Für einen kurzen Moment schien die Welt der deutschen Literatur in Ordnung. Es war ein Oktobertag im Jahr 2008 und Uwe Tellkamp war mit dem damals noch recht neu konzipierten »Deutschen Buchpreis« für seinen Roman »Der Turm« ausgezeichnet worden. Die Lobe überschlugen sich und viele Kritiker waren sich sicher, endlich DEN Wenderoman vor sich zu haben. Auch die eher seichte Verfilmung vier Jahre später, die einige Zeit lang zu den entsprechenden Gedenkdaten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wiederholt wurde, konnte den Ruf des Romans nicht wesentlich erschüttern.
Am Schluss des Romans war ein Doppelpunkt – der Augenblick, als Uhren schlugen, der 9. November, und Christian Hoffmann, Sohn des Arztes Richard Hoffmann, zur Zeit der Wende Wehrdienstpflichtiger, näherte sich mit mulmigen Gefühl den Demonstranten. Kommt der Befehl, auf seine Landsleute zu schießen? Wie geht es weiter? Was geschieht mit den Hoffmanns, der Oberschicht in der DDR?
Die Ungeduld wuchs; Ankündigungen kündigten Verschiebungen und neue Ankündigungen an. 2015 war das Land mit der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigt. Uwe Tellkamp war mit der Politik der Kanzlerin nicht einverstanden. Er sagte dies auch. Im Gespräch mit Durs Grünbein im Jahr 2018. Der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich per Tweet von seinem Autor, was ein merkwürdiges Verständnis zeigt.
Von nun an wurde die Verzögerung des neuen Romans von Gerüchten begleitet. Genießt Tellkamp noch die Unterstützung des Verlags? Es erschienen Ausschnitte aus seinem Roman; Arbeitstext »Lava«. Tellkamp galt jetzt als »rechts« – weitgehend begründet auf einer Aussage aus der Grünbein-Diskussion und seiner Freundschaft zur Buchhändlerin Susanne Dagen, die seit ihrer Publikationsreihe »Exil« und diversen Veranstaltungen mit dem Titel »Mit Rechten lesen« zur Paria des Dresdner Kulturbetriebs – und darüber hinaus – wurde.
2020 riss der Geduldsfaden des Feuilletons. Man befragte sogenannte Intellektuelle, was sie von Tellkamps neuem Roman hielten. Wohl gemerkt, der Roman existierte nur in der Werkstatt des Autors, vielleicht teilweise bereits im Lektorat des Verlags. Niemand wusste Genaues. Aber das hielt einige nicht davon ab, fertige Urteile zu präsentieren. Aleida Assmann etwa, die festzustellen glaubte, dass aus dem einst »Aufrechten« ein »Rechter« geworden sei. Bar jeder Kenntnis des Manuskriptes gab sie Ratschläge an den designierten Verlag: »Wenn er [Tellkamp] tut, was der Titel des neuen Romans verspricht, nämlich glühende Lava über das Land zu gießen, dann wird man ihn daran nicht hindern können. Anders als in der DDR herrscht keine Zensur mehr, Kunst- und Meinungsfreiheit sind in der Demokratie ein Bürgerrecht. Man muss sich allerdings fragen, durch welchen Vulkan, sprich Verlag, diese Lava sich ergießen soll.« Ihr Furor steigerte sich: »Zu einem Zeitpunkt, wo sich in der Gesellschaft Hass, Antisemitismus und Gewalt mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten, muss der Suhrkamp-Verlag keinen Brandbeschleuniger auf den Markt werfen.« Wie kann man sich noch mehr demontieren?
Das Futter wird serviert
Jetzt liegt er vor, der neue Roman mit rund 900 Seiten. »Der Schlaf in den Uhren« heißt er, nicht mehr »Lava«. Auf dem Schmutztitel steht »Archipelagus I«. Später lernt der Leser, dass »Archipelagus« nicht nur ein Gedicht von Hölderlin und seine Schöpfung eines fiktives Landes darstellt, sondern auch als Bezeichnung für die DDR gebräuchlich gewesen sein soll. Als Zeitfenster für den Roman werden »August 2015« und »Sommer 1989 – Januar 1990« angegeben. Daneben wird es zahlreiche Rückblenden geben. Die Kapitel heißen »Vigilien«; die erste »Vigilie« umfasst rund 800 der insgesamt rund 900 Seiten und trägt den Titel »Nemo«. Der Leser des »Turm« erinnert sich, dass »Nemo« der Spitzname von Christian Hoffmann während seiner Soldatenzeit war. Nun ist »Nemo« eine geheimnisvolle Figur im Roman, ein Strippenzieher (oder Schlimmeres), aber es kann unmöglich Christian Hoffmann sein.
