Jo­chen Schim­mang: Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West

Jochen Schimmang: Altes Zollhaus, Staatsgrenze West
Jo­chen Schim­mang:
Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West

Zum er­sten Mal er­zählt Jo­chen Schim­mang von Gre­gor Korff 2009 in »Das Be­ste, was wir hat­ten«. Er be­ginnt mit dem Sil­ve­ster­tag 1989 und Korff, da­mals 41, blickt weh­mütig und gleich­zei­tig ein we­nig stolz auf die vorher­sehbar zu En­de ge­hen­de Bon­ner Re­pu­blik zu­rück. Er, der ei­gent­lich so­zi­al­li­be­ra­le Geist, ist Mi­ni­ster­be­ra­ter in der Re­gie­rung Kohl, und steht der kom­men­den Ein­heit und dem da­mit grö­ßer wer­den­den Deutsch­land skep­tisch ge­gen­über. Die gro­ßen hi­sto­ri­schen Ver­än­de­run­gen der Bun­des­re­pu­blik kon­tra­stiert er mit sei­nem bis­he­ri­gen Le­ben und kon­sta­tiert ein we­nig über­ra­schend, wie klein­ste und zu­nächst un­schein­bar da­her­kom­men­de Be­ge­ben­hei­ten sein Le­ben im Nach­hin­ein ent­schei­dend ge­prägt ha­ben. Manch­mal äh­nelt Korff ein biss­chen Koep­pens Kee­ten­heuve (jetzt Wie­der­ver­ei­ni­gung und da­mals, bei Koep­pen, Wie­der­be­waff­nung). Aber Korffs Me­lan­cho­lie ver­wan­delt sich nicht in De­pres­si­on. Und so ent­wickelt sich der Ro­man nach den 60 Sei­ten ele­gisch-epi­scher Re­mi­nis­zenz im­mer mehr in Rich­tung Agen­ten­ge­schich­te, in der Korff in den näch­sten vier Jah­ren sei­nes Le­bens (we­nig über­zeu­gend) sei­ne Re-An­ar­chi­sie­rung ver­sucht, nach­dem er sei­ne Be­ra­ter­po­si­ti­on we­gen ei­ner Lieb­schaft zu ei­ner Sta­si-Agen­tin ver­liert.

2011 leg­te Schim­mang mit »Neue Mit­te« ei­nen dys­to­pi­schen Zu­kunfts­ro­man über das Jahr 2029 vor. Er er­zählt von ei­nem in Rui­nen lie­gen­den Deutsch­land, das ge­ra­de ei­ne Dik­ta­tur über­wun­den hat und sich neu ori­en­tiert. In ei­nem der Er­zähl­strän­ge sucht der Ich-Er­zäh­ler Ul­rich An­ders sei­nen ver­mut­li­chen Va­ter, ei­nen ge­wis­sen Gre­gor Korff, der um 2018 her­um in Pa­ris ge­stor­ben sein soll. Das Grab exi­stiert je­doch nicht mehr und al­le Spu­ren füh­ren ins Nichts.

Mit »Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West« geht es nun zu­rück in die Ge­gen­wart der Jah­re 2015/16. Korff er­freut sich be­ster Ge­sund­heit und lebt im fik­ti­ven Ort Gran­de­rath an der deutsch-nie­der­län­di­schen Gren­ze in ei­nem von ihm re­no­vier­ten ehe­ma­li­gen Zoll­haus. Fi­nan­zi­ell ist er un­ab­hän­gig, denn er lebt von den Ein­nah­men ei­nes Thril­lers über die Spio­na­ge­af­fä­re, die ihn sei­nen Job ge­ko­stet hat. Er hat­te die­ses in­zwi­schen na­tür­lich auch ver­film­te Buch zwar nicht ge­schrie­ben, aber der Au­tor, der in­zwi­schen ver­stor­ben ist, woll­te es nicht un­ter sei­nem Na­men ver­öf­fent­li­chen. So ist Korff streng ge­nom­men ein Fake-Au­tor, ob­wohl die Ge­schich­te nach sei­nen Er­zäh­lun­gen auf­ge­schrie­ben wur­de.

