Jo­chen Schim­mang: Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West

Jochen Schimmang: Altes Zollhaus, Staatsgrenze West

Jo­chen Schim­mang:
Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West

Zum er­sten Mal er­zählt Jo­chen Schim­mang von Gre­gor Korff 2009 in »Das Be­ste, was wir hat­ten«. Er be­ginnt mit dem Sil­ve­ster­tag 1989 und Korff, da­mals 41, blickt weh­mütig und gleich­zei­tig ein we­nig stolz auf die vorher­sehbar zu En­de ge­hen­de Bon­ner Re­pu­blik zu­rück. Er, der ei­gent­lich so­zi­al­li­be­ra­le Geist, ist Mi­ni­ster­be­ra­ter in der Re­gie­rung Kohl, und steht der kom­men­den Ein­heit und dem da­mit grö­ßer wer­den­den Deutsch­land skep­tisch ge­gen­über. Die gro­ßen hi­sto­ri­schen Ver­än­de­run­gen der Bun­des­re­pu­blik kon­tra­stiert er mit sei­nem bis­he­ri­gen Le­ben und kon­sta­tiert ein we­nig über­ra­schend, wie klein­ste und zu­nächst un­schein­bar da­her­kom­men­de Be­ge­ben­hei­ten sein Le­ben im Nach­hin­ein ent­schei­dend ge­prägt ha­ben. Manch­mal äh­nelt Korff ein biss­chen Koep­pens Kee­ten­heuve (jetzt Wie­der­ver­ei­ni­gung und da­mals, bei Koep­pen, Wie­der­be­waff­nung). Aber Korffs Me­lan­cho­lie ver­wan­delt sich nicht in De­pres­si­on. Und so ent­wickelt sich der Ro­man nach den 60 Sei­ten ele­gisch-epi­scher Re­mi­nis­zenz im­mer mehr in Rich­tung Agen­ten­ge­schich­te, in der Korff in den näch­sten vier Jah­ren sei­nes Le­bens (we­nig über­zeu­gend) sei­ne Re-An­ar­chi­sie­rung ver­sucht, nach­dem er sei­ne Be­ra­ter­po­si­ti­on we­gen ei­ner Lieb­schaft zu ei­ner Sta­si-Agen­tin ver­liert.

2011 leg­te Schim­mang mit »Neue Mit­te« ei­nen dys­to­pi­schen Zu­kunfts­ro­man über das Jahr 2029 vor. Er er­zählt von ei­nem in Rui­nen lie­gen­den Deutsch­land, das ge­ra­de ei­ne Dik­ta­tur über­wun­den hat und sich neu ori­en­tiert. In ei­nem der Er­zähl­strän­ge sucht der Ich-Er­zäh­ler Ul­rich An­ders sei­nen ver­mut­li­chen Va­ter, ei­nen ge­wis­sen Gre­gor Korff, der um 2018 her­um in Pa­ris ge­stor­ben sein soll. Das Grab exi­stiert je­doch nicht mehr und al­le Spu­ren füh­ren ins Nichts.

Mit »Al­tes Zoll­haus, Staats­gren­ze West« geht es nun zu­rück in die Ge­gen­wart der Jah­re 2015/16. Korff er­freut sich be­ster Ge­sund­heit und lebt im fik­ti­ven Ort Gran­de­rath an der deutsch-nie­der­län­di­schen Gren­ze in ei­nem von ihm re­no­vier­ten ehe­ma­li­gen Zoll­haus. Fi­nan­zi­ell ist er un­ab­hän­gig, denn er lebt von den Ein­nah­men ei­nes Thril­lers über die Spio­na­ge­af­fä­re, die ihn sei­nen Job ge­ko­stet hat. Er hat­te die­ses in­zwi­schen na­tür­lich auch ver­film­te Buch zwar nicht ge­schrie­ben, aber der Au­tor, der in­zwi­schen ver­stor­ben ist, woll­te es nicht un­ter sei­nem Na­men ver­öf­fent­li­chen. So ist Korff streng ge­nom­men ein Fake-Au­tor, ob­wohl die Ge­schich­te nach sei­nen Er­zäh­lun­gen auf­ge­schrie­ben wur­de.