Schon auf den ersten Seiten Lektüre des neuen Romans reiben sich diejenigen, die es schon immer gewusst haben, die Hände. Etwa wenn dort vom »Abweichler« die Rede ist: »Der Abweichler wird zum Abweichler gemacht: lag er längere Zeit unbehelligt im warmen Strom der applaudierten Meinungen, so genügt ein Umstand, ein Kontakt mit einer anderen Wirklichkeit, um von einem Erweckungsschock aus dem Hauptstrom geschleudert zu werden und sich in kälteren, tieferen, deutlich nahrungsärmeren Gewässern wiederzufinden. Der Abweichler ist nun auf Abstand zu den applaudierten Meinungen und ihren Geburtskanälen, den sogenannten Hauptstrommedien, und innerhalb der Hauptstrommedien zu den Statthaltern des Hauptstroms. Sie lassen die abweichende Position nicht auf der sogenannten Augenhöhe gelten, sondern strafen sie mit sozialer Verachtung, was den Abweichler in die Position des Grüblers und psychisch Herausgeforderten versetzt.«
Diese Zeilen finden sich in einem Absatz mit der Überschrift »Die Karte der Seeminen«. Sie passen in diesen Abschnitt eher nicht hinein, wirken deplatziert (wie so einiges in diesem Buch, aber gemach). Nicht nur mit der Beschreibung der »Seeminen« in der Topographie im fiktiven Staat Treva (wie nahezu alles in diesem Buch Chiffre und Antichiffre zugleich), unterteilt in »Argo« und »Brenta«, bekommt der Leser rasch Zuordnungsprobleme. Da gibt es beispielsweise eine »Kohleninsel« (West und Ost), ein Ort namens »Spindel«, der »Palazzo Missunde« oder das »Literaturkombinat« mit seinen zahlreichen Abteilungen. Zur Unterstützung werden kartenähnlichen Zeichnungen auf den Buchdeckelinnenseiten angeboten, die aber eher verwirren als klären. Rhein und der »Elbische Fluss« liegen verdächtig nah beieinander, »Argo« liegt am Hafen, »Brenta« in einem Sumpfgebiet westlich von »Ostrom« (Dresden). Der erste Ratschlag: Sich diese Zeichnungen nicht anschauen, in ihnen nichts finden wollen.
Operativer Vorgang »Unio« und die »Aufgabe im Grunde«
Treva ist, so die Legende, nach dem erfolgreich umgesetzten »Komplex ‘Wende’ « durch den »Operativen Vorgang ‘Unio’ « entstanden. Wird da etwa das wiedervereinigte Deutschland und deren Institutionen mit der DDR gleichgesetzt? Oder gar »Geschichtsrevisionismus« betrieben? »Fiktion ist eine eigene Form von Wirklichkeit«, heißt es einmal im Roman. Eigentlich sollte dies eine Binsenweisheit sein, aber in der heutigen Zeit, in der Allegorien mit Allegoresen verwechselt werden (wozu der Roman mit seinen überbordenden und überflüssigen Chiffrierungen leider einlädt) und in dem fiktive Konstruktionen einem fortlaufenden Realitätscheck unterzogen werden, scheint dies immer mehr in Vergessenheit zu geraten. Die Idiosynkrasien der Kritiker passen sich ihren außerliterarisch gebildeten (Vor-)Urteilen an; sie freuen sich wie Gärtner, die endlich das Unkraut identifiziert haben und aus dem Boden zupfen dürfen. Schließlich sollen ja tunlichst auch in fiktionalen Werken nur noch einwandfreie, »woke« Formulierungen verwendet werden. Da gilt irgendwann alles als veritable Verletzung des common sense. Der Befund selber, der vom Erzähler festgestellte Verlust der (diskursiven) Augenhöhe, wird spassigerweise durch so manche Erregung in der Rezeption des Romans nahezu bestätigt.
Dabei gibt es ja durchaus literarische Einwände zu diesem Buch, und dies nicht zu wenig. Da sind vor allem die eingestreuten, tagebuchartigen Passagen aus dem August 2015 über die »Tausendundeinenachtabteilung«, einer neuzeitlichen Mischung aus Nachrichtendienst, konspirativ agierenden Denkfabriken mit ihren Medienabteilungen und entsprechendem Agenda-Setting. Sie arbeiten an der mit der diffusen Vokabel bedachten (und nie exakt definierten) sogenannten »Aufgabe im Grunde« und ist dafür zuständig, »die Sicherheit auf dem Gebiet von Wort und Schrift zu gewährleisten, wir nennen es Narrative oder ‘die Erzählungen’. Es gibt den ‘Eingang’ in der Trevischen Nachrichtenagentur, hier fluten die Nachrichten an, werden sortiert und weitergegeben, analysiert, komprimiert, auf allen Ebenen der 1001 werden Vorlagen erstellt, Operative Vorgänge ausgearbeitet, Dossiers angelegt, alles trägt zur ‘Lage’ bei, die von Kurieren oder über sichere Leitungen direkt ins Vemini [Verteidigungsministerium] weitergegeben wird, wo die wechselnden Anteile der ‘Lage’ wiederum analysiert werden, um, schließlich, im ‘Ausgang’ in Handlungen zu münden.« Schließlich findet alles Einlass in die »Hauptmedien« (mit ihren holprigen Chiffrierungen – wie »Südtrevische«, »Wahrheit« [»Der Spiegel«] oder die »TRAZ«). Die im Roman portraitierten Medienzaren (allen voran der »Große Burstah«) sind jedoch leider eher Karikaturen, was den medienkritischen Passagen die Brisanz nimmt.