Wei­ter­le­sen ...

Karl Heinz Boh­rer: Jetzt

Karl Heinz Bohrer: Jetzt
Karl Heinz Boh­rer: Jetzt

Un­ter den deut­schen Nach­kriegs­in­tel­lek­tu­el­len ist Karl Heinz Boh­rer zwei­fel­los im­mer ein So­li­tär ge­we­sen und das nicht nur auf­grund sei­ner Po­le­mi­ken, die sich mit den (west-)deutschen psy­cho­po­li­ti­schen Be­find­lich­kei­ten vor al­lem des links­li­be­ra­len Bür­ger­tums aus­ein­an­der­setz­ten. Boh­rer brüs­kier­te sei­ne Le­ser da­mit, dass er po­li­tisch-mo­ra­li­sche Aspek­te für se­kun­där, ja stö­rend emp­fand. Dies galt und gilt so­wohl für ein künst­le­ri­sches Werk als auch für ei­ne ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Theo­rie. Da­bei trennt er säu­ber­lich zwi­schen Af­fir­ma­ti­on und Zu­stim­mung – et­was, was sei­nen Zeit­ge­nos­sen stets su­spekt blieb. So ist er fas­zi­niert von Dutsch­kes und Le­fè­v­res »blei­che En­er­gie« und der »bru­ta­len Spra­che« in lin­ken Zei­tun­gen 1967/68 ob­wohl er de­ren po­li­ti­sche Zie­le ri­go­ros ab­lehnt. Er fei­ert den ar­chai­schen To­des­kampf des Stiers durch den Stoß des To­re­ros mit ähn­li­cher Lei­den­schaft wie Ul­ri­ke Mein­hofs »Aus­drück­lich­keit«, wenn es um die Ver­bes­se­rung der so­zia­len Ver­hält­nis­se in Deutsch­land ging, ar­bei­tet die Schön­heit der La­ko­nik ei­nes Saint Just her­aus, be­kennt sich zu sei­ner Af­fi­ni­tät zum Preu­ßen­tum und stellt früh fest, dass »Li­te­ra­tur … pri­mär nichts mit In­hal­ten zu tun ha­ben« muss. Il­lu­stra­tiv zeigt sich dies am Bei­spiel von Mi­cha­el Kohl­haas, der, nach Boh­rer, nicht pri­mär die ihm zu­ge­füg­ten Un­ge­rech­tig­kei­ten be­sei­ti­gen möch­te, son­dern nach ei­nem »in­ten­si­ve­ren Au­gen­blick der Exi­stenz« sucht, den er schließ­lich in sei­nen Ra­che­feld­zü­gen fin­det.

Da­mit wird ge­zeigt, wie lang­wei­lig für Boh­rer die so gut aus­ge­bau­ten literaturtheo­retischen Tram­pel­pfa­de wa­ren. Im aka­de­mi­schen Be­trieb sah er fast nur noch »Ideen­re­fe­ra­te«. Er woll­te zu­rück in die Sinn­lich­keit der Li­te­ra­tur. Boh­rer war und ist DER em­pha­ti­sche Le­ser, der stets be­reit ist, al­les noch ein­mal neu zu den­ken und in ei­nen neu­en Kon­text ein­zu­bet­ten. So ist es fast na­tür­lich, dass Boh­rer den Gei­stes­wis­sen­schaf­ten nicht den Rang von Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu­spricht, weil ih­re Em­pi­ri­en nur auf mehr oder we­ni­ger ka­no­ni­sier­ten In­ter­pre­ta­tio­nen be­ru­hen, die sich bei nä­he­rer Drauf­sicht als blo­ße Mei­nun­gen ent­pup­pen. Ob in der Li­te­ra­tur­ex­ege­se, dem Kunst­dis­kurs oder auch der po­li­ti­schen De­bat­te – über­all ent­deckt er »ab­seh­ba­re Ideen«, ein »vor­ent­schie­de­nes Den­ken«. Da­bei sind ihm te­leo­lo­gi­sche Deu­tun­gen ver­hasst.

