Gräu­el der Ge­gen­wart ‑11/11-

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Ich per­sön­lich glau­be nicht an die Mär von den ar­men aus­ge­beu­te­ten Men­schen; ich glau­be nicht mehr dar­an. Im 19. Jahr­hun­dert und bis weit ins zwan­zig­ste hin­ein mag das zu­ge­trof­fen ha­ben; wahr­schein­lich trifft es in den (vor al­lem süd­li­chen) Welt­ge­gen­den zu, die de­ren Be­woh­ner scha­ren­wei­se ver­las­sen, um in un­se­ren Schla­raf­fen­län­dern die ana­chro­ni­sti­sche Rol­le des Aus­ge­beu­te­ten zu spie­len (wir brau­chen al­so doch noch wel­che). Hier bei uns, im We­sten wie im ver­west­lich­ten Osten, sind die Men­schen nun ein­mal zu dem ge­wor­den, was sie sind. Sie hat­ten und ha­ben ihr Schick­sal selbst in der Hand, je­den­falls bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad. Die­se Frei­heit ist heu­te Wirk­lich­keit. Je­der Ein­zel­ne hät­te auch ein an­de­rer wer­den kön­nen. Es be­steht nicht mehr der ge­ring­ste Grund, Be­völ­ke­rungs­schich­ten, ehe­dem »Klas­sen«, zu idea­li­sie­ren und he­roi­sie­ren, da sie als um­reiß­ba­re so­zia­le Grup­pen im Aus­ster­ben be­grif­fen sind. Auch wenn die öko­no­mi­schen Un­gleich­hei­ten grö­ßer wer­den, ten­die­ren die mei­sten so­zia­len Ele­men­te zur Mit­te, und die­se Mit­te ist sehr breit ge­wor­den, auch wenn sich vie­le ih­rer Mit­glie­der öko­no­misch be­droht füh­len und in be­stimm­ten Mo­men­ten – Fi­nanz­kri­se 2008 – tat­säch­lich be­droht sind. Die­se Mit­te ist für die in der Drit­ten Welt Da­hin­ve­ge­tie­ren­den das Schla­raf­fen­land. »Die Welt zer­fällt. Die Mit­te hält nicht mehr«, sagt der afro­ame­ri­ka­ni­sche Hi­sto­ri­ker Cor­nel West mit Be­zug auf au­to­ri­tä­re Po­li­tik und schran­ken­lo­ses Pro­fit­stre­ben. Dies ist ei­ne Pro­phe­zei­ung, ein Kas­san­dra­ruf. Tat­säch­lich wird sie wohl noch ein paar Jah­re oder Jahr­zehn­te hal­ten, aber es könn­te schon sein, daß in­ne­re Wi­der­sprü­che und sei­ne Schran­ken­lo­sig­keit das neo­li­be­ra­le Sy­stem zur Im­plo­si­on oder Ex­plo­si­on (oder bei­dem) brin­gen wer­den.1

West er­wähnt gern die Hel­den des afro­ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­kamp­fes, aber man hat den Ein­druck, das al­les sei de­fi­ni­tiv Ge­schich­te: Mar­tin Lu­ther King, John Le­wis und so wei­ter. Di­dier Eri­bon be­schreibt in Rück­kehr nach Reims die Be­schränkt­heit, den Ras­sis­mus, die In­to­le­ranz, die in fran­zö­si­schen Ar­bei­ter­mi­lieus nach dem En­de der Ar­beit herrscht, al­so un­ter Leu­ten, die sich als Zu­kurz­ge­kom­me­ne se­hen. Er hält trotz­dem an den über­kom­me­nen so­zio­lo­gi­schen Ka­te­go­rien fest. Sein Schütz­ling Édouard Lou­is, des­sen Schil­de­run­gen an Här­te eben­falls nichts zu wün­schen las­sen, ist da et­was frei­er. Auch dann, wenn Sym­pa­thie mit den Op­fern der Mo­der­ni­sie­rung auf­kommt, weint er dem Ver­schwin­den der Ar­bei­ter­klas­se kei­ne Trä­ne nach. Do­nald Trump, der die­ser Klas­se be­kannt­lich kei­nes­wegs an­ge­hört, ist oder gibt sich in die­ser Hin­sicht viel nost­al­gi­scher, al­so rück­schritt­li­cher. Er ver­spricht den wirk­lich oder ver­meint­lich Zu­kurz­ge­kom­me­nen, was ih­nen nie­mand ge­ben kann. Aus wahl­tak­ti­schem Kal­kül ver­mut­lich. Und weil er ei­ne Ideo­lo­gie ver­kör­pert, die ei­nen Schein auf­recht­erhält, dem, wie die Ideo­lo­gen ge­nau wis­sen, kei­ne Wirk­lich­keit mehr ent­spricht. An der Be­sei­ti­gung die­ser Wirk­lich­keit ha­ben sie selbst mit­ge­wirkt.

Wei­ter­le­sen ...


  1. Auch Cornel West läßt sich von rhetorischer Dynamik und ideologischen Vorgaben leiten und kümmert sich wenig um Fakten. So behauptet er, 40 Prozent der Bevölkerung der USA würden in Armut oder nahe an der Schwelle dazu leben. Die offizielle Statistik gibt als Zahl 11,8 Prozent an; dazu die Erläuterung, daß die Armut in den letzten Jahren kontinuierlich geringer geworden sei. Es ist übrigens aufschlußreich zu lesen, wie West es beklagt, daß schwarze Freiheitskämpfer, sobald sie in die Politik gingen, in den Sog des Neoliberalismus gerieten und ihre früheren Positionen aufgaben. Gibt es wirklich keine Alternative? Womöglich nicht. Cornel West outet sich als Mann des Blues: "Mit all diesem Schrecken trotzdem irgendwie klarzukommen, bedeutet, ein Mann oder eine Frau des Blues zu sein. Es bedeutet, Kummer zu akzeptieren, aber niemals dem Kummer und damit den Katastrophen das Feld zu überlassen."