
Wie wäre das eigentlich: Ein Buch von Thilo Sarrazin erscheint – und niemand regt sich darüber auf, bevor er es nicht mindestens gelesen hat?
Schwierig wohl, denn die Wellen zu »Deutschland schafft sich ab« schlagen heute noch hoch. Dabei war es nicht damit getan, Sarrazin an einigen Stellen seinen biologistischen Unsinn vorzuhalten und abzuarbeiten. Man benutzte diese Stellen, um das, was in dem Buch ansonsten angesprochen wurde, per se zu diskreditieren. Bei einem zweiten Buch – zu einem vermeintlich anderen Thema – soll nun diese Vorgehensweise perfektioniert werden. »Halt’s [sic!] Maul« protestiert man dann auch schon vorher – und beweist eine bemerkenswerte Diskussionskultur. Als die Protestler am 20.05. vor der Fernsehsendung »Günther Jauch« entsprechend demonstrierten (Sarrazin war dort zum Gespräch mit Peer Steinbrück geladen), dürften sie unmöglich das Buch gelesen haben, um das es in der Sendung ging. Ihnen und auch den Beobachtern der »Nachdenkseiten« stört so etwas nicht: Im Zweifel haben sie sich schon eine Meinung gebildet bevor das, was sie das, was sie kritisieren, überhaupt kennen. Denn sie wissen es ja: Ein »Rassist« und ein »rechter Sozialdemokrat« im Gespräch – da kann nichts rauskommen. Dabei reagieren sie wie Pawlowsche Hunde und ersetzen Intellekt bereit- und freiwillig mit Affekt.
Ich hatte am Mittwoch (16.05.) ein Leseexemplar vom Verlag zugeschickt bekommen. Es ist kaum möglich, innerhalb von vier Tagen das Buch vernünftig zu lesen, durchzuarbeiten und ein konzises Urteil zu fällen. Und obwohl ich davon ausgehe, dass Leute wie Steinbrück eine etwas längere Zeit zur Verfügung hatten, merkte man dem Gespräch an, dass der Contra-Anwalt erhebliche Lücken offenbarte, was Sarrazins Buch anging und der Autor mit seinen Entgegnungen entsprechend kontern konnte.