Wei­ter­le­sen ...

Ger­ma­nys next Top­wri­ter

Ich hat­te ge­ra­de 10 der 14 Tex­te ge­le­sen, als mich ei­ne Mit­tei­lung ei­nes Twit­ter-Fol­lo­wers er­reich­te: »Ihr kon­se­quen­tes Schwei­gen zum Blog­bu­ster­preis stimmt mich nach­denk­lich.«

Tat­säch­lich hat­te ich die Longlist-Le­se­pro­ben erst ei­ni­ge Ta­ge zu­vor ent­deckt. Den Blog­bu­ster-Preis hat­te ich fast schon ver­ges­sen; die teil­neh­men­den Blog­ger ver­fol­ge ich nur sehr un­re­gel­mä­ssig. Zu­wei­len konn­te man von Aus­wahl­qua­len le­sen, wo­bei ich mich frug, war­um man so et­was mit Na­mens­nen­nun­gen öf­fent­lich macht, aber nach den Sta­tu­ten war das mög­lich. Erst die Im­ple­men­tie­rung ei­nes neu­en li­te­ra­ri­schen Ka­non in der »Li­te­ra­ri­schen Welt« durch den mitt­ler­wei­le un­ver­meid­ba­ren De­nis Scheck liess mich an den Preis den­ken, war doch eben je­ner Scheck als Zug­pferd da­bei.

Wei­ter­le­sen ...

Mar­tin Wal­ser: Statt et­was oder der letz­te Rank

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank
Mar­tin Wal­ser:
Statt et­was oder Der letz­te Rank

Mar­tin Wal­ser ist vor ei­ni­gen Ta­gen 90 ge­wor­den und wer woll­te, konn­te hier­über ei­ni­ges se­hen und hö­ren. Man fuhr mit ihm fil­mend im Re­tro-Mer­ce­des mit Wackel­dackel (Kenn­zei­chen: FN MW-27) zu Ta­ges­tou­ren rund um den Bo­den­see. Da­bei wur­den na­tür­lich al­le wich­ti­gen Fra­gen er­ör­tert. Auf dem Bil­dungs­sen­der ARD-al­pha lief ein Por­trait, das aus Zu­sam­men­schnit­ten öf­fent­li­cher Stel­lung­nah­men und Re­den Walsers und sei­ner Geg­ner be­stand. Die Geg­ner nennt Wal­ser in sei­nem neu­en Buch »Fein­de«; Geg­ner sei­en ihm gleich­gül­tig ge­gen­über ge­we­sen, Fein­de hät­ten ver­sucht, ihn zu ver­hin­dern oder ele­men­tar zu scha­den.

Schon bin ich in die Fal­le ge­tappt und ha­be wie­der ein­mal ei­nen »neu­en« Wal­ser zur Hand ge­nom­men. Ich muss ge­ste­hen, dass mir die ma­nie­ri­sti­schen Satzorna­men­te Walsers nie zu­ge­sagt ha­ben. Es gab ei­ni­ge ver­geb­li­che Ver­su­che (schnel­le Lek­tü­re­ab­brü­che). Wo­mög­lich hat­te ich ir­gend­wann zu sehr den Imi­ta­ti­ons­wil­len zum da­hin­ter­ste­hen­den Vor­bild wahr­ge­nom­men; das Vor­bild, dass er ver­mut­lich ob der Un­er­reich­bar­keit oft an­griff und des­sen Fi­gu­ren ein­mal so­gar als »Sam­mel­tas­sen-Mon­stren« cha­rak­te­ri­sier­te. Aber viel­leicht tue ich Wal­ser auch un­recht, wenn ich bei die­sem Apho­ris­mus pri­mär an sei­ne Ro­ma­ne den­ke.