Natürlich besitzt die von Tellkamp ausgebreitete Symbiose aus Nachrichtenagentur und Geheimdienst, die Behauptung, dass konspirativ agierende Thinktanks irgendwie die öffentliche Meinungen erzeugen und kanalisieren, eine gewisse politische Frivolität, insbesondere wenn man Treva mit Deutschland gleichsetzt. Aber alleine die Bezeichnung der Institution als Tausendundeinenachtabteilung lässt eine satirische Absicht erkennen, deren literarische Auskleidung ästhetisch allerdings eher misslungen ist, weil Tellkamp sich nicht entscheiden kann, dieses ganze Wortgeklapper mit Stasi-Begriffen wie »Hauptverwaltung Aufklärung« als Humoreske oder Dystopie zu erzählen.
Konrad Adenauer und Herbert Wehner
Von einer Verunglimpfung des real existierenden Deutschlands und seiner demokratischen Institutionen ist das ein gutes Stück entfernt. Dies zur Beruhigung all derjenigen, die sich plötzlich und unerwartet als Verteidiger einer Nation, die sie vorher mehr oder weniger als überholt betrachtet haben, gerieren. Tellkamp beschreibt mit Treva ein Konglomerat aus »Apparate[n], Strukturen, der Machtkomplex, dies Gemenge aus Wünschen, Absprachen, Vorteilsstreben, Intrigen, Sacharbeit, Entscheidungsfindung, Hinterzimmerkungeleien und Einflußnahmen, hier war Administration und durchaus nicht verborgene Entscheidung, da gab es vielbetretene und gut ausgeleuchtete Pfade zwischen Exekutive und Legislative; rätselhaft war, wodurch die Macht verändert wurde, die Macht hinter der Macht also, das trübe und schlammschläfrige Auge, Fraktionskollegen, Mitarbeiter, Gegner, der Tisch, auf dem offen zu liegen scheint, was die Macht will, nur man selbst erkennt es nicht.« Wer das nicht aushalten kann, wer an Formulierungen wie »Macht hinter der Macht« Anstoß nimmt, sollte in Zukunft vielleicht besser nur noch Lamby-Filme schauen.
Machtdemonstrationen in subtiler Form findet der kauzige Erzähler unter anderem bei Konrad Adenauer im Gespräch von 1965 mit Günter Gaus (nebst Ausflügen in den rheinischen Kapitalismus der 1950er/60er Jahre) und in der (Spiel-)Szene im Film »Wehner« von Heinrich Breloer, in dem der Einstellungsvorgang Karl Wienands zum Parlamentarischen Geschäftsführer gezeigt wird. Für ihn sind dies faszinierende Einblicke in das »Märchenreich am Rhein«. Wolfgang Koeppen empfand dies in seinem Roman »Das Treibhaus« von 1953 weniger märchenhaft. Der Bonner Politikbetrieb der 1950er Jahre wurde als Mühle beschrieben, in der Politiker abgeschottet von der Wirklichkeit ihren machtpolitischen Spielchen nachgingen. Die Hauptfigur Keetenheuve, Pazifist, Idealist, Sozialdemokrat und lyrikaffin, musste mit seinen politischen Wertvorstellungen fast zwangsweise scheitern. Man erinnere sich jedoch, dass nach Erscheinen Koeppens Roman als Zerrbild der noch jungen Demokratie gesehen und weitgehend abgelehnt wurde, was den Autor verlanlasste festzustellen, dass sein Text (wie alle Prosa) eine eigene, poetische Wahrheit habe. Und auch wenn aus heutiger Sicht Keetenheuves Vorbehalte gegenüber der Adenauer’schen Politik mehr oder weniger übertrieben erscheinen, schmälert dies in keinem Fall den hohen literarischen Wert des Romans, der jenseits der zeithistorischen Implikationen und einstigen Deutungsmuster liegt.
Tellkamp kontrastiert seine Eindrücke von Macht und Machtausübung im letzten Teil des Romans mit einer Farce. Ein Erzähler (ist es wieder Fabian?) wird aufgrund seiner besonderen Rechercheleistungen in Bezug auf eine Romanstelle bei Judith Schevola vom »Vati« nach Wandlitz als was-auch-immer beordert. Man bekommt nun einen detaillierten Einblick in die Banalität dieser Nomenklatura, die sich unter anderem darin zeigt, unterschiedliche Rezepte von Düngerbrühen anzurühren, um die längste Gurke zu züchten, größere Erträge bei der »Buschbohne ‘Fadenloses Konservenwunder’ « oder der »Stangenbohne ‘Hochgenuß’ « zu erzielen. Dies alles nur, um die Ernte danach wegzuwerfen (wehe, das Personal »bediente« sich daran), weil das Essen eh fertig zubereitet aus Berlin geliefert wurde. Das ist bei aller erzählerischen Angestrengtheit stellenweise wirklich komisch.
