Es ist ein Jam­mer

Al­so jetzt noch ei­ne Be­spre­chung von Akif Pi­rin­çcis »Deutsch­land von Sin­nen«? Noch ein Text, der die Men­schen­ver­ach­tung die­ses Bu­ches her­vor­hebt, die scheuß­li­che Spra­che gei­ßelt? Die­se tat­säch­lich fürch­ter­li­chen fast 230 Sei­ten, auf de­nen Pi­rin­çci auf die »links­versiffte Pres­se« schimpft, die »Fi­gu­ren aus dem Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­nett« (Po­li­ti­ker), »Mul­ti­kul­ti-En­gel aus dem Rot­wein­gür­tel« (die »Kindersex«-Grünen, die­ser »kom­plett über­flüs­si­ge Ver­ein«), die »so­zi­al­päd­ago­gi­sche Witz­ju­stiz« (spä­ter leicht va­ri­iert zur »deutsche[n] Au­gen­zu­drück-Ju­stiz«) und das EU-»Gesindel«. Die­ser Rausch des Au­tors, wenn es um den Is­lam geht (»ge­walt­a­ffi­ne und lei­stungs­feind­li­che Ideo­lo­gie«, die seit Jahr­hun­der­ten kei­ne Er­fin­dung mehr zu­stan­de ge­bracht ha­be [En­zens­ber­ger lässt grü­ßen] und Deutsch­land un­wei­ger­lich in ein schreck­li­ches »Eu­ra­bia« stür­zen wird), die »Geistes­krankheit na­mens Gen­der Main­stream« (nebst »Kampf­les­ben«) und die »Ver­got­tung« der Ho­mo­se­xua­li­tät. Al­so noch ein lang­wei­lig-selbst­ge­rech­ter Ge­gen­text, der sich am En­de in der Ge­wiss­heit suhlt, ir­gend­wie doch auf der rich­ti­gen (vul­go: der an­de­ren) Sei­te zu ste­hen und den Au­tor à la »heu­te show« mit ähn­li­chem Duk­tus zer­rupft wie er dies mit der von ihm so ver­hass­ten Ge­sell­schaft, dem jour­na­li­sti­sche Estab­lish­ment, prak­ti­ziert?

Und wenn man dies ver­mei­den möch­te – was dann? Ist Pi­rin­çci ein Wie­der­keh­rer des ta­xi­fah­ren­den Tre­vis Bick­le, der sich aus lau­ter Ekel vor dem »Ab­schaum«, der ihm be­geg­net in Selbst­ju­stiz flüch­tet und da­für ur­plötz­lich in der Öf­fent­lich­keit als Held ver­ehrt wird? Oder nur ein rhe­to­ri­scher Amok­läu­fer, ein Al­fred Tetzlaff rel­oa­ded, je­ner »Ekel Al­fred« ge­nann­ten Fi­gur aus der An­ti-Fa­mi­li­en­se­rie der 1970er Jah­re »Ein Herz und ei­ne See­le«, die in­zwi­schen ei­nen Kult­sta­tus er­reicht hat? Wolf­gang Men­ge, der die Idee zu die­ser Se­rie aus Groß­bri­tan­ni­en über­nom­men und auf deut­sche Ver­hält­nis­se an­ge­passt hat­te, in­sze­nier­te die Fol­gen wie ein Kam­mer­spiel auf der Büh­ne vor Pu­bli­kum. Tetzlaff wur­de zur ex­em­pla­ri­schen Spie­ßer-Fi­gur, der schon op­tisch ein­stimm­te: klein, fast im­mer mit Pan­tof­feln, meist lie­der­lich im Un­ter­hemd her­um­sit­zend, vor al­lem je­doch mit sei­nem spe­zi­el­len Ober­lip­pen­bart und der Fri­sur durch­aus (und ge­wollt) von Fer­ne an Adolf Hit­ler er­in­nernd. Die Ge­sin­nung Al­freds war schon auf den er­sten Blick klar.