Nur ein­mal konn­te ich Walsers Li­te­ra­tur ge­nie­ßen, weil die Gir­lan­den et­was spar­sa­mer ge­knüpft wa­ren als sonst, viel­leicht weil es um sei­ne Mut­ter und sei­nen Va­ter ging, die man nicht durch­psy­cho­lo­gi­sie­ren konn­te oder woll­te. Das war der »Sprin­gen­de Brun­nen«, der – ei­ni­ger­ma­ßen vor­her­seh­bar – mit lä­cher­li­chen Kri­tik­aste­rei­en ver­se­hen wur­de, weil Wal­ser die Er­war­tun­gen der Nach­ge­bo­re­nen nicht er­fül­len woll­te und auf sei­ne ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen be­stand.

Wei­ter­le­sen ...

Bar­ba­ra Ken­ne­weg: Haus für ei­ne Per­son

Barbara Kenneweg: Haus für eine Person
Bar­ba­ra Ken­ne­weg:
Haus für ei­ne Per­son

Sie heißt Ro­sa Lux (der Vor­na­me ist ein Wort­spiel der Mut­ter), ist 32 Jah­re alt und wohnt ir­gend­wo im Osten von Ost­ber­lin in ei­nem klei­nen, 50 Qua­drat­me­ter gro­ßen Haus, dass sie (wie auch im­mer) von ei­nem ehe­ma­li­gen SED- und/oder Sta­si-Men­schen ge­kauft hat. Ih­re Nach­barin ist die 98jährige Wit­we Frau Paul, die in ei­nem 1970er-Jah­re-DDR-Ku­rio­sum wohnt, dass ihr Mann in den 1970er Jah­ren aus Trüm­mern und Bau­stel­len­re­sten zu­sam­men­ge­baut hat­te. Frau Paul be­kam zwi­schen 1931 und 1952 fünf Kin­der und hat eben­so vie­le po­li­ti­sche Sy­ste­me er­lebt. »Und im­mer wa­ren die Na­men, die ihr ge­fie­len, po­li­tisch un­er­wünscht.« Mit Charme und Schalk er­zählt sie da­von, war­um ih­re Kin­der nicht Wil­helm, Iwan und Glenn hei­ßen durf­ten und war­um sie aus Jo­shua Joschi ma­chen muss­te. Und sie er­zählt von den Bomben­angriffen, den Wohn­block­knackern und Vier­pfün­dern.

Ro­sa ist be­ein­druckt von der Ge­las­sen­heit und Le­bens­klug­heit die­ser Frau. We­ni­ger sym­pa­thisch ist ihr Herr Scholl, der an­de­re Nach­bar, et­was jün­ger als Frau Paul, Wit­wer, ein Stei­ne- und Find­lings­samm­ler (mit ei­nem, wie sich spä­ter her­aus­stellt, rüh­ren­dem Ge­heim­nis) und, so Frau Paul, ein da­mals Na­zi-Über­zeug­ter. An­son­sten ist das Vier­tel ver­schla­fen, ein »Fleck­chen Bür­ger­lich­keit«. Ro­sa schwankt ob sie das mö­gen oder has­sen soll. Ihr Va­ter ist seit acht Jah­ren tot und jetzt starb auch noch ih­re Mut­ter. Von ih­rem Freund Olaf hat sie sich ge­trennt, der dar­auf­hin in den Hi­ma­la­ya ge­flüch­tet ist. Jetzt lebt Ro­sa al­lei­ne, fast iso­liert, von ei­nem One-Night-Stand mit ei­nem schreck­li­chen Im­mo­bi­li­en­mak­ler ein­mal ab­ge­se­hen.

