zu über­le­gen, ob [ihm] be­reits die Auf­nah­me in den Pour le mé­ri­te ge­bührt, doch ist, wie Ihr wißt, die Mit­glie­der­zahl des Or­dens be­grenzt und ein Aus­fall nicht ab­zu­se­hen«.

Im Film von Grä­fen­stein kommt der »Ge­nos­se Grä­ber« als An­ti­po­de Tell­kamps zu Wort. Er liest un­ter an­de­rem aus ei­nem Text, in dem ein Buch­händ­ler plötz­lich »rechts« wird, was für je­man­den wie ihn un­ver­ständ­lich sei und weil dies so ist, muss das, was der, der auch als »rechts« gilt, ge­schrie­ben hat, eben schlecht sein. »Grä­ber« kennt von der Li­te­ra­tur­ge­schich­te schein­bar we­nig, aber vor al­lem kennt er in sei­ner »Rü­stung des Recht­ha­bens« (Tell­kamp zu ei­ner an­de­ren Ro­man­fi­gur) kei­ne Zwei­fel und da­für ist er da. (Man fragt sich, ob er nicht PEN-Prä­si­dent wer­den soll­te.) Grä­fen­stein be­fragt noch an­de­re Prot­ago­ni­sten, et­wa den Jour­na­li­sten Mar­tin Macho­wecz oder den Theo­lo­gen und Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Frank Rich­ter, der die Ost-West-Pro­ble­ma­tik Sti­pen­dia­ten ge­gen­über ver­sucht, zu er­klä­ren.

Vor al­lem kommt je­doch Uwe Tell­kamp zu Wort. Man er­fährt, dass er als Wehr­pflich­ti­ger 1989 ei­nen Ein­satz mit schar­fen Waf­fen ab­lehn­te und als Be­fehls­ver­wei­ge­rer ab­ge­führt wur­de. Dann kon­ze­diert er, dass sein im­mer wie­der her­vor­ge­hol­tes Zi­tat aus 2018 von den 95% Un­fug sei. Es sei aus der Ge­sprächs­si­tua­ti­on ent­stan­den. Aber auch Grün­bein hät­te in den zwei Stun­den Un­fug er­zählt und das hät­te kei­ne Rol­le ge­spielt. Tell­kamp stellt die Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land nicht in­fra­ge. Er macht al­ler­dings ei­ne dün­kel­haft vor­ge­tra­ge­ne Deu­tungs­ho­heit aus, haupt­säch­lich aus dem städ­ti­schen, aka­de­mi­schen Mi­lieu, die de­fi­nie­re, wel­che An­sich­ten ge­bo­ten sei­en und wel­che nicht. Ernst­haft ist das min­de­stens in An­sät­zen nicht zu be­strei­ten, wie auch Frank Rich­ter im Film aus­führt.

Tell­kamp ver­weist auf sei­nen um­fang­rei­chen Me­di­en­kon­sum. Sein Den­ken geht da­hin, dass frü­her taz, FAZ oder Süd­deut­sche ih­re je ei­ge­ne »Com­mu­ni­ty« ge­habt hät­ten. In­zwi­schen sei es aber der­art, dass »taz-In­hal­te« auch in der FAZ ste­hen wür­den und Jour­na­li­sten wie Al­ten­bockum oder Koh­ler »win­del­weich« ge­wor­den wä­ren. Dies füh­re zu ei­nem gleich­för­mi­gen Strom in den je­wei­li­gen Me­di­en, der im­mer mehr auf ei­nem »lau­war­men Kon­sens« be­dacht sei. Mo­ni­ka Ma­ron, ei­ne Au­torin, die eben­falls in »Un­gna­de« ge­fal­len ist, be­klagt hin­ge­gen, dass frü­her ih­re Auf­sät­ze in al­len Zei­tun­gen er­schie­nen sei­en, heu­te blie­ben nur noch die Welt und die NZZ (im­mer­hin sind in den letz­ten Jah­ren In­ter­views mit ihr in der FR und der ZEIT er­schie­nen). Dem­nach wä­re Tell­kamps »Community«-Denken noch vor­han­den.