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Gift und Ge­gen­gift

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror - Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
Thi­lo Sar­ra­zin: Der neue Tu­gend­ter­ror -
Über die Gren­zen der Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land

Thi­lo Sar­ra­zin wird im Sep­tem­ber 2012 in ei­nem »Spie­gel«-Interview in­di­rekt des Ras­sis­mus be­schul­digt. Die­sen Vor­wurf will er nicht auf sich sit­zen las­sen und schreibt da­her ei­nen Brief an die Re­dak­ti­on mit der Bit­te um Rich­tig­stel­lung (was na­tür­lich ei­ne er­neu­te Dis­kus­si­on um sei­ne The­sen zur Fol­ge hät­te) oder Ent­schul­di­gung. Der Re­dak­teur ant­wor­tet ela­bo­riert und, so­fern das Zi­tat kor­rekt wie­der­ge­ge­ben wur­de, mit hör­ba­rer Freu­de: Die Aus­sa­gen aus dem Buch »Deutsch­land schafft sich ab« sei­en le­dig­lich »poin­tiert zu­sam­men­ge­fasst« wor­den; ei­ne Kor­rek­tur lehnt er ab.

Die­se Ant­wort sei für ihn der Grund ge­we­sen, das vor­liegende Buch »Der neue Tu­gend­ter­ror« zu schrei­ben, so Sar­ra­zin. Das be­deu­tet um­ge­kehrt: Hät­te der »Spie­gel« – im­mer­hin ei­nes der bei­den Me­di­en, die aus dem kontro­vers dis­ku­tier­ten Buch ei­nen für den Au­tor sicher­lich in mehr­fa­cher Hin­sicht loh­nen­den Vor­ab­druck vorge­nommen hat­ten (was er schein­bar ver­ges­sen hat, da er lau­fend den »Spie­gel« ob sei­ner Ein­sei­tig­keit at­tackiert) – ein­fach nur Sar­ra­zins Le­ser­brief ab­ge­druckt, wä­re der Le­ser­schaft das neue Buch er­spart ge­blie­ben.

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Ein biss­chen Han­dels­blatt, ein biss­chen Bun­des­bank – und ganz viel FAZ und FAS

Thilo Sarrazin: Deutschland braucht den Euro nicht
Thi­lo Sar­ra­zin: Deutsch­land braucht den Eu­ro nicht
Thi­lo Sar­ra­zins An­ti-Eu­ro-Buch »Eu­ro­pa braucht den Eu­ro nicht« zeigt die öko­no­mi­schen Dilem­mata der Ge­mein­schafts­wäh­rung. Und es zeigt, wo­hin ein un­ter­las­se­ner Dis­kurs füh­ren kann.

Wie wä­re das ei­gent­lich: Ein Buch von Thi­lo Sar­ra­zin er­scheint – und nie­mand regt sich dar­über auf, be­vor er es nicht min­de­stens ge­le­sen hat?

Schwie­rig wohl, denn die Wel­len zu »Deutsch­land schafft sich ab« schla­gen heu­te noch hoch. Da­bei war es nicht da­mit ge­tan, Sar­ra­zin an ei­ni­gen Stel­len sei­nen bio­logistischen Un­sinn vor­zu­hal­ten und ab­zu­ar­bei­ten. Man be­nutz­te die­se Stel­len, um das, was in dem Buch an­sonsten an­ge­spro­chen wur­de, per se zu dis­kre­di­tie­ren. Bei ei­nem zwei­ten Buch – zu ei­nem ver­meint­lich an­de­ren The­ma – soll nun die­se Vor­ge­hens­wei­se per­fek­tio­niert wer­den. »Halt’s [sic!] Maul« pro­te­stiert man dann auch schon vor­her – und be­weist ei­ne be­mer­kens­wer­te Diskussions­kultur. Als die Pro­test­ler am 20.05. vor der Fern­seh­sen­dung »Gün­ther Jauch« ent­sprechend de­mon­strier­ten (Sar­ra­zin war dort zum Ge­spräch mit Peer Stein­brück ge­laden), dürf­ten sie un­mög­lich das Buch ge­le­sen ha­ben, um das es in der Sen­dung ging. Ih­nen und auch den Be­ob­ach­tern der »Nach­denk­sei­ten« stört so et­was nicht: Im Zwei­fel ha­ben sie sich schon ei­ne Mei­nung ge­bil­det be­vor das, was sie das, was sie kri­ti­sie­ren, über­haupt ken­nen. Denn sie wis­sen es ja: Ein »Ras­sist« und ein »rech­ter So­zi­al­de­mo­krat« im Ge­spräch – da kann nichts raus­kom­men. Da­bei re­agie­ren sie wie Paw­low­sche Hun­de und er­set­zen In­tel­lekt be­reit- und frei­wil­lig mit Af­fekt.