Versuch einer Inhaltsangabe
Worum geht es eigentlich in diesem Roman? Zentralfigur und (sozusagen) hauptamtlicher Ich-Erzähler ist Fabian Hoffmann, der Sohn von Richards Bruder, Hans Hoffmann, Jahrgang 1968, »Filmvorführer, Dissident, Angehöriger der Novalisklasse der Kohleninsel« und Chronist in der »Tausendundeinenachtabteilung«. Er soll eine Festschrift zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung verfassen. Die erste Fassung hat er mit Datum 02.8.2015 fertiggestellt. Sie geht nun mit Rohrpost (später wird man erfahren, dass in Treva die Kommunikation innerhalb der Behörden aufgrund von Abhör- und Sabotagegefahr grundsätzlich nicht mehr mit elektronischen Medien erfolgt; Schreibmaschinen sind wieder in Gebrauch) an die entsprechende Genehmigungsstelle. Über die Schrift selber erfährt der Leser direkt nichts. Er wird stattdessen Zeuge eines intermittierenden Erinnerungsstroms des Ich-Erzählers (er sei, so heißt es einmal, »erinnerungssüchtig«) von seiner Jugend bis zum Schwerpunkt Sommer 1989 bis Januar 1990, der immer wieder mit Eindrücken vom August 2015 (Ende: 31.8.) vermischt wird. Diese Ebenen werden auf den ersten rund 800 Seiten neben- bzw. untereinander gestellt und bisweilen von ausufernden Exkursen über Nachtfalter, Amseln, die »Wissenschaft vom Nassrasieren«, den Run auf einen Neudruck von Thomas Manns »Zauberberg« in der DDR, die Herstellung von Zwangsjacken aus Segeltuch, der trevischen Talkshow-Szene mit den »Drei Schwestern« oder Ausführungen zu Saugnäpfen für Badezimmerfliesen unterbrochen, gestört oder, neutraler, ergänzt wird.
Das eigentliche, fiktive Personal des Romans ist aus dem »Turm« bekannt. Dennoch ist der Leser dankbar, das Lesezeichen, welches der Verlag seinerzeit dem Roman beigelegt hatte und auf dem die Personen und deren Wohnrefugien verzeichnet waren (»Tausendaugenhaus«, »Fagott«), zur Hand zu haben. Es beschleunigt die Erinnerung. Im »Turm« stand die Familie des Arztes Richard Hoffmann (und am Ende dessen Sohn Christian) im Mittelpunkt. Christian ist inzwischen Landarzt geworden, geht jedoch voll in humanitären Projekten wie etwa der Flüchtlingshilfe auf; sein Bruder Robert, weltweit anerkannter plastischer Chirurg und Multimillionär (was bei seiner Scheidung zu Verwerfungen führt), sponsort seine Klinik.
Aber in »Schlaf in den Uhren« geht es um Fabian Hoffmann. So finden sich etliche Binnenerzählungen aus Fabians Sicht aus der Wendezeit, wobei zwei die Schilderung zweier Ereignisse herausstechen. Zum einen rund um die Botschaftsbesetzung 1989 und dann die Stasi-Erstürmung in Dresden. Immer ist Fabian Hoffmann irgendwie dabei (in Prag mit seiner Schwester Muriel). Später die Treffen zwischen mit Oppositionellen und SED- respektive PDS-Politikern in und um Dresden und die Erzählungen der verzweifelten Versuche der Funktionäre, den Untergang des Staates zu verhindern, Lebenslügen zu kaschieren und gleichzeitig ihre Haut zu retten. Betonköpfe und Wendehälse beim Zappeln. Gleichzeitig das wachsame Schauen der Oppositionellen, wohin die Macht im neuen Land gehen wird. Darunter auch Anne Hoffmann, einstige Krankenschwester, die Frau von Richard Hoffmann, die sich früh auf die Seite der Demonstrierer gestellt hatte (siehe »Turm«) und nun mit an runden oder sonstwie geformten Tischen sitzt. Wem wird sie sich anschließen? Der eher arrogant auftretenden, sich neu formierten Sozialdemokratie (dessen Gründer jäh abstürzen wird)? Dem Demokratischen Aufbruch? Oder dem Neuen Forum? Wird »Mammut« die Wahl gewinnen? Oder die Sozialdemokratie? Hier werden Weichen gestellt – einmal falsch abgebogen und die Chance, die ein solches Interregnum bietet, ist dahin.
Dritte-Weg-Verfechter und die Kulturszene
Natürlich erscheinen auch die sattsam bekannten Dritte-Weg-Verfechter (man erkennt sie sofort; keine Sorge) mit ihren Memoranden und Aufrufen, Diskussionsbeiträgen, neu gebastelten Denkschulen (einer »Karx«-Philosophie etwa; eine Mischung aus Karl Marx und Immanuel Kant) und den Treffen bei »Tee, geschälten Möhren und Homer« (dieser wird dann, so der Bericht, »seitenlang« im Original zitiert). Sie wollen »das Parteivermögen schützen« und jammern bar jeder Kenntnis derjenigen, für die sie glauben, ihre Stimme erheben zu müssen, das »unser Land« preisgegeben würde. Das »Neue Deutschland« bleibt zunächst ihr einziges Medium; sie verklären es zur »Festung der Aufrechten«. Sie merken nicht, dass sie längst in die Rumpelkammer der Geschichte gehören. Und einige haben es immer noch nicht bemerkt.