Der un­ver­hei­ra­te­te und be­ken­nend-kin­der­lo­se Korff (letz­te­res Dis­kre­panz zu »Neue Mit­te«!) ist sa­tu­riert und pflegt sein »Ta­lent zum Al­lein­sein«. Er ist ein we­nig kau­zig, was ihn im Dorf den Ti­tel »der al­te Spin­ner vom Zoll­haus« ein­bringt, der ihn amü­siert. Re­gel­mä­ßi­gen Kon­takt hat er zum orts­an­säs­si­gen, pen­sio­nier­ten Grenz­zoll­be­am­ten Mar­tin Tau­bert, ein quir­li­ger 90jähriger, der noch Fahr­rad­tou­ren un­ter­nimmt und manch­mal mit ei­ner ge­wis­sen Weh­mut an die Schmug­gel­ge­schich­ten an der prak­tisch nicht mehr exi­sten­ten deutsch-nie­der­län­di­schen Gren­ze zu­rück­denkt. Ein­mal heißt es, Tau­berts be­ste Ei­gen­schaft sei, dass er kei­ne Mei­nun­gen mehr ha­be und so wür­de sich Korff auch ger­ne se­hen. Als die Pres­se »ent­hüllt«, dass im nie­der­län­di­schen Nach­bar­dorf ein ehe­ma­li­ger BND/­Sta­si-Dop­pel­agent lebt, be­sucht Korff ihn spon­tan, freun­det sich an und wird so­gar zum li­te­ra­ri­schen Nach­lass­ver­wal­ter des Hob­by­schrei­bers und Ar­no-Schmidt-Lieb­ha­bers er­nannt. Manch­mal geht er ins Ki­no, »um sich zu trö­sten«. An­son­sten sind sei­ne Kon­tak­te in die Welt eher über­sicht­lich und geo­gra­phisch ver­streut, wie der eme­ri­tier­te Philo­sophieprofessor und Iro­nie-Spe­zia­list Ul­rich Goer­gen aus Frank­furt (auch er ist Schim­mang-Le­sern be­kannt) und Ma­nu­el Hertz, sein Ver­mö­gens­ver­wal­ter, ein in die Jah­re be­kom­me­ner Yup­pie.

Die­ses »klei­ne, er­eig­nis­ar­me Le­ben« wird von zwei au­ßer­ge­wöhn­li­chen Be­geg­nun­gen ge­stört. Zum ei­nen klin­gelt Stu­dent Han­no an der Tür, der Korff, den aus­ge­wie­se­nen Carl-Schmitt-Ken­ner, für ei­ne ent­spre­chen­de Ex­per­ti­se be­fra­gen möch­te. Er jagt ihn wü­tend aus dem Haus; Schmitt ist na­tür­lich im­mer noch nicht kor­rekt und nach »Fußnoten­orgasmen« steht ihm nicht der Sinn. We­nig spä­ter be­reut er sei­nen Aus­bruch und trifft ihn nach ei­nem Ki­no­be­such (»45 ye­ars«) mit sei­ner Freun­din Uma. Zum an­de­ren er­hält er ei­nes Ta­ges Be­such von zwei ser­bi­schen Kin­dern, die um Nacht­quar­tier bit­ten, was er ge­währt. Am näch­sten Mor­gen sind sie mit­samt 400 Eu­ro Schreib­tisch­re­ser­ve verschwun­den, hin­ter­las­sen je­doch ei­ne wun­der­ba­re Zeich­nung, die über­all als Kunst­werk an­ge­se­hen wird. Korff re­kon­stru­iert noch den Weg Rich­tung Nie­der­lan­de und er­freut sich an der Zeich­nung.

Schim­mang setzt sich mit dem Er­zäh­len des über wei­te Strecken be­hä­big daher­kommenden Gleich­muts sei­nes Hel­den Gre­gor Korff fast ab­sichts­voll dem Pro­vin­zi­a­lis­mus-Ver­dikt aus. Da­bei kann man leicht über­se­hen, dass der Rück­zug ins Länd­li­che we­der als re­bel­li­sches Aus­stei­ger­tum noch als ent­täusch­te Welt­flucht da­her­kommt. Und lan­ge Zeit scheint es so, als sol­le so­gar ei­ner An­ony­mi­tät des Dorf­le­bens das Wort ge­re­det wer­den; ei­ne Ge­gen­re­de zum Glo­ba­li­sie­rungs­sprech der Groß­stadt­ver­eh­rer. Man könn­te al­so ans Er­zäh­len ge­hen.