Da­hin­ter steht die Idee der »Blatt­li­nie«, wie es sie tat­säch­lich frü­her gab. Tell­kamp ver­fech­tet sie, da er sich mit un­ter­schied­li­chen Me­di­en in­for­miert und poin­tier­te An­sich­ten le­sen möch­te. Er über­sieht da­bei, dass die mei­sten Re­zi­pi­en­ten we­der Zeit noch Mög­lich­kei­ten ha­ben, meh­re­re »Blatt­li­ni­en« täg­lich zu kon­su­mie­ren. Da­her ver­su­chen gro­ße Leit­me­di­en im­mer häu­fi­ger in­ner­halb ih­rer Re­dak­tio­nen un­ter­schied­li­che Po­si­tio­nen ab­zu­bil­den, was durch­aus da­zu füh­ren kann, dass vie­le Me­di­en ir­gend­wie ähn­lich be­rich­ten bzw. kom­men­tie­ren. Der Un­ter­schied be­steht dann in der De­fi­ni­ti­on der je­wei­li­gen Am­bi­gui­täts­to­le­ranz. Wie breit wird der Kor­ri­dor bei­spiels­wei­se im po­li­ti­schen, aber auch im ge­sell­schaft­li­chen Mei­nungs­spek­trum ge­hal­ten? Ei­ne »Blatt­li­nie« er­klärt sich dann nicht mehr in der Zu­stim­mung zu be­stimm­ten Denk- und Er­klä­rungs­mu­stern, son­dern in der Ab­gren­zung, d. h. Stim­men aus be­stimm­ten Spek­tren wer­den nicht mehr pu­bli­ziert.

Uwe Tell­kamp re­det viel in die­sem Film und er kennt sei­ne Schwä­chen: Es kom­me dar­auf an, wie man et­was sagt, so der selbst­kri­ti­sche Blick auf sein zu­wei­len cho­le­ri­sches Tem­pe­ra­ment. Und dann: Er las­se sich an der Kä­se­the­ke von zu­ge­zo­ge­nen West­deut­schen nun mal nicht be­leh­ren, was mo­ra­lisch gut oder schlecht sei. Eher schwach wir­ken die Sze­nen mit ihm und der Buch­händ­le­rin Da­gen, die ur­plötz­lich zur Pa­ria ge­wor­den ist. Die Be­geg­nun­gen und Ge­sprä­che wir­ken ge­stellt. Tell­kamp kri­ti­siert sanft die Be­zeich­nung »Exil« für Da­gens Buch­rei­he. Dann liest er aus sei­nem Buch »Das Ate­lier« und bricht im Trä­nen aus; ei­ne Er­klä­rung hier­zu bleibt aus. Aber es geht in die­sem Film eben auch we­ni­ger um Li­te­ra­tur.

Grä­fen­stein be­müht sich um Aus­ge­wo­gen­heit. Der ehe­ma­li­ge Jour­na­list Franz Som­mer­feld be­zeich­net ihn gar – ein biss­chen über­trie­ben – als ei­ne »Deutsch­stun­de«. Den­noch mu­tet die Ver­öf­fent­li­chung des Films we­ni­ge Ta­ge nach dem of­fi­zi­el­len Er­schei­nen des Ro­mans (die Fah­nen wur­den vom Suhr­kamp-Ver­lag An­fang Mai an die Pres­se ver­schickt) merk­wür­dig an. War­um hat man nicht ge­war­tet, bis der Ro­man pu­bli­ziert war? Und war­um lässt man Uwe Tell­kamp von die­sem Ro­man der­art er­zäh­len, dass man nun, nach des­sen Lek­tü­re, den Ein­druck hat, man ha­be ein in vie­lem ganz an­de­res Buch ge­le­sen?

Dem Le­ser bleibt die Hoff­nung. Viel­leicht in »Ar­chi­pe­la­gus II«?