Parallel dazu finden sich wie schon im »Turm« ausführlich die Intrigen und Rankünen im Kulturbetrieb. Leider, möchte man sagen. Hier ist der Lektor und Kulturfunktionär Meno Rohde (geb. 1940; Anne Hoffmanns Bruder) der Dreh- und Angelpunkt. Dessen Welt- und Politikfremdheit passte schon nicht in die DDR – in die Wendezeit und danach erst recht nicht. Er hatte sich eingerichtet im Mangelstaat, in dem Papierknappheit als Ausrede für Nichtpublikationen galt und Autoren auf seine Anweisung hin regimekritische Absätze in ihren Büchern unterbringen sollten, damit die Zensur diese herausstreichen konnte und anderes, weniger offensichtliches, stehenblieb. Seine Lektorate sind bei den Autoren gefürchtet; er stört sich mit all seiner Emphase über ein Wort wie »hundeelend« in einem Manuskript und fragt die Autorin, welchen Hund sie meine. Mit den um ihn herum sich neu konstituierenden Verlagswelten kommt er nicht klar; die erhofften Schubladenfunde bei den Autoren nach der Wende bleiben aus. Rohde beobachtet mehr als er gestaltet, obwohl er Funktionen erhält. Er beklagt, dass aus der Leserschaft eine Kundschaft wird. Tellkamp gelingt es nicht, diese Figur, die schon im »Turm« mit seinen Tagebucheinträgen eher blass blieb, zum Leben zu erwecken; Rohdes Brillanz etwa, die »Treue zur Sache«, bleibt Behauptung. Er wirkt wie eine Mischung aus Mr. Spock und Wachspuppe; am Ende unfähig, eine Reise mit dem Rollkoffer bis zum Zielpunkt auszuführen.
Die zweite Genre-Hauptfigur ist die Schriftstellerin Judith Schevola, ein politisierendes Irrlicht, Sozialismus- und Kapitalismushasserin in einem. Auch sie bleibt trotz ihrer zeitweiligen Ausraster seltsam spröde. Schließlich fährt sie nach Klagenfurt und veröffentlicht ihren Roman nicht im »Hermes-Verlag«, sondern bei »Munderloh«. Meno Rohde, ihr Lektor, ist fassungslos ob dieses Verrats und man erfährt nicht, ob die Vokabel »hundeelend« im anderen Verlag angenommen wurde oder nicht.
Aber nicht nur die Literaturszene rund um den »Hermes«-Verlag wird karikiert. Auch die westdeutsche Abgehobenheit, die sich im »Tummelhimmel der Wolkenkuckucke« (vulgo: Feuilleton) bewegt, bleibt nicht verschont. Da ist etwa diese Szene einer Dichterinnenlesung zur Wendezeit (die vom Lektor Rohde in Vertretung für Judith Schevola vorgenommen wird). Fast alle sind sie da: »Oskar Brock« (der Autor des Buches »Die Heringe«), »Jochen Pabst«, »Daniel Redding«, »Wiktor Hart« und Hans Mayer (als »Hans Mayer«) – eine wirklich komische Begebenheit, die von Loriot hätte inszeniert werden können. Für den Handlungsablauf ist dies – wie so viele der Zwischenspiele – unerheblich; es wird lediglich die Inhaltsleere einer eitlen Pseudokritik gespiegelt, die Tellkamp noch ein paar Mal im Roman streift und die in die bereits erwähnten »Operativen Vorgänge« aus 2015 gipfeln.
Chiffrierungen und Ambitionen
Spätestens hier muss man von Tellkamps Chiffrierungen reden, die noch umfangreicher sind als im ersten Roman. Faustregel hier: Je nebensächlicher die Figuren für den Handlungsrahmen des Romans, desto eindeutiger sind die Übereinstimmungen mit real existierenden Personen (viele, aber nicht alle, sind verstorben). Am »unwichtigsten« sind demzufolge diejenigen, die mit ihrem realen Namen erscheinen, was gelegentlich (warum auch immer) vorkommt. Das ist ein sicheres Indiz für ihre anekdotische Funktion in diesem Roman (vielleicht eine Ausnahme). Mit wachsender Roman-Bedeutung verschwimmen die Parallelen mit realen Personen. Judith Schevola mag man noch mindestens teilweise als Angela Krauß identifizieren und bei Barsano spricht vieles für Hans Modrow. Aber schon Vater und Sohn Eschschloraque sind nicht eindeutig zuzuweisen (das Verwandtschaftsverhältnis konstruiert, wenn man bei die realen Personen richtig liegt) und auf Martin und Paul Delanotte passen nicht immer die Etiketten von Thomas bzw. Lothar de Maizière. Bei anderen Personen, deren wirkliche Identität jemandem, der die Dresdner Politik‑, Literatur- und Kulturszene nicht genau kennt, unbekannt bleiben, dürfte es ähnlich sein. Schließlich sind die tragenden Figuren des Romans gänzlich frei erfunden (selbst durch einige Funktionsbezeichnungen ist Meno Rohde nicht zu identifizieren). Tellkamp bricht nur einmal mit diesem Modus, in dem er Anne Hoffmann zur Kanzlerin nach »Mammut« (Helmut Kohl) und zur »Mutti« macht. Das passt überhaupt nicht in das Konzept und stellt es generell in Frage. Wobei man sich natürlich nicht am »Who-is-Who« beteiligen muss; eine Recherche ist bisweilen für den Leser eher unbefriedigend und selbst beim Erfolg fragt man sich am Ende nach dem Sinn.
Ein »Schlüsselroman« ist das Buch also nicht. Als Literaturbetriebssatire wirkt es zu brav und eher statisch, als Geheimdienstposse zu wenig ausgearbeitet, als Verschwörungserzählung zu inkonsistent. Wenn im zweiten Kapitel (»Die Mauer«) ein Ich-Erzähler (ist es Fabian? – eher unwahrscheinlich) in den Untergrund stillgelegter Bahnstrecken geht und dabei auf einen alten Fernsprecher trifft, der ihm, bei Bezahlung mit einem Zehnpfennigstück »Deutsches Reich« delphihafte Orakelsprüche liefert, wird es lächerlich.