Wei­ter­le­sen ...

Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Dina Sikirić: Was den Fluss bewegt
Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Im De­zem­ber 1960 fährt ei­ne Mut­ter mit ih­rer fünf­ein­halb­jäh­ri­gen Toch­ter mit dem Zug von Ju­go­sla­wi­en in die Schweiz. Sie flüch­tet nicht vor Ar­mut oder Krieg. Es ist Lie­bes­kum­mer; die Mut­ter trennt sich von ih­rem Mann, dem Va­ter des Kin­des. Tat­säch­lich war mit ei­ner Freun­din der Mut­ter, ei­ner Lands­frau, die mit ei­nem Schwei­zer ver­hei­ra­tet ist, al­les ge­plant. Woh­nung und Ar­beit (in ei­ner Apo­the­ke) sind si­cher. Für das Mäd­chen, die Ich-Er­zäh­le­rin in Di­na Sik­irićs »Was den Fluss be­wegt«, ist dies ei­ne über­ra­schen­de aber auch sinn­li­che Rei­se, mit »Ver­hei­ßun­gen« und Glücks­ver­spre­chen er­füllt. An­fangs neu­gie­rig, »ver­zückt« und »glü­hend vor Glück« die neu­en Ein­drücke ge­ra­de­zu auf­sau­gend, kommt nach we­ni­gen Ta­gen die Er­nüch­te­rung: Sie wird in ein Kin­der­heim ge­bracht, in dem Schwe­stern mit re­li­giö­ser In­brunst das Kind in ei­ne häss­li­che Kluft und ei­nen stren­gen Ta­ges­ab­lauf stecken. Nur sonn­tags geht es für ein paar Stun­den zur Mut­ter.

Al­les ist furcht­erre­gend – ihr Fremd­sein, die un­ver­ständ­li­che Spra­che, die (auch mensch­lich) kal­te Um­ge­bung, die merk­wür­di­ge Klei­dung der Be­treue­rin­nen (die sie »Rie­sen­krä­hen« nennt). Sie hat das Ge­fühl »stets fehl am Platz zu sein«. Nur die 10jährige Do­me­ni­ca aus Ita­li­en, wie sie ei­ne Frem­de, wird ih­re Freun­din. Drei Mo­na­te bleibt sie stumm, ei­ne »Sprach­lo­sig­keit der Trau­er«, und flüch­tet sich in ei­ne my­thi­sche Traum­welt in der auch die im Heim an­ge­lern­te christ­li­che Sym­bo­lik ei­nen Platz fin­det. So wird der Got­tes­dienst zu ei­nem Fest, hier spricht sie in der ihr frem­den Spra­che die Ge­be­te nach und Gott wird zur Pro­jek­ti­on, denn er ist wie sie ein Frem­der. Schließ­lich be­ginnt sie die neue Spra­che zu ler­nen, was noch ein­mal ih­re Au­ßen­sei­ter­rol­le ver­stärkt. Die von ihr so fie­ber­haft er­war­te­te und er­sehn­te Tau­fe, das Da­zu­ge­hö­ren und Auf­ge­nom­men­wer­den in die Ge­mein­schaft der Kin­der, wird nie­mals statt­fin­den, denn sie ist, wie sie er­fah­ren muss, ein »Hei­den­kind« (weil sie aus ei­ner mus­li­mi­schen Fa­mi­lie stammt).