Aber der Ro­man schwankt. Da soll ei­ner­seits in kei­nem Fall der Ein­druck ei­ner spie­ßi­gen Rent­ner­idyl­le mit den »Früher-war-alles-besser«-Reden auf­kom­men. Den­noch klingt im­mer wie­der Korffs »in­ne­re West­bin­dung« an, die Sehn­sucht nach der ver­lo­re­nen, klei­nen Bon­ner Re­pu­blik, den »Gren­zen von 1988«, dem über­sicht­li­chen Le­ben. Korff schwelgt in Er­in­ne­run­gen wenn es um sei­ne Auf­ent­hal­te in Ost­ende oder Pa­ris geht; im Aus­land so­zu­sa­gen, als es noch Aus­land und mit­hin ein hal­bes Aben­teu­er war. Aber dann wie­der­um be­kommt man ein paar eher pein­li­che Ge­sin­nungs­sprü­che (vul­go: Mei­nun­gen) ser­viert, die den im­mer noch rich­ti­gen mo­ra­li­schen (lin­ken) Kom­pass be­le­gen. Zum Deu­ter von Korffs See­len­le­ben soll der Le­ser an­hand der zahl­reich ein­ge­streu­ten Traum­se­quen­zen wer­den. Da wer­den die Gren­zen zwi­schen Deutsch­land und den Nie­der­lan­den wie­der hoch­ge­zo­gen oder Korff trifft mit Pa­tri­cia Highsmith, Ju­li­en Gracq oder Goe­the zu­sam­men.

Im rich­ti­gen Le­ben be­sucht ihn Ul­rich Goer­gen in Gran­de­rath und die bei­den las­sen ih­re mehr als 40 Jah­re al­te Freund­schaft Re­vue pas­sie­ren. Korffs Sen­so­ren ver­sa­gen je­doch, denn er merkt nicht dass sein Freund tod­krank ist; es wird das letz­te Zu­sam­men­sein sein. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter er­hält er ei­nen be­rüh­ren­den Ab­schieds­brief aus der Schweiz (Goer­gen wähl­te den be­zahl­ten Frei­tod). Ein gro­ßer Ver­lust, der Korff ver­an­lasst, sich an­de­ren Men­schen ge­gen­über zu öff­nen. Ent­ge­gen sei­nen Ge­wohn­hei­ten gibt er so­gar ei­ne Ge­burts­tags­fei­er um im­pro­vi­siert ein Tisch­ten­nis­tur­nier. Dann er­hält er die Ein­la­dung des Va­ters der bei­den ser­bi­schen Kin­der, die wohl­be­hal­ten in Am­ster­dam an­ge­kom­men wa­ren. Der Tod des Freun­des und der Brief führt zu ei­nem er­neu­ten Wen­de­punkt in Korffs Le­ben. Am En­de des Ro­mans bricht er auf nach Am­ster­dam (zu­nächst nur vor­läu­fig).

Mit die­sem neu­en Auf­bruch wird das Buch zu ei­nem ge­ron­to­lo­gi­schen Entwicklungs­roman. Das klingt viel­ver­spre­chend, aber die Aus­füh­rung ge­lingt nicht. Schim­mang in­sze­niert dies al­les nur, statt zu er­zäh­len. Korff soll­te wohl nicht in ei­nem lar­moy­an­ten Neo­bie­der­mei­er der 2010er Jah­re ver­sin­ken, aber die Wen­dung wirkt ge­kün­stelt und lässt den Le­ser rat­los zu­rück. Den­noch sieht man ei­nem Au­tor, der einst ei­ne der­art stim­mungs­vol­le und me­lan­cho­li­sche Elo­ge auf die Bon­ner Re­pu­blik ge­schrie­ben hat­te, ei­ne solch holp­ri­ge Co­ming-of-age-Ge­schich­te ei­nes 67jährigen nach. Zu­mal die­ser ja nur noch zwei Jah­re le­ben wird, wenn man »Neue Mit­te« denn rich­tig ver­stan­den hat.