Dabei merkt man die Vorbilder, die Ambition, den Schlaf, der da aus den Uhren herausquellen soll, möglichst effektvoll als eine in die Gegenwart transformierte Mischung aus »Zauberberg«, »Treibhaus« und Proust zu inszenieren. Hierzu opfert Tellkamp bisweilen Fabians Erzählstimme und changiert schaukelnd zwischen Manierismus, Thomas Bernhard, Wissenschaftsprosa und Bericht. Der Leser wird überschüttet mit Puzzlesteinchen, und irgendwann erkennt er, dass es Steinchen von zwei oder drei verschiedenen Bildern sind, die er zu einem großen, neuen Bild zusammensetzen soll, was naturgemäß nicht funktioniert.
Denn Uwe Tellkamp ist nun einmal kein Thomas Mann. Er hat mit seinem Treva-Staat kein allegorisches Äquivalent zum »Zauberberg«-Sanatorium geschrieben. Statt »Fülle des Wohllauts« finden sich eher Kakophonien. (Und ja, die Szene mit Hans Hoffmann im Schnee ist gelungen – und dennoch ist er kein Hans Castorp.) Die 1001-Nacht-Abteilung ist auch kein »Treibhaus«, weil Meno Rohde nichts mit Keetenheuve gemein hat. Und der Schlaf, der beschwörend aus den Uhren zum Stoff wird, der Versuch, »die stillstehende, die gestockte Zeit« herauf zu beschwören, scheitert, erstickt häufig im Lesefluss des Lesers, der irgendwann diesen Bombast nur noch schwankend rezipiert.
Was bleibt ist der Rückzug auf die »erinnerungsseligen« Passagen von Fabian Hoffmann, das Erzählen über die Familie. Da ist der Vater, Hans Hoffmann, der »Wintermann«. Ein »Forscher, Toxikologe, Philosoph, Schellingleser (er sagte hin und wieder, wenn er die Arbeitszimmertür zuzog: Ich bin jetzt der Schellingleser, bis später), der Carusianer und Sternkundler Hans Hoffmann, der den Schneekristall und die Gifte liebte«. Diese sinnlichen, sanft erzählten Evokationen sind die berührendsten, epischen Passagen dieses Romans. Der Vater als eigenbrötlerische, bisweilen durchaus strenge, aber zugleich liebenswürdige Lichtgestalt, der manchmal von seiner eher rationalen Frau Iris (einer Innenarchitektin) aus seinen versunkenen Welten herausgeholt werden muss. Die Erzählung, in der Hans Hoffmann seinem Sohn Werk und Wirken des Dresdner Malers Hermann Glöckner erklärt, ist schlichtweg großartig. Hier gelingt Tellkamp die Darstellung der Weltab- und zugleich Zugewandtheit der Figur vortrefflich.
Die Zäsur in der Familie ereignete sich am 4. Dezember 1982. Es war Richards 50. Geburtstag (der »Turm« beginnt damit) – und gleichzeitig wurden Hans und Iris verhaftet; zum ersten Mal zusammen. Fabian war nun mit der Zwillingsschwester Muriel alleine. Hans Hoffmann galt nicht nur als widerständisch, er sympathisierte auch mit der Idee einer Flucht. Belege hierfür fand man trotz der Hausdurchsuchung nicht (die Kinder werden diese später entdecken). Die Familie kommt nie ganz zur Ruhe, immer gibt es Verhaftungen, Verhöre, Drangsalierungen. Insbesondere Muriel, die ihren Vater hinsichtlich des Widerspruchsgeists noch übertrifft, eckt immer wieder an. Sie wird nach einem grandios erzählten Vorfall in der Schule, der »eine Sekunde der Unverantwortlichkeit oder einer Verantwortung gegenüber dem Gewissen, deren Stärke und Notwendigkeit« erzeugte und bei dem ausgerechnet Fabian einknickte in den offenen »Jugendwerkhof« eingewiesen (und muss noch froh sein, dass es nicht der »geschlossene« war). Umso bedauerlicher, dass der Leser sehr wenig über die Familie in der Nachwendezeit erfährt.
Gelungen dann noch Fabians Rückblenden aus der Zeit als dritter Filmvorführer im Urania-Kino – Hauptaufgabe: Kohlen aus dem Keller holen, um die Heizung aufrecht zu erhalten. Die Erzählung über die letzte Vorstellung 1989 ist von elegischer Kunstfertigkeit. Natürlich steht dieses Kino für die untergehende DDR und wenn man es nicht besser wüsste, dann könnte man das fast als eine Art Versöhnung lesen, eine Art von Frieden-Schließen mit dem, was es nun nicht mehr geben wird.