Ich hat­te am Mitt­woch (16.05.) ein Le­se­ex­em­plar vom Ver­lag zu­ge­schickt be­kom­men. Es ist kaum mög­lich, in­ner­halb von vier Ta­gen das Buch ver­nünf­tig zu le­sen, durch­zu­ar­bei­ten und ein kon­zi­ses Ur­teil zu fäl­len. Und ob­wohl ich da­von aus­ge­he, dass Leu­te wie Stein­brück ei­ne et­was län­ge­re Zeit zur Ver­fü­gung hat­ten, merk­te man dem Ge­spräch an, dass der Con­tra-An­walt er­heb­li­che Lücken of­fen­bar­te, was Sar­ra­zins Buch an­ging und der Au­tor mit sei­nen Ent­geg­nun­gen ent­spre­chend kon­tern konn­te.

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Mo­nod und Sar­ra­zin

Ich ha­be Mo­n­ods Buch nach et­li­chen Jah­ren wie­der in die Hand ge­nom­men, weil ich mich an ei­ne Stel­le er­in­ner­te, die an­schei­nend bei Thi­lo Sar­ra­zin wie­der auf­taucht war.

Auf et­wa ein­ein­halb Sei­ten streift Mo­nod in sei­ner knap­pen, tref­fen­den Art ein ge­sell­schafts­po­li­ti­sches The­ma und stellt ei­ne The­se auf, die man als ei­nen der Haupt­punk­te (wenn nicht so­gar den Kern) von Sar­ra­zins Ar­gu­men­ta­ti­on be­zeich­nen kann.

Mo­nod dis­ku­tiert die Be­deu­tung von Spra­che und Kul­tur für die Evo­lu­ti­on un­se­res Ge­hirns und den Zu­sam­men­halt von Grup­pen. Kul­tur war ein be­deu­ten­der Se­lek­ti­ons­fak­tor, al­ler­dings […] nur bis zu dem Au­gen­blick, wo sich we­gen der zu­neh­men­den Ge­schwin­dig­keit der Kul­tur­ent­wick­lung die­se und die ge­ne­ti­sche Evo­lu­ti­on voll­stän­dig von ein­an­der lö­sen soll­ten.

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Der Mes­si­as der Mit­tel­schicht

Ge­dan­ken zu Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« und die Dis­kus­si­on hier­über

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab
Thi­lo Sar­ra­zin:
Deutsch­land schafft sich ab

I. Pro­log

Auf dem Hö­he­punkt der Wirt­schafts­kri­se, als der Steu­er­zah­ler (und nur der!) von der po­li­ti­schen Klas­se, die den Staat re­prä­sen­tiert, zum Bür­gen für des­sen selbst­ge­mach­te und selbst­ge­dul­de­te Feh­ler her­an­ge­zo­gen wur­de, ent­warf der Phi­lo­soph Pe­ter Slo­ter­di­jk in ei­nem sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ar­ti­kel ei­ne Ge­gen­welt: »Die ein­zi­ge Macht, die der Plün­de­rung der Zu­kunft Wi­der­stand lei­sten könn­te, hät­te ei­ne so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Neu­erfin­dung der ‘Ge­sell­schaft’ zur Vor­aus­set­zung. Sie wä­re nicht we­ni­ger als ei­ne Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand.« Ei­ne Ge­sell­schaft, in der fast aus­schließ­lich der flucht­un­fä­hi­ge Ein­kom­men­steu­er­zah­ler den Staat und da­mit des­sen Aus­ga­ben er­wirt­schaf­tet, wäh­rend die Ka­ste der Ex­trem­ver­die­ner sich mit Hil­fe der Po­li­tik längst aus der so­li­da­ri­schen Ver­ant­wor­tung ent­fernt hat und die Un­ter­schicht zu Trans­fer­emp­fän­gern ent­mün­digt wer­den, be­schreibt Slo­ter­di­jk mit dra­sti­schen Wor­ten: »So ist aus der selbsti­schen und di­rek­ten Aus­beu­tung feu­da­ler Zei­ten in der Mo­der­ne ei­ne bei­na­he selbst­lo­se, recht­lich ge­zü­gel­te Staats-Klep­to­kra­tie ge­wor­den. Ein mo­der­ner Fi­nanz­mi­ni­ster ist ein Ro­bin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung ge­lei­stet hat. Das Neh­men mit gu­tem Ge­wis­sen, das die öf­fent­li­che Hand be­zeich­net, recht­fer­tigt sich, ide­al­ty­pisch wie prag­ma­tisch, durch sei­ne un­ver­kenn­ba­re Nütz­lich­keit für den so­zia­len Frie­den – um von den üb­ri­gen Lei­stun­gen des neh­mend-ge­ben­den Staats nicht zu re­den.«

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