Als sie nach schier end­lo­sen an­dert­halb Jah­ren in den Som­mer­fe­ri­en in ihr Hei­mat­land Ju­go­sla­wi­en zu­rück­reist blüht sie wie­der auf, ge­rät in ei­nen »Glück­s­tau­mel«. Plötz­lich steht sie im Mit­tel­punkt, ge­nießt ein ge­wis­ses An­se­hen, trifft auf ih­re Fa­mi­lie und vor al­lem den Va­ter, den sie so sehr ver­misst hat­te. Der führt sie aus in die Stadt und in ein Fo­to­stu­dio und lässt von nun an in je­dem Som­mer dort Fo­to­gra­fien von ihr und sich ma­chen und so ent­steht in den vie­len Jah­ren ih­res som­mer­li­chen Zu­sam­men­seins ein »ernst­schö­nes Va­ter-Toch­ter-Paar« und das Er­zäh­len über die­se so kost­ba­ren Au­gen­blicke des Ein­ver­stan­den-Seins mit der Welt ge­hö­ren zu den schön­stens Stel­len die­ses Bu­ches.

Wei­ter­le­sen ...

Bo­tho Strauß: Oni­rit­ti

Botho Strauß: Oniritti - Höhenbilder
Bo­tho Strauß:
Oni­rit­ti – Hö­hen­bil­der

Un­längst konn­te man le­sen, dass bei der Be­sied­lung des Mars durch Erd­be­woh­ner (op­ti­mi­sti­sche Pla­nun­gen se­hen dies ab 2025 vor) auf Häu­ser ver­zich­tet wer­den muss. Me­teo­ri­ten­schau­er, Sand­stür­me, Temperaturschwan­kungen und Welt­raum­strah­lun­gen ma­chen dies un­mög­lich. Statt­des­sen müss­ten die Erd­lin­ge in La­va­höh­len und ‑kra­tern le­ben, die es auf dem ro­ten Pla­ne­ten auch in grö­sse­rer An­zahl zu ge­ben scheint. Ein be­rühm­ter Ar­chi­tekt hat hier­zu be­reits ent­spre­chen­de Ent­wür­fe vor­ge­legt. Am En­de des ver­mut­lich größ­ten tech­no­lo­gisch-zi­vi­li­sa­to­ri­schen Ak­tes der Mensch­heit wä­re der Ho­mo sa­pi­ens wie­der ein Höh­len­be­woh­ner.

Es ist eher un­wahr­schein­lich, das Bo­tho Strauß beim Schrei­ben sei­nes neu­en Bu­ches »Oni­rit­ti – Höh­len­bil­der« die­ses Bild vor Au­gen hat­te. Er de­fi­niert Oni­rit­ti als »Bild­schrif­ten auf der Höh­len­wand der Nacht«, er­wähnt ei­nen Ge­dan­ken von An­dré Le­roi-Gour­han über die Höh­len­bil­der von Las­caux, schickt den Le­ser gleich zu Be­ginn in das »Un­ter­ir­di­sche Reich Agh­ar­ti« und da­nach nach »Id­le Ci­ty«, dem »Mär­chen­reich der ge­brech­li­chen See­len«, phan­tas­ma­go­riert von »ge­hei­men Grot­ten« und ent­deckt ein »Ha­des­äqui­va­lent«.

Die Höh­le, bei Pla­ton einst Sinn­bild für das un­freie In­di­vi­du­um, ist hier nicht mehr der Ort der Ma­ni­pu­la­ti­on und des (fal­schen) Scheins, son­dern wird zum Exil der letz­ten (den­ken­den) Men­schen um­ge­wer­tet. Er­klomm Za­ra­thu­stra den Berg so haust Strauß in der Höh­le. Die Schat­ten- und Trug­bil­der fin­det er in ei­ner an­de­ren, ei­ner vir­tu­el­len Welt, die die rea­le Welt zu usur­pie­ren droht oder be­reits usur­piert hat. »Schon ver­strickt oder nur ver­netzt« lau­tet denn auch leicht süf­fi­sant ein­mal die Fra­ge. Der Ver­netz­te ist der Ge­fan­ge­ne des 21. Jahr­hun­derts und Rück­zug die neue Bür­ger­pflicht.

Wei­ter­le­sen ...