Der Film
Und dann gibt es diesen Film von Andreas Gräfenstein, 88 Minuten, pünktlich zum neuen Buch, zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr auf 3sat und später noch in mehreren Versionen in öffentlich-rechtlichen Mediatheken. Er heißt »Der Fall Tellkamp – Streit um die Meinungsfreiheit«. »Der Fall Tellkamp« also. Oder, wie Tellkamp in »Der Schlaf in den Uhren« in einer kurzen Sequenz schreibt, der »OV Telramund«? Es gibt nämlich im Roman, in Treva, weiterhin »Operative Vorgänge«. Hier werden, unter anderem, »Grenzverletzungen« ausgelotet, Abtrünnigkeiten dokumentiert. Neben dem »OV Bernstein« (leicht herauszufinden), der wegen seines Engagements für die »Alternative Partei« nicht mehr im deutschen PEN (seit letzter Woche vielleicht »OV Bratwurstbude«?) Mitglied sein sollte und der Autorin »K. S.« (noch leichter), gibt es auch den Vorgang »OV Telramund«, der sich direkt auf Tellkamps Auftritt mit Durs Grünbein bezieht. In der (fiktiven) Akte steht nun, dass sich »der T.« noch immer »mit kruden Thesen« zu Wort melde, »den von Rechten sattsam bekannten Opfermythen«. »Unsere progressiven Kräfte«, heißt es dann, »haben damals die richtigen Worte gefunden und den rechtsnationalen Käse des T. entzaubert.« Besonders hervorgetan hätten sich hier die »Akademiemitglieder…Genossen Gräber (IM ‘Hegel’), Zartmann (IM ‘Achim’) und die Genossin Sitz-Senkkiel (IM ‘As’)« hervorgetan. Für den Genossen Gräber, so heißt es im Roman, »wäre zu überlegen, ob [ihm] bereits die Aufnahme in den Pour le mérite gebührt, doch ist, wie Ihr wißt, die Mitgliederzahl des Ordens begrenzt und ein Ausfall nicht abzusehen«.
Im Film von Gräfenstein kommt der »Genosse Gräber« als Antipode Tellkamps zu Wort. Er liest unter anderem aus einem Text, in dem ein Buchhändler plötzlich »rechts« wird, was für jemanden wie ihn unverständlich sei und weil dies so ist, muss das, was der, der auch als »rechts« gilt, geschrieben hat, eben schlecht sein. »Gräber« kennt von der Literaturgeschichte scheinbar wenig, aber vor allem kennt er in seiner »Rüstung des Rechthabens« (Tellkamp zu einer anderen Romanfigur) keine Zweifel und dafür ist er da. (Man fragt sich, ob er nicht PEN-Präsident werden sollte.) Gräfenstein befragt noch andere Protagonisten, etwa den Journalisten Martin Machowecz oder den Theologen und Landtagsabgeordneten Frank Richter, der die Ost-West-Problematik Stipendiaten gegenüber versucht, zu erklären.
Vor allem kommt jedoch Uwe Tellkamp zu Wort. Man erfährt, dass er als Wehrpflichtiger 1989 einen Einsatz mit scharfen Waffen ablehnte und als Befehlsverweigerer abgeführt wurde. Dann konzediert er, dass sein immer wieder hervorgeholtes Zitat aus 2018 von den 95% Unfug sei. Es sei aus der Gesprächssituation entstanden. Aber auch Grünbein hätte in den zwei Stunden Unfug erzählt und das hätte keine Rolle gespielt. Tellkamp stellt die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht infrage. Er macht allerdings eine dünkelhaft vorgetragene Deutungshoheit aus, hauptsächlich aus dem städtischen, akademischen Milieu, die definiere, welche Ansichten geboten seien und welche nicht. Ernsthaft ist das mindestens in Ansätzen nicht zu bestreiten, wie auch Frank Richter im Film ausführt.
Tellkamp verweist auf seinen umfangreichen Medienkonsum. Sein Denken geht dahin, dass früher taz, FAZ oder Süddeutsche ihre je eigene »Community« gehabt hätten. Inzwischen sei es aber derart, dass »taz-Inhalte« auch in der FAZ stehen würden und Journalisten wie Altenbockum oder Kohler »windelweich« geworden wären. Dies führe zu einem gleichförmigen Strom in den jeweiligen Medien, der immer mehr auf einem »lauwarmen Konsens« bedacht sei. Monika Maron, eine Autorin, die ebenfalls in »Ungnade« gefallen ist, beklagt hingegen, dass früher ihre Aufsätze in allen Zeitungen erschienen seien, heute blieben nur noch die Welt und die NZZ (immerhin sind in den letzten Jahren Interviews mit ihr in der FR und der ZEIT erschienen). Demnach wäre Tellkamps »Community«-Denken noch vorhanden.
Dahinter steht die Idee der »Blattlinie«, wie es sie tatsächlich früher gab. Tellkamp verfechtet sie, da er sich mit unterschiedlichen Medien informiert und pointierte Ansichten lesen möchte. Er übersieht dabei, dass die meisten Rezipienten weder Zeit noch Möglichkeiten haben, mehrere »Blattlinien« täglich zu konsumieren. Daher versuchen große Leitmedien immer häufiger innerhalb ihrer Redaktionen unterschiedliche Positionen abzubilden, was durchaus dazu führen kann, dass viele Medien irgendwie ähnlich berichten bzw. kommentieren. Der Unterschied besteht dann in der Definition der jeweiligen Ambiguitätstoleranz. Wie breit wird der Korridor beispielsweise im politischen, aber auch im gesellschaftlichen Meinungsspektrum gehalten? Eine »Blattlinie« erklärt sich dann nicht mehr in der Zustimmung zu bestimmten Denk- und Erklärungsmustern, sondern in der Abgrenzung, d. h. Stimmen aus bestimmten Spektren werden nicht mehr publiziert.