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Der Film hat ei­ne un­ver­mu­tet iro­ni­sche Funk­ti­on: er be­stä­tigt die Exi­stenz von Tr­e­va, bzw. die Über­flüs­sig­keit der Chif­fre. For­mal ist der Ro­man ein we­nig graus­lich; ein hi­sto­risch-zeit­ge­nös­si­scher Ro­man konn­te es nicht wer­den, aber ein mi­lieu-zen­trier­tes Sit­ten­ge­mäl­de ist es auch nicht, weil die Sa­ti­re die Fi­gu­ren zer­setzt. Wenn es ei­ne »poe­ti­sche Wahr­heit« in­ner­halb des Ge­sell­schafts­ro­mans gibt, ver­trägt er die Sa­ti­re schlecht bis gar nicht. Wie funk­tio­niert das bei Koep­pen, bes­ser, aber im­mer noch ei­gent­lich schlecht?! – Ich krie­ge die­se Stil­ebe­nen ein­fach nicht über­ein­an­der, oder ne­ben­ein­an­der. Sa­ti­re will »Rea­li­tät los­wer­den«, und poe­ti­sche Pro­sa will Rea­li­tät spür­bar und (wie­der­holt) er­fahr­bar ma­chen. Wo­her weiß der Le­ser, was er zu tun hat?! Das ist so auf­re­gend wie ein Blick in die Wasch­ma­schi­ne...
    Den­noch ist die­se Kar­to­gra­phie ir­gend­wie rüh­rend. Die Zeit (der sinn­haf­ten Ge­schich­te) schläft in den Uh­ren, und das In­te­rim wird wäh­rend­des­sen mit staats­bil­den­den Ri­va­li­tä­ten ge­füllt. Dass die Haupt­strom­me­di­en Nar­ra­ti­ve er­zeu­gen, ist ein­fach nur kor­rekt. Das ist die nor­ma­le Art der Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on als Mit­tel zur Vor­be­rei­tung von Po­li­tik. Das kann (sie­he Au­gust 2015) schon mal rich­tig schief ge­hen. Good News: kei­ner ist dar­an schuld. Das ist so was von Ung­rie­chisch, wür­de Nietz­sche sa­gen, dass man es auf kei­nen Fall »tra­gisch« nen­nen kann.

  2. Koep­pens »Treib­haus« (und auch die an­de­ren Bü­cher der »Tri­lo­gie des Schei­terns«) sind nicht als Sa­ti­re oder Gro­tes­ke aus­ge­legt. Sie zei­gen eher exi­sten­tia­li­stisch den Ein­zel­nen in ei­nem eher als ab­strus oder gar be­droh­lich emp­fun­de­nen So­zio­top ge­nannt »Ge­sell­schaft«. Kee­ten­heuve hat sei­ne Idea­le, sei­ne idea­li­sti­schen Vor­stel­lun­gen, die er in die Po­li­tik um­set­zen will. Er glaubt an die Pro­gram­ma­tik der Par­tei (es kann nur die SPD ge­meint sein), die je­doch ja­nus­köp­fig nach au­ßen op­po­niert, aber längst ih­ren Frie­den mit der Auf­rü­stungs­fra­ge ge­schlos­sen hat und da­für Zu­gang zu in­for­mel­ler Macht er­hält. Er ist der klas­si­sche Au­ßen­sei­ter, was sich auch in sei­nen se­xu­el­len Vor­lie­ben zeigt (für die da­ma­li­ge Zeit war er da­mit mo­ra­lisch min­de­stens zwie­späl­tig).

    Ich ha­be Koep­pen nicht nur ins Spiel be­bracht, weil er ein­mal er­wähnt wird, son­dern auch auf­grund des Ver­suchs von Tell­kamp, ei­ne Par­al­lel­welt zwi­schen »Macht« und »Kunst« auf­zu­zei­gen (Kee­ten­heuve liebt Ly­rik).

  3. Ganz kurz
    Ich ha­be die­ses buch in aĺ l sei­ner viel­ge­stal­tig­keit mit gro­ßem Ver­gnü­gen ge­le­sen ob­wohl ich schwe­re kost fürch­te­te. Mei­ne lieb­lings­epi­so­de ist die schil­de­rung der letz­ten ki­no­vor­stel­lung. Aber auch die De­bat­ten um Li­te­ra­tur und de­ren po­li­ti­sche und all­ge­mei­ne Funk­ti­on ha­ben ich ge­fes­selt. Au­sser­dem ha­be ich mich zeim­lich oft amü­siert. Die fühl­ba­ren Sprün­ge ha­ben mich ei­gen­ar­ti­ger­wei­se gar nicht ge­stört. Ich hät­te herrn tell­kamp ger­ne et­was net­tes ge­schrie­ben hät­te ich die­se mög­lich­keit.
    Ich möch­te ih­nen im üb­ri­gen mei­ne hoch­ach­tung für die m.e. aus­ge­zeich­ne­te re­zen­si­on aus­spre­chen und grü­ße herz­lich aus dem Ruhr­ge­biet !