Da­ni­el Kehl­mann: Du hät­test ge­hen sol­len

Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen
Da­ni­el Kehl­mann:
Du hät­test ge­hen sol­len

Ein na­men­lo­ser Dreh­buch­schrei­ber fährt An­fang De­zem­ber mit Frau Su­san­na und der vier­jäh­ri­gen Toch­ter Esther in die Ber­ge. Sie ha­ben über AirBnB ein Haus an­ge­mie­tet. Der Mann muss un­be­dingt die Fort­set­zung sei­ner er­folg­rei­chen Film­ko­mö­die schrei­ben; der Produ­zent sitzt ihm im Nacken. Er lebt mit sei­nen Fi­gu­ren Ja­na und El­la, ent­wirft al­ber­ne Dia­lo­ge, ba­stelt an Beziehungs­problemen. All dies fin­det sich in ei­nem Ta­ge­buch, in dem er ne­ben sei­nen Dreh­buch­ent­wür­fen un­ter­schieds­los auch pri­va­te Din­ge wie die di­ver­sen Strei­te­rei­en mit Su­san­na (die im­mer­hin, im Ge­gen­satz zu ihm, ir­gend­wann ein­mal stu­diert hat) oder die eher put­zig-hilf­lo­sen Dia­lo­ge mit Esther no­tiert.

So wird der Le­ser Zeu­ge des sich fül­len­den Ta­ge­buchs und zu­wei­len ver­schwim­men die Gren­zen zwi­schen Schrei­be­rei und re­al Er­leb­tem. Es ist fast ein Drit­tel der Er­zäh­lung vor­bei, als der Au­tor mit dem Au­to die Ser­pen­ti­nen­stra­sse hin­un­ter ins Dorf in den Ge­mischt­wa­ren­la­den fährt. Nein, es ist kein schö­nes Dorf: ei­ne Stra­ße, ei­ne Kir­che und ge­gen­über der La­den. Al­le Kli­schees, die man von ei­nem Tan­te-Em­ma-La­den ab­seits der Tou­ris­mus­rou­ten in Bay­ern ha­ben kann, wer­den sorg­fäl­tig aus­ge­brei­tet. Der In­ha­ber ist lang­sam, schrul­lig und spricht Dia­lekt. Und der La­den ist teu­er. Vor al­lem aber macht er ein paar my­ste­riö­se An­deu­tun­gen zum Haus, fragt, wie es sich dort wohnt und ob er mit dem Be­sit­zer ge­spro­chen ha­be und rät schließ­lich un­ver­hofft: »Geht schnell weg.« Et­was Ge­heim­nis­um­wit­ter­tes brei­tet sich aus und nach der Rück­kehr vom Dorf­la­den wird das An­we­sen, zu­nächst als ge­räu­mig und fast lu­xu­ri­ös emp­fun­den, schnell zu ei­nem Spuk­haus. Die Toch­ter, die von den El­tern nachts mit ei­ner Vi­deo­ka­me­ra be­ob­ach­tet wird, kann nicht mehr schla­fen und auch Su­san­na fühlt sich un­wohl. Der Er­zäh­ler wird von al­ler­lei Merk­wür­dig­kei­ten er­schüt­tert. Er bleibt bei­spiels­wei­se im Spie­gel un­sicht­bar. Ein gru­se­li­ges Bild ei­ner Frau mit »eng bei­ein­an­der­lie­gen­den Au­gen« ist plötz­lich nicht mehr da. Alp­träu­me ver­ur­sa­chen zit­tern­de Hän­de. Rech­te Win­kel sind nicht mehr 90 Grad, son­dern 100 oder 80. Und wer hat »Geh weg« ins Ta­ge­buch ein­ge­tra­gen? Dann ent­deckt er auch noch auf dem Mo­bil­te­le­fon von Su­san­na zwei­deu­ti­ge SMS ei­nes ge­wis­sen Da­vid.

Wei­ter­le­sen ...