Uwe Tellkamp redet viel in diesem Film und er kennt seine Schwächen: Es komme darauf an, wie man etwas sagt, so der selbstkritische Blick auf sein zuweilen cholerisches Temperament. Und dann: Er lasse sich an der Käsetheke von zugezogenen Westdeutschen nun mal nicht belehren, was moralisch gut oder schlecht sei. Eher schwach wirken die Szenen mit ihm und der Buchhändlerin Dagen, die urplötzlich zur Paria geworden ist. Die Begegnungen und Gespräche wirken gestellt. Tellkamp kritisiert sanft die Bezeichnung »Exil« für Dagens Buchreihe. Dann liest er aus seinem Buch »Das Atelier« und bricht im Tränen aus; eine Erklärung hierzu bleibt aus. Aber es geht in diesem Film eben auch weniger um Literatur.
Gräfenstein bemüht sich um Ausgewogenheit. Der ehemalige Journalist Franz Sommerfeld bezeichnet ihn gar – ein bisschen übertrieben – als eine »Deutschstunde«. Dennoch mutet die Veröffentlichung des Films wenige Tage nach dem offiziellen Erscheinen des Romans (die Fahnen wurden vom Suhrkamp-Verlag Anfang Mai an die Presse verschickt) merkwürdig an. Warum hat man nicht gewartet, bis der Roman publiziert war? Und warum lässt man Uwe Tellkamp von diesem Roman derart erzählen, dass man nun, nach dessen Lektüre, den Eindruck hat, man habe ein in vielem ganz anderes Buch gelesen?
Dem Leser bleibt die Hoffnung. Vielleicht in »Archipelagus II«?
Also Flickwerk?
Es ist schon komplizierter.
Der Film hat eine unvermutet ironische Funktion: er bestätigt die Existenz von Treva, bzw. die Überflüssigkeit der Chiffre. Formal ist der Roman ein wenig grauslich; ein historisch-zeitgenössischer Roman konnte es nicht werden, aber ein milieu-zentriertes Sittengemälde ist es auch nicht, weil die Satire die Figuren zersetzt. Wenn es eine »poetische Wahrheit« innerhalb des Gesellschaftsromans gibt, verträgt er die Satire schlecht bis gar nicht. Wie funktioniert das bei Koeppen, besser, aber immer noch eigentlich schlecht?! – Ich kriege diese Stilebenen einfach nicht übereinander, oder nebeneinander. Satire will »Realität loswerden«, und poetische Prosa will Realität spürbar und (wiederholt) erfahrbar machen. Woher weiß der Leser, was er zu tun hat?! Das ist so aufregend wie ein Blick in die Waschmaschine...
Dennoch ist diese Kartographie irgendwie rührend. Die Zeit (der sinnhaften Geschichte) schläft in den Uhren, und das Interim wird währenddessen mit staatsbildenden Rivalitäten gefüllt. Dass die Hauptstrommedien Narrative erzeugen, ist einfach nur korrekt. Das ist die normale Art der Komplexitätsreduktion als Mittel zur Vorbereitung von Politik. Das kann (siehe August 2015) schon mal richtig schief gehen. Good News: keiner ist daran schuld. Das ist so was von Ungriechisch, würde Nietzsche sagen, dass man es auf keinen Fall »tragisch« nennen kann.
Koeppens »Treibhaus« (und auch die anderen Bücher der »Trilogie des Scheiterns«) sind nicht als Satire oder Groteske ausgelegt. Sie zeigen eher existentialistisch den Einzelnen in einem eher als abstrus oder gar bedrohlich empfundenen Soziotop genannt »Gesellschaft«. Keetenheuve hat seine Ideale, seine idealistischen Vorstellungen, die er in die Politik umsetzen will. Er glaubt an die Programmatik der Partei (es kann nur die SPD gemeint sein), die jedoch janusköpfig nach außen opponiert, aber längst ihren Frieden mit der Aufrüstungsfrage geschlossen hat und dafür Zugang zu informeller Macht erhält. Er ist der klassische Außenseiter, was sich auch in seinen sexuellen Vorlieben zeigt (für die damalige Zeit war er damit moralisch mindestens zwiespältig).
Ich habe Koeppen nicht nur ins Spiel bebracht, weil er einmal erwähnt wird, sondern auch aufgrund des Versuchs von Tellkamp, eine Parallelwelt zwischen »Macht« und »Kunst« aufzuzeigen (Keetenheuve liebt Lyrik).
Ganz kurz
Ich habe dieses buch in aĺ l seiner vielgestaltigkeit mit großem Vergnügen gelesen obwohl ich schwere kost fürchtete. Meine lieblingsepisode ist die schilderung der letzten kinovorstellung. Aber auch die Debatten um Literatur und deren politische und allgemeine Funktion haben ich gefesselt. Ausserdem habe ich mich zeimlich oft amüsiert. Die fühlbaren Sprünge haben mich eigenartigerweise gar nicht gestört. Ich hätte herrn tellkamp gerne etwas nettes geschrieben hätte ich diese möglichkeit.
Ich möchte ihnen im übrigen meine hochachtung für die m.e. ausgezeichnete rezension aussprechen und grüße herzlich aus dem Ruhrgebiet !
Danke für Ihren Kommentar. Und Zustimmung: Die Erzählung der letzten Kinovorstellung ist glänzend.